Aufgebläht, unterirdisch, fad: Diese EM hat einstecken müssen. Dabei war auch vieles dabei, an das wir uns in zwanzig Jahren gerne erinnern werden. Wenn heute die gute, alte Zeit ist.
Xherdan Shaqiri, oder: Das horizontale Quadrat
Es gibt sie, diese Momente, in denen ein Spieler zu mehr wird als nur zu einen Namen im Spielberichtsbogen. Momente, in denen er seinen Namen in das kollektive Gedächtnis des Fußballs stellt.
Marco van Bastens Null-Winkel-Tor bei der Europameisterschaft 1988. Oliver Bierhoffs Golden-Goal 1996. Und nun, seit diesem Turnier: Xherdan Shaqiris Fallrückzieher gegen Polen. Aus einer Distanz, aus der andere Fußballer zuweilen froh sind, überhaupt das Tor zu treffen. Und irgendwann, in zehn Jahren, in denen heute dann die gute alte Zeit war, werden wir uns ansehen und zuraunen: Weißt Du noch, damals, 2016? Das Tor von Shaqiri gegen Polen? Oh ja, werden wir antworten, und ob!
Gemecker und anderes Gemüse
Meckern, Freunde, meckern ist wichtig! Gerade auch beim Fußball. Denn was anderes ist er, wenn nicht das archaische „Wir gegen die“, das alte „Unterhupfingen gegen Oberhupfingen“. Nur eben mit anderen Mitteln.
Vom Alltag geplagt und mit Körpern gesegnet, die sich höchstens noch für eine Sitzblockade eignen, überlassen wir es diesen durchtrainierten Hochglanz-Millionären da unten auf dem Rasen, unsere Stadt oder gleich unser ganzes Land zu verteidigen. Brüllen alles hinaus, womit wir im Alltag an uns halten. Und wenn selbst das nicht reicht, wird eben gemeckert. Über langweilige Spiele, falsche Aufstellungen und unfähige Trainer. Das mit der Freude versuchen wir dann beim nächsten Mal.
Warum die Kritik an der EM nervt: Hier geht’s zum Artikel »>
Psychopharmaka in Stollenschuhen
Terrorgefahr, Gewerkschaftsstreiks, Benzema-Affäre: Noch vor dem ersten Anpfiff drohte die EM für die Grande Nation zum Desaster zu werden. Vier Wochen später steht der Gastgeber kurz vor dem größten Triumph seit der Heim-WM 1998; die Menschen, traumatisiert von Bomben und Kalaschnikows, bejubeln die Tore von Griezmann und Payet. Der krönende Abschluss, er steht noch bevor: am Sonntag in Paris.
Gigis Tränen
Das Glück entglitt, unter seinen Armen hindurch. Der Ball von Jonas Hector zappelte im Netz, Italien war ausgeschieden, auf brutalst mögliche Art und Weise. Und so stand Gianluigi Buffon, 38 Jahre, Weltmeister, nach dem letzten Elfmeter in der Mixed Zone, ein Mikro vor dem Mund, die Enttäuschung im Gesicht. Jetzt sollte er Stellung nehmen. Buffon sprach, stockte, weinte. Die Tränen eines großen Verlierers.
Boatong
Ja, Jérôme Boateng ist unser aller Lieblingsnachbar. Vor allem aber war er bei diesem Turnier der mit Abstand beste deutsche (Feld-)Spieler. Diagonalbälle, wie von einem Laserstrahl gesteuert. Tacklings aus Beton.
Und rund um den Strafraum mit einer Ausstrahlung gesegnet, die dem Berufsethos der Türsteher-Gilde die Ehre geben würde: Sorry, mein Freund, Du kommst hier nicht rein; heute ist geschlossene Gesellschaft. Nur gut, dass Boateng gegen Italien zum Handspiel gegriffen hat. Sonst hätten wir noch ernsthafte Zweifel an seiner Menschlichkeit anmelden müssen.
Jérôme Boateng verzaubert das Netz: Hier geht’s zum Artikel »>
Win when you’re singing
Apropos Freude. Freude bereiteten uns nicht nicht nur die, Achtung Kitschfloskel, beherzten Auftritte der Albaner, Waliser und Isländer, sondern vor allem auch die Fans aus (Nord-)Irland.
Würde die EM nicht auf dem Rasen, sondern auf den Rängen ausgetragen, wäre das Halbfinale eine reine Inselveranstaltung geworden. Wie, das ist doch totaler Quatsch und geht an der Realität vorbei?! Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen. Darauf ein kräftiges Schland.
Best of EM-Fangesänge: Hier geht’s zum Artikel »>
Lila Freude
Welch magische Nacht von Lyon: Andi Lila, der Kapitän Albaniens, erklimmt den Pulk aus jubelnden Mitspielern, reckt die Fäuste, schreit voller Inbrunst seine Freude gen Himmel. Stürmer Armando Sadiku hatte Sekunden zuvor das erste EM-Tor für den Balkanstaat erzielt, den 1:0‑Siegtreffer gegen Rumänien. Albanien scheidet aus, doch die Geburtsstunde einer stolzen Fußballnation, sie überlebt dieses Turnier.
Albaniens historischer Sieg bei der EM: Hier geht’s zum Artikel »>
Ausrastersson
Sein Name: Gudmundur Benediktsson. Sein Haupt-Beruf: Assistenz-Trainer beim isländischen Erstligisten KR Reykjavik. Sein Neben-Beruf: TV-Kommentator für das isländische Fernsehen.
Einen Job, den er mit ansteckender Verve ausübt, wie sich insbesondere beim Spiel der Isländer gegen Österreich feststellen ließ. Denn als der erlösende Siegtreffer fiel, brüllte es aus Benediktsson heraus, dass man schon befürchten musste, der gefürchtete Vulkan Eyjafjallajökull würde wieder ausbrechen – vor Schreck.
Wie Islands Kommentator das 2:1 gegen England erlebte: Hier geht’s zum Video »>
Es stinkt zum Himmel
Auch diese Bilder brachte die EM: Russen und Engländer, die sich in Marseille ihre letzten Gehirnzellen aus den Schädeln prügelten und ein Sportminister, der dem Mob während eines Blocksturms munter zuwinkt. Doch während im Rest Europas über White-Trash-Gewalt geredet wurde, hatte Jogi Löw eine Idee: Schluss damit! Und bewies den richtigen Riecher, als er seine rechte Hand… ach komm, geschenkt.
Der Hahn fliegt
Sieglos schleppte er sich durch die Vorrunde, mogelte sich ins Halbfinale. Bis er endlich kam, der Ronaldo-Moment, in Minute 50 gegen Wales: Flanke Guerreiro, Ronaldo läuft ein, schüttelt Gegenspieler Chester ab, steht in der Luft, wuchtet den Ball per Kopf ins Tor. Das Statement eines Ungeliebten. Der nun, zwölf Jahre nach der Niederlage gegen Griechenland, späte Genugtuung erfahren kann. Es sei ihm gegönnt, dem stolzen Hahn.