Kaum sind Engländer und Russen weg, ist Marseille wieder zurück im normalen Alltag. Aber was heißt normal in dieser Stadt?
Am Hafen treffe ich Jessica, 24, Skatermädchen aus Nizza. Sie auf ein Bier auf die Hand einzuladen ist gar nicht so einfach: als Reaktion auf die Ausschreitungen hat die Politik reagiert, wie nur Politiker reagieren können – und ein Verkaufsverbot für Alkohol in den Supermärkten und Kiosken rund um den Alten Hafen erlassen. Das wiederum gilt nicht für die Restaurants und Bars, weshalb die cleveren Besitzer flugs die Preise angehoben haben und man jetzt im Schnitt 30 Prozent mehr für sein Pils oder Pastis zahlen muss. Welche krude Logik.
Darauf angesprochen sagt ein Polizeisprecher: Nein, so sei das nun nicht. Alkohol sei sehr wohl erlaubt, nur dürfe man den ab sofort nur noch in Plastikbechern mit sich herum tragen. Eine Folge der Glasscherbenberge, die sich noch vor Tagen hier türmten und für viele Schnittwunden sorgten. Allerdings ist das, was die Polizisten sagen, Quatsch. Der heldenhafte Selbstversuch des Autors wird erst im vierten Supermarkt belohnt, und dort auch nur, weil das Skatermädchen den Besitzer charmant um den Finger wickelt und ein paar Büchsen Bier locker macht. Der Mann selbst ist empört über die neue Maßnahme. Frankreichs Politik, in Tagen von Arbeitsreformen, Demonstrationsverbot und Streik, hat sich mal wieder selbst übertroffen.
„Mal schauen, was heute Nacht passiert“
Währenddessen ziehen Gruppen von Albanern durch die Stadt, viele von ihnen in traditioneller Kleidung. Auffallend viele Familien sind unterwegs, entsprechend friedlich und sympathisch ist die Stimmung. Die Polizisten wollen dem Braten allerdings noch nicht so trauen. „Mal schauen, was heute Nacht passiert“, sagt ihr Sprecher. Mal schauen. Aber von Überfällen professioneller Schläger ist Marseille an diesem Mittwoch-Mittag weit entfernt. Hier herrscht wieder der ganz normale Wahnsinn.
Zeitgleich kommen immer mehr Details über die Ursachen der Ausschreitungen ans Tageslicht. Der harte Kern der russischen Hools ist wohl doch nicht so dämlich wie angenommen und hat sich vorrangig Flüge und Unterkünfte im knapp zweieinhalb Stunden entfernten Nizza genommen, um die Behörden auszutricksen. Nizza ist voll mit russischen Geldsäcken, der ein oder andere Landsmann mehr fällt da nicht auf. Ausgerechnet vom schicken Nizza aus starteten die Schläger ihre Tour.
Ein paar Schellen, und das Problem wäre gelöst gewesen
Man wünscht sich, dass die geschmeidigen Thaiboxer, die noch immer ihre Show durchziehen, da gewesen wären, als die Hooligans am Rad drehten. Ein paar elegante Schellen, und das Problem wäre vielleicht gelöst gewesen. So aber muss Marseille mit den Folgen der Ausschreitungen leben. Das Schöne ist: während der Rest von Europa noch immer entsetzt ist, über das, was da vor einigen Tagen passierte, ist Marseille selbst längst zurück im Alltag. Und der ist, wie gesagt, ohnehin schon durchgeknallt genug.