Ausgerechnet der Torhüter war der Schwachpunkt beim souveränen Testspielsieg gegen Italien. Den unsicheren Marc-André ter Stegen könnte das Spiel die EM kosten.
Das 4:1 der deutschen Elf gegen Italien hatte viele individuelle Gewinner. Nicht nur Mario Götze, der sich nach entbehrungsreichen Wochen so enthusiastisch über sein Kopfballtor zum 2:0 freute, als hätte er sein D‑Jugendteam in der letzten Minute der Verlängerung zum Kreispokalsieg geschossen. Sondern auch Mesut Özil, der im, sagen wir mal, Spätsommer seiner Karriere plötzlich entdeckt, dass er auch einen passablen Sechser abgibt. Oder Antonio Rüdiger, der ein Kopfballduell schadlos überstand, nach dem sich andere für zwei Wochen ins Krankenhaus gelegt hätten. Oder, oder, oder.
Anders gefragt: Kann es nach einem 4:1 gegen Italien auf der Gewinnerseite überhaupt einen Verlierer geben? Doch, es kann. Rein statistisch war dem Torhüter Marc-André Ter Stegen an diesem Abend wenig vorzuwerfen. Zwar hatte er nicht durch Paraden glänzen können – wenn die Italiener mal vors deutsche Tor kamen, schossen sie höflich vorbei – und trug am einzigen Gegentor, einem abgefälschten Fernschuss, keine Schuld. Der Gesamteindruck war dennoch ein anderer: Ter Stegen war der Unsicherheitsfaktor im deutschen Spiel.
Das größte deutsche Torwarttalent seiner Generation
In der halben Hundertschaft potentieller Nummer Zweien, die sich der DFB gönnt, ist Marc-André ter Stegen normalerweise so etwas wie der Kronprinz des vermutlich auf Jahre hinaus unangreifbaren Manuel Neuer. Er spielt für den FC Barcelona (wenigstens manchmal), gilt als das größte deutsche Torwarttalent seiner Generation und kommt, so heißt es, wegen seiner Spielweise Neuer von allen Ersatzkandidaten am nächsten. Kein Bericht, der ohne den Hinweis auskäme, wie toll der Mann Fußballspielen kann. Und eben dies – Stichwort elfter Feldspieler – ist in der Nationalmannschaft per Dekret beinahe noch wichtiger als einen Ball amtlich über die Latte lenken zu können.
Also war es folgerichtig, dass Ter Stegen ins Tor durfte, als Neuer vor dem Italien-Spiel Montezumas Rache ereilte. Schließlich war es das letzte Testspiel vor der eigentlichen Turniervorbereitung. Doch was der Keeper bot, war sicher nicht das, was Jogi Löw und sein Gutachterstab sich vorgestellt hatten. Denn statt einer halbwegs glaubwürdigen Kopie des Stammtorwarts bekamen sie bestenfalls eine Vorstellung aus der Schublade „Neuer für Arme“.
Eine Art Anti-Neuer
In der geradezu wahnhaften Sorge, bloß keinen Ball ungeordnet nach vorne zu schlagen, ging Ter Stegen wie ein irrlichternder Gefahrensucher nach fast jedem Rückpass gegen die heranstürmenden italienischen Angreifer ins Dribbling, was bald dazu führte, dass ebenjene Rückpässe vom Publikum mit einem vernehmlichen Raunen begleitet wurden. Im Ergebnis beschwor diese eigentümliche Interpretation des mitspielenden Torhüters nicht nur einige prekäre Situationen herauf, sondern sorgte außerdem für eine Art Anti-Neuer-Effekt: Wo jener das Spiel schnell macht, machte Ter Stegen es langsam.
Mal angenommen, man versetzte sich in den Kopf des Bundestrainers (nicht einfach, fürwahr) und wollte seine drei EM-Keeper nominieren. Würde man sich nicht für den seit Monaten in guter Form haltenden Champions-League-Keeper aus Paris entscheiden statt für den Teilzeitjobber aus Barcelona? Und als Nummer drei für den bewährten, braven, grundsoliden Mann aus Hannover? Es könnte also sein, dass das schöne 4:1 gegen Italien für Marc-André ter Stegen noch unschöne Folgen hat.