Nachdem sich sein Kopfball unhaltbar über Englands Torhüter Peter Shilton ins Netz gesenkt hat, versinkt der kleine, untersetzte Mann im grünen Jubel. Die Fernsehkameras haben ihn längst aus den Augen verloren. Die Stadionuhr im Stuttgarter Neckarstadion zeigt sechs Minuten nach halb vier an diesem 12. Juni 1988. Auf der Anzeigetafel steht es in grellorange: Irland 1, England 0. Nach 90 Minuten hat sich daran nichts geändert. Die Iren, im internationalen Fußball bis dahin so groß wie das volkseigene Leprechaun, ein goldsüchtiger Koboldmessi von Kleinkindstatur, haben den großen Nachbarn niedergerungen. Eine ganze Nation befindet sich in den zum Bersten gefüllten Pubs zwischen Dublin und Cork im Freudentaumel. Und Stuttgart ist nie wieder so grün wie an diesem Tag.
Der untersetzte, kleine Ire mit der Nummer 8 ist plötzlich der Held einer ganzen Nation. Ray Houghton hat das wahrscheinlich wichtigste Tor in der Geschichte des irischen Fußballs geschossen, dabei ist er nicht mal ein richtiger Ire. Geboren wurde er in Glasgow. Um aber unter dem großen Jack Charlton für Irland spielen zu können, erinnerte sich Houghton seiner irischen Wurzeln und trug fortan die Farben der Heimat seines Großvaters. Rasch wurde er zu einem wichtigen Baustein in Charltons System.
Charlton grub nach jeder noch so dünnen irischen Wurzel
Jack, der ältere Bruder der Manchester-Legende Bobby Charlton, hatte 1986 das Traineramt der irischen Nationalelf übernommen und das Team Schritt für Schritt an die europäische Elite herangeführt. Bis dahin hatten sich die Iren noch nie für ein großes Turnier qualifizieren können, doch unter Charlton sollte sich das ändern. Der Weltmeister von 1966 formte eine geschlossene, kampfstarke Mannschaft, die von ihrem unerschütterlichen Teamgeist lebte. Das Herzstück dieser Auswahl bildeten erfahrene Englandlegionäre wie Ray Houghton oder John Aldridge. Der war wie Houghton ebenfalls kein gebürtiger Ire, doch Charlton grub nach jeder noch so dünnen irischen Wurzel, um seine Elf zu verstärken. Oft befand er sich dabei in der Grauzone des Einbürgerungsrechts, aber die Mühe sollte sich lohnen: Irland qualifizierte sich für die EM 1988 in Deutschland. Dort bekamen die Iren gleich zum Auftakt ihr Jahrhundertspiel zugelost: gegen England, den Erzfeind von der Insel gegenüber. Für Jack Charlton, der weite Teile seiner Karriere im toten Winkel seines kleinen Bruders verbracht und England im Zorn verlassen hatte, bot sich die Gelegenheit zu einer bösen Revanche. Und seine Spieler brannten, ihre Körpersprache verriet den unbedingten Willen zum Sieg. Nach Hougtons 1 : 0 war es, als explodierte eine grün-weiße Konfettibombe.
Es fügte sich in die irische Schönheit dieses Nachmittags, dass ausgerechnet Ray Houghton seinem Trainer den großen Sieg und die persönliche Genugtuung schenkte. Houghton war Charltons Lieblingsschüler. Der Engländer schätzte seinen Mittelfeldmotor für dessen Zuverlässigkeit, das Durchsetzungsvermögen und die Pferdelunge. Das Kopfballtor in Stuttgart wurde für Houghton zum Sinnbild seiner Karriere. In Irland kennen ihn die Kinder nur als den Mann, der den Ball ins englische Tor geköpft hat. Dabei war Ray Houghton Ende der 80er das Metronom einer der besten Mannschaften in der Geschichte des FC Liverpool. Je zweimal holte er mit den Reds die Meisterschaft und den FA-Cup an die Anfield Road. Auch deshalb erzählt er von seinem Tor gegen England heute so nüchtern, als würde er eine Zeitlupe bei „Silent Cooking“ kommentieren: „Also, der Ball kommt von links rein. Sansom klärt unsauber, Aldridge köpft zu mir, und ich mach’ ihn rein.“
Und Pagliuca guckte blöd
Rhetorisch so ergiebig wie ein Testbild, war Houghton auf dem Platz Irlands Mann für die ganz besonderen Augenblicke. Auf der Grünen Insel nennen sie ihn deshalb noch heute ehrfürchtig the big game’s man, und es erscheint in der Tat so, als hätte sich Ray Houghton seine Treffer im irischen Dress für jene Momente aufgespart, die es in die Geschichtsbücher schaffen. In über 70 Länderspielen hat Houghton nur sechs Tore erzielt, für einen offensiven Mittelfeldspieler mit seinen Anlagen eine eher magere Ausbeute. Doch zwei Treffer haben gereicht, um zum irischen Nationalhelden zu werden: der gegen England und sein letzter bei der WM 1994.
Im Giants Stadium von New Jersey hat Houghton seinen finalen internationalen Auftritt. Im Vorrundenspiel der Gruppe E treffen die Iren auf Italien, einen der großen Turnierfavoriten. Im Einwandererland USA wird es ein grünes Heimspiel im Zeichen des Kleeblatts. 60 000 Landsleute peitschen die boys in green nach vorne. Wieder gewinnt Irland gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner mit 1: 0, wieder schießt Ray Houghton das entscheidende Tor. Er hätte es wahrscheinlich so beschrieben: „Ein langer Ball aus dem Mittelfeld, Baresi klärt unsauber, der Ball kommt genau zu mir, und ich hau’ ihn rein.“
Doch wie schon der Kopfballheber über Shilton mehr als nur reiner Zufall gewesen war, war auch der Treffer gegen Italien ein Produkt der immer wieder aufflackernden Genialität Houghtons: Er sieht aus dem Augenwinkel, dass Italiens Keeper Gianluca Pagliuca zu weit vor seinem Tor steht, zögert keine Sekunde und zieht sofort ab. Der Ball schlägt über dem Kopf des verdutzten Keepers ein, bevor der überhaupt nur ahnt, wie ihm geschieht. Sekunden später wird der kleine, untersetzte Mann mit der Nummer 8 von einer grün-weißen Jubeltraube geschluckt.