Man stelle sich das einmal vor. Im Sommer 2021 beginnt die Bun­des­liga-Saison, die Mann­schaften laufen in die Sta­dien ein und bli­cken end­lich nicht mehr auf leere Scha­len­sitze und Beton­stufen, son­dern auf gut gefüllte Ränge, auf sin­gende und klat­schende Fuß­ball­fans. Mit anderen Worten: Man stelle sich vor, dass end­lich wieder alles so wird, wie es einmal war.

Dieses Sze­nario begegnet jedem, der sich in diesen Tagen mit Funk­tio­nären der Klubs der beiden Pro­fi­ligen unter­hält. Diese haben näm­lich in den letzten Monaten ver­sucht, aus­zu­rechnen, wie lange sie durch­halten, wie lange sie sich mit Über­brü­ckungs­kre­diten, Bürg­schaften und Ein­spa­rungen über Wasser halten müssen. Und in den meisten Plan­spielen wird fest ange­nommen, dass die Bun­des­ligen im Sommer wieder den Nor­mal­be­trieb auf­nehmen können. Weil bis dahin der Impf­stoff groß­flä­chig ver­teilt worden ist und weil sich bis dahin jeder Zuschauer schnell noch zuhause testen kann.

Eines aber über­sehen die Klubs. Dass die Fuß­ball­welt nach Corona nicht mehr die sein wird, die sie vorher war. Die Voll­brem­sung, die der inter­na­tio­nale Fuß­ball­be­trieb im Früh­jahr hatte hin­legen müssen, und die fol­genden Monate in men­schen­leeren Sta­dien haben viele Gewiss­heiten, die das Geschäft mit dem Fuß­ball über Jahr­zehnte bestimmt haben, als teure Mythen ent­zau­bert.

Wer will es ihnen ver­denken?

Die Klubs haben die ver­än­dere Situa­tion bis­lang tapfer igno­riert. Das unwür­dige Schau­spiel, als sich vier­zehn Bun­des­li­gisten von Bayern-Boss Karl-Heinz Rum­me­nigge nach Frank­furt zitieren ließen, um dort dem Hohe­priester der Besitz­stands­wah­rung zu hul­digen, war blanke Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung. Und wäh­rend im Früh­jahr noch von neuer Beschei­den­heit und reu­mü­tiger Ein­sicht in die Dys­funk­tio­na­li­täten des Pro­fi­ge­schäfts die Rede war, sind heute schon wieder die Zei­tungen voll von Aus­stiegs­klau­seln und Mil­lio­nen­trans­fers und trom­meln die über­tra­genden Sender schon wieder für die Live­über­tra­gungen.

Wer will es ihnen ver­denken? Ist doch klar, dass jeder, der in der Ver­gan­gen­heit mit dem Fuß­ball Geld ver­dient hat, sich nun red­lich müht, das Geschäft wieder anzu­kur­beln. 

Doch der Pro­fi­fuß­ball muss begreifen, dass ihm da gerade eine ein­ma­lige und nach­ge­rade his­to­ri­sche Chance geboten wird. Der Aus­nah­me­zu­stand, in dem sich der euro­päi­sche Fuß­ball gerade befindet, ist näm­lich nur auf den ersten Blick eine große Kata­strophe, weil er jene vom Spiel fern­hält, die es am meisten lieben. Auf den zweiten Blick ist der asep­ti­sche Spiel­be­trieb von nahezu auf­klä­re­ri­scher Wir­kung. Denn wer jetzt, da die Spiele in leeren Sta­dien, vor ver­waisten Tri­bünen statt­finden, nicht begreift, für wen Fuß­ball gespielt wird und wem künftig deut­lich mehr Respekt und Auf­merk­sam­keit ent­ge­gen­ge­bracht werden sollte, der wird in Zukunft, so nüch­tern kann man das for­mu­lieren, auch keine guten Geschäfte mehr mit dem Fuß­ball machen.

Nun for­dern inzwi­schen viele einen Kul­tur­wandel im Spit­zen­fuß­ball. Und einige, die gerade ver­su­chen, sich mit Verve an die Spitze der Reform­be­we­gung zu setzen, tun dies, damit sie dort kräftig auf die Bremse steigen können. Wenn der Welt­ver­band FIFA ver­kündet, er kämpfe mit Online-Dis­kus­sionen für einen noch bes­seren Fuß­ball“, dann genügt ein Blick auf den Unter­zeichner des ein­schlä­gigen Briefes an die Mit­glieds­ver­bände. Ver­fasst und signiert wurde der näm­lich von Prä­si­dent Gianni Infan­tino, der in den letzten Jahren so ziem­lich jede Anstren­gung unter­nommen hat, zu per­sön­li­chem Vor­teil das Tafel­silber der FIFA-Tur­niere und TV-Rechte meist­bie­tend zu ver­hö­kern. Wel­ches Damas­kus­er­lebnis dem Prä­si­denten wohl wider­fahren ist, dass künftig nicht mehr der schnöde Mammon im Zen­trum all seines Stre­bens steht?

Nein, die Revo­lu­tion im Welt­fuß­ball wird nicht von Zürich aus­gehen und auch nicht von der Otto-Fleck-Schneise in Frank­furt. Das muss sie auch nicht, denn bei Licht besehen for­dert nie­mand, der ernst­haft an Ver­bes­se­rungen inter­es­siert ist, die umfas­sende Abkehr vom gegen­wär­tigen Geschäfts­prinzip. Schon gar nicht die aktiven Fan­szenen übri­gens, denen ja gern in oft stumpfer Dik­tion vor­ge­worfen wird, sie wollten zu Holz­tri­bünen, Baum­woll­tri­kots und auf­ge­pumpten Schwei­ne­blasen zurück. Wer jedoch das stu­dierte, was die Kurven seit Jahr und Tag for­dern, konnte dort einiges ent­de­cken, was in diesen Wochen und Monaten als brand­ak­tu­elle For­de­rung durch die Medien gereicht wird. Und dabei geht es kei­nes­falls um das Dau­er­thema Pyro­technik, son­dern um die Frage nach der grund­sätz­li­chen Sys­te­matik des Pro­fi­fuß­balls hier­zu­lande und in Europa.

Ob Fans auch nur ansatz­weise Lust haben? Egal!

Die Fan­szenen haben beharr­lich darauf hin­ge­wiesen, dass der Fuß­ball in den letzten Jahr­zehnten eine für den Sport, seine Kultur und seine Wirt­schaft schäd­liche Gewichts­ver­la­ge­rung vor­ge­nommen hat. Die enormen Summen, die der Fuß­ball durch glo­bale TV-Rechte erlösen konnte, haben dazu geführt, dass bei der Gestal­tung des Spiel­be­triebs nahezu aus­schließ­lich auf die Inter­essen und Bedürf­nisse der Zuschauer vor den Fern­se­hern Rück­sicht genommen wurde. Die heu­tige Fäche­rung des Fuß­ball­be­triebs über die ganze Woche folgt der Erkenntnis, dass mehr Spiele auch neue Sen­de­plätze und in der Kon­se­quenz deut­lich mehr Geld bedeuten. 

Ob Fans auch nur ansatz­weise Lust haben, am Mon­tag­abend oder Sonn­tag­mittag ins Sta­dion zu gehen, war da stets Neben­sache. Die Haupt­sache war, diesen gefrä­ßigen Betrieb zu füt­tern, mehr noch, ihn immer größer werden zu lassen. Nicht zufällig wurden auch in der Bun­des­liga auf den Jah­res­haupt­ver­samm­lungen immer neue Umsatz­re­korde und erlöste Trans­fer­mil­lionen min­des­tens ebenso stolz prä­sen­tiert wie errun­gene Pokale. Wer’s nicht glaubt, sichte noch einmal die Jubel­mel­dungen aus dem Januar 2019, als Chris­tian Pulisic von Borussia Dort­mund für über 60 Mil­lionen Euro an den FC Chelsea ver­kauft wurde. So freu­de­strah­lende Mienen sah man beim BVB zuletzt nach der ersten Meis­ter­schaft unter Jürgen Klopp. Fast über­ra­schend, dass die dazu­ge­hö­rigen Geld­koffer nicht auch noch im offenen Wagen um den Borsig­platz gefahren wurden.

Die Suche nach immer neuen Erlös­quellen war das Mantra der letzten Jahr­zehnte. Wer findig war, wer neue Geschäfts­felder ent­deckte – und sei es nur das, auch noch den Ein­lauf­kin­dern ein Preis­schild umzu­hängen –, und wer damit auch noch durchkam, dem wurde auf ein­schlä­gigen Sport­busi­ness­kon­gressen aner­ken­nend auf die Schulter gehauen und ehr­furchts­voll zuge­nickt, wenn er welt­män­nisch über Audi­ence Flow, Cus­tomer Journey und die anste­hende Erobe­rung süd­ost­asia­ti­scher Märkte par­lierte.

Dabei basierte die über­bor­dende Geschäfts­tä­tig­keit rund um den Fuß­ball auf der immer gewag­teren Wette, dass das Stamm­pu­blikum am Ende jede kom­mer­zi­elle Volte mit­ma­chen würde. Die Sta­di­ongänger, die Fah­nen­schwenker und Alles­fahrer, die Fan­klub­vor­sit­zenden und Dau­er­kar­ten­käufer, sie alle sollten trotz alledem in die Sta­dien gehen, die Aus­wärts­blöcke füllen und auch die sechste Son­der­edi­tion des zweiten Aus­weicht­ri­kots kaufen. Das ging lange Zeit gut. Und wer nicht genau hin­schaute, konnte die Zei­chen der Krise leicht über­sehen. Als die aktive Dort­munder Szene vor ein paar Jahren ankün­digte, nicht zum Aus­wärts­spiel zum Geträn­ke­stütz­punkt nach Leipzig zu fahren, und zum Fern­bleiben auf­rief, rissen sich andere Fans um das frei­ge­wor­dene Kar­ten­kon­tin­gent. Welch anderen Schluss sollte man daraus ziehen als jenen, dass sich die Anhänger am Ende alles bieten lassen?

Dabei hatte die Ent­frem­dung, die heute viele einst­mals lei­den­schaft­liche Anhänger ziem­lich gleich­gültig auf den Fuß­ball­be­trieb bli­cken lässt, da bereits mit Wucht ein­ge­setzt. Und im Nach­hinein schüt­telt man über manche naive Pro­jek­tion des Fuß­ball­be­triebs den Kopf. Etwa die lus­tige Vor­stel­lung, es lasse einen nor­malen Schicht­ar­beiter kalt, in der Zei­tung von einem Keeper zu lesen, der aus­schließ­lich ein Jah­res­ge­halt jen­seits der zwanzig Mil­lionen Euro als Aner­ken­nung seiner Lebens­leis­tung akzep­tiert. Oder die kuriose Vor­stel­lung, die Anhänger würden sich jedes Jahr aufs Neue wie Schnee­kö­nige auf die Bun­des­liga freuen, obwohl kein Dritt­klässler jemals einen anderen Deut­schen Meister ken­nen­ge­lernt hat als den FC Bayern. Und schließ­lich die gänz­lich absurde Vor­stel­lung, es wäre den Fuß­ball­fans am Ende doch egal, dass nicht ein ein­ziges WM-Tur­nier der letzten Jahr­zehnte ohne Schmier­geld­zah­lungen ver­geben wurde. Und all das, wäh­rend sich der euro­päi­sche Spit­zen­fuß­ball zugleich als Hort der Fair­ness, der Völ­ker­ver­stän­di­gung und der pri­ckelnden Hoch­glanz­un­ter­hal­tung ver­kaufte.

Die Kluft zwi­schen Zuschauern und Fuß­ball­be­trieb ist zu groß geworden

Wer also ernst­haft daran inter­es­siert ist, den Fuß­ball zu refor­mieren, muss sich fragen, wie diese Kluft zwi­schen den Zuschauern und dem Fuß­ball­be­trieb wieder zu ver­klei­nern ist. Ganz zu schließen ist sie nicht und sollte sie auch nicht sein. Schließ­lich ent­steht auch durch die Rei­bung der Anhänger an den Zumu­tungen des Pro­fi­fuß­balls, aus der Oppo­si­tion gegen zu viel Kom­merz, die not­wen­dige Hitze, um Kultur zu schaffen. Zu groß darf die Kluft aber eben auch nicht werden, weil dann die Bin­dung reißt, die Bezie­hung keinen Sinn mehr gibt und ergibt. Nur wenn Anhänger den Ein­druck haben, dass sie gebraucht werden, dass ihre Stimmen zählen, dass sie gehört werden und dass sie nicht nur benö­tigt werden, damit das Sta­dion im Fern­sehen gut aus­sieht, dann werden sie sich weiter enga­gieren, Dau­er­karten kaufen und Fahnen schwenken.

Es braucht, um es radikal zu for­mu­lieren, ein neues Ver­hältnis zwi­schen den Anhän­gern und den Ver­einen, den Common Sense, ele­mentar auf­ein­ander ange­wiesen zu sein und ein­ander auf Augen­höhe zu begegnen. Das bedeutet einen oft anstren­genden Dialog, das bedeutet kon­träre Ansichten und Bedürf­nisse. Ein auf diese Weise neu jus­tiertes Ver­hältnis ist jedoch zugleich die ein­zige Chance, gestärkt aus dieser Krise her­aus­zu­gehen. Jetzt ist die Mög­lich­keit, mit all den Betei­ligten des Fuß­balls, der zugleich Volks­sport, Enter­tain­ment, Kultur und knall­hartes Geschäft ist, zu ver­han­deln – mit klarer Sicht auf die Defor­ma­tionen des Geschäfts, aber auch mit aner­ken­nendem Blick auf das, was in den letzten beiden Jahr­zehnten auf­ge­baut worden ist.

Die Bun­des­liga hat eine his­to­ri­sche Chance

Denn das ist eine Angst vieler Funk­tio­näre, die zunächst ent­kräftet werden muss und kann. Ziel kann keine Kul­tur­re­vo­lu­tion sein, keine mut­wil­lige Zer­stö­rung wirt­schaft­li­cher Struk­turen. Dafür arbeiten im Pro­fi­fuß­ball inzwi­schen viel zu viele Men­schen, dafür sind die Klubs viel zu wichtig für ihre Städte und Regionen. Aber es kann eben auch nicht nur um Lip­pen­be­kennt­nisse gehen, um mal schnell hin­ge­wor­fene Bekun­dungen, nun aber das Ohr noch näher am Volks­mund zu haben. Eine selbst­be­wusste Fan­kultur als ele­men­taren Teil des Fuß­ball­be­triebs anzu­er­kennen, ist kein State­ment, son­dern ein Pro­zess. Und genauso ist die Erkenntnis, dass immer absur­dere Spie­ler­ge­hälter dem Publikum nicht mehr ver­mit­telbar sind, nicht allzu viel wert, wenn ihr nicht ver­bind­liche Regeln und Beschlüsse folgen.

Und all das kann natür­lich auch nicht auf Deutsch­land beschränkt bleiben. Wer im Pro­fi­fuß­ball etwas ver­än­dern will, muss global, min­des­tens aber euro­pä­isch denken und han­deln. Wenn die Pre­mier League, die Serie A oder die spa­ni­sche Liga wei­terhin Mond­ge­hälter zahlen, wird eine Gehalts­bremse in Deutsch­land nur dazu führen, dass noch mehr junge Talente ins Aus­land wech­seln. Zugleich bedeutet euro­päi­sches Denken aber auch, vor­an­gehen zu können. Die Bun­des­liga gilt als fan­freund­lichste der großen Ligen. Die Steh­platz­areale machen viele Eng­länder blass vor Neid. Nun kann sie den anderen großen Ligen vor­ma­chen, dass sie noch viel mehr kann, dass sie Wirt­schaft und Kultur ver­söhnen kann, dass sie vor­aus­schauend plant, dass sie ein mora­li­sches Geländer hat. Vor allem aber muss sie zeigen, dass sie die Anhänger ernst nimmt. Das ist ein großer Schritt. Aber sie muss ihn jetzt gehen.