Heute wird Vicente del Bosque 70 Jahre alt. Er hat mehr erreicht als jeder Trainer vor ihm – und war trotzdem lange unterschätzt.
Viel typischer für del Bosque als diese Entgleisung war aber das, was in den nächsten Sekunden passierte. Während die Hamburger gestikulierten, die Spanier zur Rudelbildung eilten und der Schiedsrichter auf ihn zuschritt, blieb del Bosque nahezu regungslos am Tatort stehen. Er sagte kein Wort, als der Unparteiische ihm die Rote Karte zeigte, sondern machte sich sogleich auf den Weg in die Kabine. Nach sechs Schritten kam er an Keegan vorbei und streckte noch immer wortlos die rechte Hand aus. Der Engländer schüttelte sie und tätschelte del Bosque aufmunternd den Kopf.
Selbst im Moment einer schmerzhaften Niederlage, zumal einer persönlichen, Größe zu zeigen, das zeichnete del Bosque später auch als Trainer aus. Doch wie so viele seiner anderen Qualitäten – sein ausgleichendes Wesen oder seine Bodenständigkeit – wurde ihm das oft zum Nachteil ausgelegt. Anders gesagt, man unterschätzte del Bosque gerne. Noch im Februar 2000 schrieb der „Stern“ über ihn: „Auch mit Krawatte und königsblauem Sakko sieht er hemdsärmelig aus.“ Das war nicht böse gemeint, nährte aber das Image vom etwas altmodischen Großvatertyp, der einen Kader voller Superstars eher moderierte als trainierte.
Wie falsch dieses Image war, zeigte sich am 24. Juni 2003. Es war der Tag, an dem Florentino Pérez sich entschloss, den Vetrag von del Bosque nicht zu verlängern. Der Trainer hatte zwar in nur vier Jahren zweimal die Champions League, den Weltpokal und zwei Meisterschaften gewonnen, aber er war dem extravaganten Präsidenten einfach nicht glamourös genug. Noch kurz bevor man ihm trotz aller Titel einen neuen Vertrag verweigerte, sagte del Bosque einem Reporter: „Dies ist ein Geschäft, und ich bin nur ein Angestellter.“ Das stimmte natürlich, aber die Ära der Supertrainer – der Special Ones – hatte begonnen, und da gehörte Klappern zum Handwerk.
Schnell stellte sich heraus, dass del Bosques Weisheiten – wie „Spieler und Söhne verstehen nichts, wenn man sie anbrüllt“ oder „Ich habe kein Patent auf die alleinige Wahrheit“ – genau das gewesen waren: weise. Ohne ihn auf der Trainerbank waren Los Galácticos plötzlich sehr irdisch. Nach drei Jahren ohne Titel musste Pérez im Februar 2006 sogar zurücktreten. Del Bosque hoffte vermutlich, dass der Weg zurück zu seinem Herzensklub nun frei war, doch niemand fragte ihn. Stattdessen übernahm er 2008 die Nationalelf – und wurde Weltmeister sowie Europameister.
Als del Bosque 2017 von der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur mit dem Walther-Bensemann-Preis ausgezeichnet wurde, hielt „Kicker“-Herausgeber Rainer Holzschuh die Laudatio. Er erwähnte, dass er mit Günter Netzer über den Preisträger gesprochen hätte. Netzer kennt del Bosque persönlich, weil er mit ihm bei Real Madrid gespielt hat. Er sagte zu Holzschuh: „Bei keinem Trainer habe ich mich so über Erfolge gefreut wie bei del Bosque.“ Man kann also davon ausgehen, dass Netzer über die Jahre extrem viel Freude gehabt hat, schließlich ist del Bosque der einzige Trainer in der Geschichte des Spiels, der die beiden höchsten Trophäen des Vereinsfußballs ebenso gewonnen hat wie die zwei bedeutendsten Titel auf Länderebene. Wenn ihm das einer an Weihnachten 1999 prophezeit hätte …