Kaum sind Engländer und Russen weg, ist Marseille wieder zurück im normalen Alltag. Aber was heißt normal in dieser Stadt?
Der Alte Hafen von Marseille. In einem großen Rechteck ist das Wasser eingelassen zwischen Wohnhäusern, Hotels und Restaurants. Große und kleine Yachten schaukeln hier träge im Nass und bilden eine imposante Kulisse, im touristischen Zentrum der Stadt steppt dagegen der Bär. Oder, um den Ist-Zustand zu beschreiben: betrinken und besingen sich Albaner und Franzosen, flanieren Besucher, eilen Einheimische von A nach B und während der Autor diesen Text schreibt, geben drei Meter Luftlinie von ihm entfernt Thai-Boxer eine Kostprobe ihrer Kunst.
Wie skurril: exakt dort, wo sich vor einigen Tagen Engländer und Russen mit Stühlen, Flaschen und Feuerwerkskörper bewarfen, wo Fußballfans von stiernackigen Vollzeitarschgeigen ins Koma geprügelt wurden, boxen nun zwei austrainierte Franzosen zur Belustigung der Besucher. Marseille, vor kurzem noch Zentrum hässlicher Gewalt, ist zurück im Alltag.
Aber was heißt schon Alltag in dieser Stadt?
Marseille ist aufregend, faszinieren und anstrengend zugleich. Der raue down-to-earth-Charme der Stadt wirkt auf die Menschen wie Klebestreifen auf Fliegen. Eine verlockende Mischung aus süß und klebrig, gefährlich und doch unwiderstehlich. Oder um es kurz zu machen: wer Berlin mag, der sollte mal nach Marseille kommen.
Die Krawalle zwischen Russen und Engländern mögen in der internationalen Wahrnehmung wie ein Schatten über Marseille liegen, die Stadt selbst hat die Aufregung recht gelassen ertragen. Hier, im Süden Frankreichs, manche sagen: dem nördlichsten Punkt Afrikas, hat man natürlich auch angewidert auf die brutalen Schlägereien reagiert – aber man macht sich auch nicht ins Hemd. Die Stadt kennt sich aus mit Emotionen jedweder Art, hier wird halt intensiver gelebt, getrunken, geliebt, gehasst als in anderen Orten Frankreichs – und Europa.