Wer es nach der aktiven Karriere als Trainer versucht, läuft Gefahr, den eigenen Mythos zu untergraben. Aktuellstes Beispiel: United-Coach Ole Gunnar Solskjaer
Zwei Szenen aus dem Leben des Ole Gunnar Solskjaer:
26. Mai 1999, Champions-League-Finale in Barcelona, Manchester United gegen Bayern München. Gerade erst hat Teddy Sheringham in der Nachspielzeit das 1:1 geschossen, jetzt segelt schon die nächste Ecke von David Beckham in den Münchner Strafraum. Am langen Pfosten steht Solskjaer und wartet. Darauf, sein wettbewerbsübergreifend 18. Saisontor zu erzielen. Darauf, seinem Ruf als bester Einwechselspieler der Welt gerecht zu werden. Darauf, Geschichte zu schreiben. Ein schneller Reflex mit dem rechten Unterschenkel und der Job ist erledigt. Auf den Knien rutscht der Sohn eines norwegischen Catchers der Glückseligkeit entgegen, feiert den unglaublichsten Finalsieg der Fußballgeschichte, die Krönung seines Klubs und die Grundsteinlegung seines eigenen Denkmals.
Derby-Niederlage als Tiefpunkt
7. Januar 2020, mehr als zwei Jahrzehnte später. 38. Minute im englischen Ligapokal-Halbfinal-Hinspiel. United gegen City, Manchester gegen Manchester. City-Angreifer Riyad Mahrez rennt bei einem Konter Gegenspieler Victor Lindelöf über den Haufen, bringt den Ball zu Kevin de Bruyne, der macht den nächsten United-Verteidiger frisch, passt in die Mitte und provoziert ein Eigentor von Andreas Pereira. 0:3 nach nicht mal 40 Minuten im Derby. Eine Blamage und negativer Höhepunkt dessen, was die von Ole Gunnar Solskjaer trainierte Mannschaft in den vergangenen Monaten dargeboten hat.
Wie an jenem glorreichen 26. Mai 1999 zeigen die TV-Kameras Solskjaer in Nahaufnahme. Diesmal rutscht er nicht auf den Knien, diesmal schreibt er keine Geschichte. Diesmal sieht man ihn unbeholfen zum vierten Offiziellen marschieren und sich mutlos über das angebliche Foul an Lindelöf beschweren. Der ganze Mann eine einzige große Unentschlossenheit. Vielleicht ist das der Moment, in dem Solskjaer endgültig erkennt, dass es doch keine so gute Idee war, für diesen Verein auch als Trainer zu arbeiten.
Sehen so Sieger aus?
Als Spieler war Solskjaer ein Sieger. Einer dieser Angreifer, der das Tore schießen einfach im Blut hat. Kein Muskelberg, kein 100-Meter-Sprinter, kein technisches Wunderwerk, einfach ein Fußballer, der ganz genau wusste, wo die Kiste steht. Und bald schon Inhaber eines der schönsten Spitznamen, die je im Weltfußball vergeben wurden: „The baby-faced assassin“, der Killer mit dem Babyface. Ein Geschenk für seine Trainer, ganz besonders für Alex Ferguson, der den bis dato unbekannten Skandinavier 1996 nach Manchester geholt hatte und es sich erlauben konnte, diesen begabten Torjäger oft nur als Joker einzusetzen. Wer solche Spieler auf der Bank lassen kann, gewinnt Titel. Mit United hat Solskjaer in elf Jahren Klubzugehörigkeit 13 Titel gewonnen, darunter sechsmal die Meisterschaft. Einmal, gegen Newcastle United war das, wurde der Stürmer zwölf Minuten vor dem Abpfiff eingewechselt und erzielte noch vier Tore. Falls sich noch jemand fragt, woher sein zweiter Kosename kommt: „Super-Sub“ – der Super-Joker.
2007 dann musste Solskjaer seine aktive Karriere beenden. Angeblich aufgrund von anhaltenden Kniebeschwerden, deren Ursprung in einer Verletzung liegen, die er sich bei jenem ikonischen Jubel in der Nachspielzeit von Barcelona zugezogen hatte. Weil Ferguson längst wusste, mit was für einem intelligenten Mann er es zu tun hatte, sorgte er dafür, dass sein Super-Ersatzmann von einst seine ersten Gehversuche an der Seitenlinie im gewohnten United-Umfeld machen durfte. Zunächst als Stürmertrainer, dann zweieinhalb Jahre als Chefcoach der U23. Über weitere Ausbildungsplätze bei Molde FK und Cardiff City kehrte Solksjaer im Dezember 2018 zurück an seine alte Wirkungsstätte, klatschte als Interimstrainer für den geschassten José Mourinho ab und sicherte sich mit 14 Siegen in 19 Spielen einen Festvertrag. An diesem 28. März 2019 sah der Killer mit dem Babyface noch immer wie ein Sieger aus.
Das ist jetzt nicht mal ein Jahr her. Seitdem ist der einst reichste und beste Klub dabei, zu einem Mittelklasse-Team der Premier League zu verkommen. In der Liga steht United derzeit auf Platz 5, 13 Punkte hinter dem Drittplatzierten Manchester City, sechs Punkte vor dem Tabellen-13. aus Newcastle. Im Europapokal haben die Red Devils zwar die Zwischenrunde erreicht, allerdings in der Europa League. Vor allem, und das ist es, was dem roten Anhang die wirklichen Sorgen bereitet, spielt Manchester United einen Fußball, der all die Qualitäten der goldenen Ferguson-Jahre – Mut, Power, Leidenschaft – schmerzlich vermissen lässt. Früher zählten sie im Old Trafford die Charaktergrätschen von Roy Keane oder die Traumpässe von Paul Scholes, heute warten sie sehnsüchtig darauf, dass Jesse Lingard mal wieder ein Tor vorbereitet oder Paul Pogba noch bereit ist, der Welt zu beweisen, warum er vor wenigen Jahren als einer der besten Aufbauspieler des Planeten gehandelt wurde.
Der ganze Mann ein Versprechen
Als Stürmer brauchte sich Ole Gunnar Solskjaer nur von der Ersatzbank zu erheben, um dem Gegner Angst und den eigenen Fans Mut zu machen. Der ganze Mann ein Versprechen.
Als Trainer ist er von dieser Aura weiter entfernt als Anthony Martial von der Auszeichnung als Weltfußballer. In diesem vor sich hin schlingernden Verein wirkt Solskjaer wie ein Kapitän, der längst weiß, dass die Steuerflosse gebrochen ist. Und läuft damit Gefahr, sein im Mai 1999 auf Knien zementiertes Denkmal nach und nach selbst zu zersetzen. Nie wurde das deutlicher als in jener ersten Halbzeit am 7. Januar 2020. Der ganze Mann ein Versprechen, von dem man eh weiß, dass es nicht eingelöst wird.
Womöglich ist der einst beste Einwechselspieler gut damit beraten, sich bald selbst auszuwechseln. Dem eigenen Mythos zuliebe.