Der sechstklassige FC Chorley wirft den Zweitligisten Derby County aus dem FA-Cup. Doch Matchwinner ist der Platzwart. In den Nebenrollen: ein kaputter Generator, Mistgabeln, Wasserkocher, ein angetrunkener Ingenieur sowie 20 Helfer.
Dieses Video geht rein. Richtig tief unter die Haut. Die Cuphelden des FC Chorley stehen auf den Bänken ihrer viel zu kleinen Kabine und grölen Adeles „Someone Like You“. So wie man nur nach großen Siegen zu grölen imstande ist. Mit letzter Kraft, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht und gefühlt sechs Quadratmetern Gänsehaut auf dem Rücken. Nur einer ist nicht im Bild: der Matchwinner. Dabei hätte die Partie ohne Ben Kay, Chorleys Platzwart, im frostigen englischen Winterwetter gar nicht angepfiffen werden können. Und das kleine Wunder wäre nie geschehen.
Dass der wackere Sechstligist aus Chorley das zweitklassige Derby County aus dem FA Cup geschmissen hat, ist die eine Geschichte. Dass der gefeierte Held sein Werk schon vor Spielbeginn vollbracht hatte und beim Schlusspfiff kaum noch Kraft zum Jubeln hatte, ist die andere, viel größere Story. Und so müssen wir mutmaßen, warum Ben Kay in dem Kabinenvideo nicht in Erscheinung tritt. Lag es an den strengen Hygiene-Richtlinien der englischen FA? Oder war er schlicht zu müde? „Der Samstag war ein großer Tag für den Verein“, berichtet Kay in der „Daily Mail“, „aber meine persönlichen Feierlichkeiten waren nicht gerade wild. Um acht Uhr abends schlief ich auf meinem Sofa.“
„Jede normale Begegnung wäre abgesagt worden“
Zuvor war der „Groundsman“ 40 Stunden lang (fast) ununterbrochen im Einsatz gewesen. Ben Kay wollte dieses Spiel, ein Highlight der weit über 100-jährigen Klubgeschichte des FC Chorley unbedingt retten. Und das schaffte er. Mit allerletzter Kraft. Vier Tage lang hatten Kay und seine ehrenamtlichen Helfer gerackert und geschuftet. Gezittert und gebibbert. Denn es war kalt gewesen in Chorley. Bitterkalt. Es windete und schneite. Und der kleine Klub hat keine Rasenheizung. Gegner Derby County, der aktuell gegen den Abstieg aus der zweiten Liga kämpft, ahnte bereits, dass dieses Match kein Vergnügen werden würde. Die „Rams“ (Widder) kündigten an, man werde coronabedingt eine C‑Mannschaft schicken. Auch Coach Wayne Rooney ließ sich entschuldigen.
In Chorley aber ließ man sich die Lust am Pokal nicht nehmen. Und kämpfte tapfer gegen den Wintereinbruch im heimischen Victory Park. „Wir hatten einen externen Dienstleister beauftragt, der am Dienstag ein Wärmezelt auf dem Platz errichtete“, erzählt Ben Kay. „Das Ding blieb dort quasi bis zum Anpfiff stehen. Erst zehn Minuten vor dem Anpfiff habe ich das Spielfeld markiert. Als die Jungs von Derby County sich aufwärmten, lag noch immer ein Fünftel der Zeltplane auf dem Spielfeld. Nicht zu glauben. Jede normale Begegnung wäre abgesagt worden.“ Aber nicht diese – trotz einer fast schon unheimlichen Verkettung von Pleiten, Pech und Pannen.
„Ein Problem war, dass die Ecken des Zelts nicht richtig fixiert waren und flatterten“, berichtet Kay. „Dadurch konnte der Frost hineinkriechen.“ Der Platzwart rückte den kalten Stellen immer wieder mit kleinen mobilen Heizgeräten zu Leibe – eine Sisyphusarbeit. Doch ausgerechnet am Abend vor dem Spiel streikte der klapprige Generator, der die Radiatoren am Laufen halten sollte. Um Punkt 22 Uhr ging nichts mehr. Ben Kay dachte: „Katastrophe.“ Doch dann schritt er zur Tat, trommelte schnell 20 Kumpels zusammen und nahm den schier aussichtslosen Kampf gegen die Kälte auf.
Mit Mistgabeln und Wasserkochern bewaffnet pendelten die Nothelfer die ganze Nacht zwischen Klubheim und dem riesigen Zelt, um die besonders frostgeplagten Stellen des Spielfelds zuerst anzustechen und dann – mit dem erhitzten Wasser – halbwegs warm und weich zu halten. Derweil kontaktierte Ben Kay den Zeltvermieter, um ein Reparaturteam für den Generator anzufordern. „Das Unternehmen rief daraufhin den zuständigen Ingenieur an“, erzählt er. „Der Typ war ausgerechnet in Derby, aber leider hatte er schon ein paar Drinks intus und konnte nicht mehr fahren. Es ist eine gute zweistündige Autofahrt von Derby nach Chorley, und er ließ sich schließlich von einem Freund bringen. Dann hat er den Generator innerhalb von zehn Minuten repariert und um 2 Uhr morgens war alles wieder einsatzbereit.“
Die Zeit bis zum Anstoß (12.15 Uhr mittags) aber war knapp geworden, einige Stellen des Spielfeldes waren bereits tief gefroren und knüppelhart. In Nähe der Eckfahnen breiteten Kay und seine Kumpels Wolldecken aus und legten sich darauf, um den Rasen mithilfe ihrer eigenen Körperwärme aufzutauen. Während all der Zeit stand der Groundsman in ständigem Telefonkontakt mit Chorleys Chefcoach Jamie Vermiglio. Um 2 Uhr morgens meldete Kay „eine 50:50-Chance“, dass gespielt werden könne. „Glücklicherweise erreichte die Temperatur über Nacht nur minus zwei Grad“, erzählt er, „aber es war nicht gerade warm, lassen Sie mich das sagen.“
Als Chefcoach Vermiglio sich um 6 Uhr morgens erneut meldete, konnte Kay nicht mal mehr antworten. Stattdessen nahm einer der Helfer den Videocall an und schwenkte mit der Kamera auf den Groundsman, der völlig entkräftet auf einer Decke im Mittelkreis lag und den Anstoßpunkt wärmte. Der Lohn für diesen selbstlosen Einsatz kam zeitverzögert: Nach dem erfolgreichen Spiel und ersten Berichten über Kays unglaubliche Nachtschicht versuchte alle Welt, den wohl bekanntesten Groundsman Englands zu erreichen. „Es war ein bisschen surreal“, winkt der Held im Zelt galant ab. „Ich mache nur meinen Job. Es ist unglaublich, so viel Lob dafür zu bekommen – viele Leute in den unteren Ligen bekommen nie wirklich die Anerkennung, die sie verdienen.“
„Wenn wir das Spiel nicht gewonnen hätten, wäre nichts davon von Bedeutung gewesen“
Ben Kay hat bis heute noch nicht alle Nachrichten lesen, geschweige denn beantworten können: „Mein Akku war leer und ich hatte das Telefon während des Spiels in meinem Büro gelassen. Ich habe es dann um 18 Uhr gecheckt und fand plötzlich 150 WhatsApp-Nachrichten, 150 Facebook-Benachrichtigungen sowie 600 Einträge auf Twitter!“ Hinzu kamen Medienanfragen aus aller Herren Länder, sogar aus den USA. „Aber“, so der bescheidene Kay, „wenn wir das Spiel nicht gewonnen hätten, wäre nichts davon von Bedeutung gewesen. Die Jungs waren fantastisch.“
Wobei der Platzwart im diesjährigen FA-Cup-Wettbewerb noch viel, viel weiter kommen könnte als die Kicker des FC Chorley: Am Sonntag nämlich meldete sich kein Geringerer als Wembley-Platzwart Karl Standley via Twitter, gratulierte seinem Kollegen und lud ihn zu einer gemeinsamen Arbeitschicht ein – am Tag des großen Pokalfinales (15. Mai). Ben Kays Reaktion? „Ich will ehrlich sein: Ich habe eine Freudenträne verdrückt.“