Na, liegt ihr auch jeden Tag auf der Couch und schaut Olympia? Dann geht es euch vermutlich wie einst unserem Autor, der auf diese Weise seine liebste Randsportart entdeckt hat. Und das trotz Höhenangst!
So richtig weiß ich auch nicht, wie das angefangen hat mit mir und dem Skispringen. Obwohl, eigentlich weiß ich es schon: Es ist ein Katerritual. In den späten Achtzigern war das Erste, was ich am Tag nach Silvester zu tun pflegte, mich die fünf Meter vom Bett bis zum Sofa zu schleppen (mehr war beim besten Willen nicht drin), den Fernseher anzuschalten und das Neujahrsspringen in Garmisch-Patenkirchen zu schauen. Dann sah ich Menschen wie Matti Nykänen, Jens Weißflog und Noriaki Kasai dabei zu, wie sie sich von einem kühn in die Landschaft gebauten Turm in eine steile Anlaufspur wuchteten, an deren Ende sie sich mit knapp 100 Stundenkilometern ins Nichts warfen.
So aberwitzig sich das anhört – und so aberwitzig es zweifellos ist –, handelte es sich beim Passivgenuss um eine äußerst meditative Tätigkeit. Die Bilder verschwammen, ein Lemming nach dem anderen stürzte sich in den Abgrund, während ich gemütlich meinen Kaffee schlürfte, die dritte Aspirin naschte und allmählich wieder zu Sinnen kam. Wenn das Skispringen dann vorbei war, wurde es bald darauf dunkel und man konnte guten Gewissens wieder ins Bett gehen – Neujahr war ja eher einer von den egaleren Tagen.
Als wäre Guido Buchwald nach wie vor in der Lage, Lionel Messi abzugrätschen
All das ist eine Weile her, doch meine Faszination fürs Skispringen ist seit damals noch deutlich größer geworden. Die heutigen Könner heißen Karl Geiger, Severin Freund und natürlich Ryoyu Kobayashi. Lange Zeit gehörte auch Noriaki Kasai dazu, was im Grunde völlig unglaublich ist. Und auch heute, im Alter von 49 Jahren, springt Kasai immer noch, jüngst erklärte er die Teilnahme an den Olympischen Spielen zum Ziel. Das ist in etwa so, als wäre Guido Buchwald nach wie vor in der Lage, Lionel Messi abzugrätschen.
Doch nicht nur Kasai ist mein Held, sondern jeder Einzelne, der sich diese Schanzen hinunterstürzt. Denn der wichtigste Grund, warum ich dem Sport verfallen bin, ist die Tatsache, dass er mein Antagonist ist, das böse Teufelchen, das auf meiner Schulter sitzt. Einer wie ich hat schon als Kind die Besteigung des Hermannsdenkmals verweigert, Höhenangst ist mein zweiter Vorname. Das, was diese Männer (und inzwischen auch Frauen) machen, ist deshalb für mich K‑O-M-P-L-E-T‑T unvorstellbar. Gleichzeitig bin ich unendlich neidisch auf jeden, der den Schneid aufbringt, sich derart zu überwinden.
Lilafarbenen Schokomützen und kreischenden Mädchen
Im Grunde gab es in den letzten dreißig Jahren nur eine Phase, in der das Skispringen und ich vorübergehend in eine Krise gerieten. Das war die Ära der Hannis und Martins mit ihren lilafarbenen Schokomützen, und der kreischenden Mädchen, die ihnen dabei zujubelten. Die seinerzeit allgegenwärtige Hysterie („Zieeeeeh!“) ließ sich mit meiner sehr privaten und – ja, ja – etwas verschrobenen Beziehung zu diesem Sport nicht vereinbaren.
Mittlerweile aber gehört das Skispringen zum Glück wieder uns Fans. Und falls Sie etwas über das Thema wissen wollen: Fragen Sie mich! Ich weiß, dass Jan Boklöv der Pionier des V‑Stils war, welche Punktrichter-Wertungen beim Endergebnis gestrichen werden und warum die Finnen den Anschluss verloren haben. Und manchmal, wenn ich mich unbeobachtet fühle, springe ich bei uns im Treppenhaus die letzten Stufen herunter und lande mit angewinkelten Knien und versetzten Beinen. Das nennt man Telemark. Ohne den hat man sowieso keine Chance.