1995 gründeten drei Fans aus München das Fußballmagazin „Der tödliche Pass“. Es war kritisch, klug und manchmal unverständlich. Dieses Jahr stellten die Macher das Magazin ein. Dabei wäre es heute wichtiger denn je.
Stefan Erhardt, auf Ihrer Homepage verabschieden Sie sich mit den Worten: „Der Fußball ist nicht mehr der Fußball, der er mal war. Zumindest für uns nicht. Zeit sich zu verabschieden.“ War früher alles besser?
Früher war alles anders. Wir haben den „Tödlichen Pass“ 1995 als Reaktion auf die feindliche Übernahme des Fußballs durch das Privatfernsehen gegründet. Speziell die Sat.1‑Sendung „ran“ war nur schwer erträglich.
Was störte Sie an „ran“?
Das war, böse formuliert, eine Werbesendung, in der zwischendrin ein wenig über Fußball berichtet wurde. Für eine unserer Ausgaben habe ich ein Experiment gemacht und einige Folgen von „ran“ mit der Stoppuhr gemessen. Tatsächlich nahm die Werbung oft den Löwenanteil ein. Auch die Art der Berichterstattung gefiel uns nicht. Selbst ein dröges 0:0 wurde zu einem spannenden Spiel hochgejazzt.
War „ran“ nicht auch der Versuch, etwas Neues zu wagen?
Die alte Tante Sportschau war überholt, das stimmt. Die Leute wollten nicht mehr nur klassische 1:0‑Berichterstattung. Aber in „ran“ ging es nur ums Geld und das Vermarkten von Produkten. Es musste andere neue Erzählweisen geben.
Die Diskussion um die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs gab es schon in den Sechzigern.
Klar. Bei der Einführung des Profitums und der Bundesliga wurde auch geschimpft und vom Untergang des Fußballs geschrieben. Später waren Legionäre verpönt, weil sie für viel Geld ins Ausland gingen. In den vergangenen Jahren hat die Kommerzialisierung aber schlimme Dimensionen angenommen. Der Fußball hat jedes Maß verloren. Ich will nicht den alten Brot-und-Spiele-Vergleich rausholen, aber der Fußball ist Teil einer aufgeblasenen Unterhaltungsindustrie geworden, an die sich viele andere Wirtschaftszweige dranhängen. Es gibt Mentaltrainer, Life-Coaches, Medien-Coaches, Ernährungsberater, neulich habe ich von Aura-Chirurgie im Fußball gelesen.
Stefan Erhardt wurde in Frankfurt am Main im Jahr der einzigen Eintracht-Meisterschaft geboren. Er ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch.
Ist ein Heft wie „Der tödliche Pass“ nicht deshalb wichtiger denn je? Als schlechtes Gewissen oder Kontrapunkt.
Aber mit welchem Ergebnis? Wir haben das Heft 25 Jahre gemacht und hatten immer die Maßgabe: Wenn es keine Wirkung mehr hat, dann hören wir auf. Auch viele unserer früheren Leser sind so genervt vom Fußball, dass sie ihm den Rücken gekehrt haben — und darüber nicht mal mehr etwas lesen wollen.
„Der Perfektions- und Optimierungswahn wird an seine Grenzen kommen“
Im letzten Heft haben Sie den Status quo so zusammengefasst: „Fußball ist ein Spiel, bei dem 22 Spieler einem Ball hinterherlaufen, am Ende der FC Bayern gewinnt und Karl-Heinz Rummenigge mehr Geld für seinen Verein fordert.“
Rummenigge kommt mir vor wie eine Mischung aus Versicherungsvertreter, Billiger Jakob und Finanzmakler. Es ist sein Job, mehr Erfolg und mehr Geld zu generieren. Aber ich finde, Fußball hat einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert als ein normales Wirtschaftsunternehmen. Und sowieso: Wo hört das alles auf? Die Mannschaften fliegen in Trainingslager nach Katar, Champions-League-Endspiele sollen in den USA ausgetragen werden, während wir uns eigentlich um den Klimawandel Gedanken machen sollten. Es ist unverantwortlich. Irgendwann wird auch dieser Perfektions- und Optimierungswahn an seine Grenzen kommen. Ich habe kürzlich einen Text über Exoskelette gelesen, also eine Art äußere Stützstruktur, mit der man bestimmte Körperteile verbessern kann. Die Wirbelsäule oder das Knie. Die Statuten der Fußballverbände erlauben so etwas momentan noch nicht. Aber warten wir mal ab.
Rummenigge würde entgegnen: Die Fans wollen Erfolg, den man nur bekommt, wenn man Deals mit Katar eingeht oder den Fußball perfekter macht.
Das ist seine Annahme. Ich glaube das aber nicht. Die Fans wollen sich auch heute noch überraschen lassen, sie wollen im Stadion das Gefühl haben wie bei einem guten Krimi. Sepp Herberger hat das schon richtig gesagt: „Die Leute gehen immer wieder ins Stadion, weil sie nicht wissen, wie’s ausgeht.“
Sie haben Ihr Magazin nach 99 Ausgaben eingestellt. Ein letztes Statement gegen die Optimierung und die Perfektion?
Ich habe es schon vorher in einer Rundmail an unsere Autorinnen und Autoren formuliert: Wir hören bei Nummer 99 auf, eine Jubiläumsausgabe 100 wird es nicht geben. (Lacht.) Nach außen hat das natürlich überhaupt keine Wirkung, aber nach innen verschafft es eine kleine Genugtuung.
Woher kommt Ihre Ablehnung des Etablierten und Prätentiösen?
Ablehnung würde ich es nicht nennen. Ein schönes Fremdwort, das hier passt, ist Idiosynkrasie. Mich interessieren mehr das Ungewöhnliche, die Ecken, die Kanten. Dinge, die man nicht sofort sieht. Ich mag Freejazz, Improvisation.
„Reflexionen über Fußball? Fußballkritik? Ich will, dass mein Verein gewinnt!“
1995, als die erste Ausgabe des „Tödlichen Pass“ erschien, gab es kaum deutschsprachige Fußballmagazine. Woran haben Sie sich orientiert?
Einige Autoren — etwa von der „Süddeutschen Zeitung“ — haben schon damals anders über Fußball berichtet. Sie haben Geschichten erzählt, den Fußball soziokulturell begriffen, sie waren nah am Feuilleton. Auch die Beiträge von Radioreporter Günther Koch gefielen uns gut. Keine trockene 1:0‑Berichterstattung, aber auch kein hysterisches „ran“-Gekreische. Er hat es wie kein anderer geschafft, die besondere Atmosphäre eines Fußballspiels wiederzugeben.
Waren auch Fanzines Inspiration für den „Tödlichen Pass“?
Die Initialzündung für den „Pass“ hatte ich in einer Londoner Sportbuchhandlung. Dort fand ich zwei Magazinständer, die voll beladen waren mit Fußball-Fanzines. Wahnsinn, dachte ich, was da für eine Liebe und auch Können reingesteckt wird. Ich dachte, vielleicht könnte man den Spagat zwischen Fußball-Fanzine und akademischer Vierteljahresschrift hinbekommen.
„Magazin zur näheren Betrachtung des Fußballspiels”, untertitelten Stefan Erhardt und seine zwei Co-Herausgeber ihren „Tödlichen Pass“. Hier Ausgabe 15, Februar 1999.
Und der Name war eine ironische Anspielung auf die Sprache der Fußballberichterstattung?
Dieses Reißerische! Ein Pass, der zum Tor führte, wurde zu einem „tödlichen Pass“ stilisiert. Wir wollten dem Fußball auch aufs Maul schauen. Seine Sprache analysieren. Floskeln wie „Ein Star wird geboren“ hinterfragen. Es ging uns um Fußballkritik. So war auch der Titel eines Buches, das wir herausgegeben haben.
Mit einem Begriff wie „Fußballkritik“ erreicht man nicht unbedingt ein Massenpublikum.
Wobei da oft ein Missverständnis vorherrscht: Eine kritische Auseinandersetzung mit einem Thema bedeutet nicht, dass man es per se schlecht findet. Es geht um Reflexion. Aber klar, wir wussten natürlich, dass wir mit unserem Ansatz eine Außenseiterposition einnehmen würden. Als wir unsere ersten Ausgaben vor dem Stadion verkauften, war die Reaktion oft: „Reflexionen über Fußball? Fußballkritik? Ich will, dass mein Verein gewinnt!“ Ich erinnere mich auch an eine Lesung, auf der wir gefragt wurden, warum wir über Fußball schreiben, wenn wir ihn doch nur kritisieren. Muss man das alles aufschreiben? Muss man nicht, haben wir gesagt, aber es macht uns halt Spaß.
Die akademische Annäherung an den Fußball wurde in der Kurve lange abgelehnt. In Rostock hing mal ein Banner der Ultras: „Fußball leben statt studieren, 11FREUNDE boykottieren.“
In den Siebzigern war es eher so, dass unter Linken oder Intellektuellen kaum über Fußball nachgedacht wurde. Er war ein Prollsport, verpönt, banal.
Immerhin gibt es bekannte Bonmots von Camus oder Sartre zum Thema. Auch Adorno hat sich über Massenphänomene wie die Fußball-WM geäußert.
Geschlossene Fußballtexte von diesen Autoren sind mir aber nicht bekannt. In den Neunzigern änderte sich das langsam, an Universitäten wurden bestimmte Fußballphänomene untersucht, und heute ist es vollkommen normal. Man bekennt sich offensiv zum Fußball: Politiker, Kulturschaffende, Intellektuelle. Vor einigen Jahren erschien im Suhrkamp Verlag ein Buch über das Verhältnis von Fußball und Macht. Das wäre vor 30 Jahren völlig undenkbar gewesen. Fußball im Suhrkamp-Verlag!
Mit-Herausgeber Johannes John schrieb in einer Ausgabe über die Erotik des Fußballs: „Diesen Zusammenhang von Erregung und Ennui hat keine Wendung besser in Worte gefasst als jenes aristotelische ‚omne animal post coitum triste‘, an das uns Ecos ‚Name der Rose‘ wieder erinnert hat; ebenso prägnant ist ja die Formel vom ‚großen Tod‚.„
Ja.
Haben Sie in den 25 Jahren je darüber nachgedacht, sich einem größeren Markt zu öffnen, etwa durch eine leichtere Sprache oder neue Vertriebswege?
Das Heft haben wir anfangs über Handverkauf und kleinere Buchhandlungen selbst vertrieben. 2006 sind wir für ein Jahr an Bahnhofskioske gegangen, aber das hat sich nicht gelohnt. Werbung hatten wir in 99 Ausgaben vielleicht 20 Seiten. Die Auflage lag zwischen 400 und 1000. Nein, den Schritt hinaus aus der Nische haben wir nie gewagt. Wir hatten ja andere Berufe und konnten nicht mal Honorare zahlen. Im Gegenteil. Einige unserer Autoren waren Abonnenten.
Und die Sprache blieb absichtlich sperrig?
Einmal schrieb ein Leser: „Ich verstehe eure Texte oft beim ersten Mal nicht, also lese ich sie zweimal.“ Das war ein schönes Lob.
Die meisten Texte im „Tödlichen Pass“ waren Essays, Rezensionen, Glossen, Kolumnen. Hätten Sie sich gerne mal kritisch mit einem sogenannten Fußballstar unterhalten?
Ich hätte mich gerne mit Peter Handke getroffen. Der ist nicht unbedingt Fußballfan, aber in seinem Werk spielt Fußball manchmal eine Rolle.
Hätte nicht jemand wie der argentinische Ex-Profi Jorge Valdano gut ins Heft gepasst? Er ist Buchautor und gibt Erzählungen heraus. Kaum jemand schreibt so poetisch über Fußball wie er.
Klar. Aber wir hatten nie die journalistische Relevanz, um überhaupt solche Anfragen stellen zu können. Einmal bekam allerdings unser Layouter Tim Oehler die Möglichkeit, Martin Kind zu interviewen. Es war ein wirklich tolles Gespräch, offen und ehrlich, auch Privates kam zur Sprache. Wir schickten es der Medienabteilung von Hannover 96 zur Autorisierung zu — und bekamen ein ganz anderes Interview zurück. Nun las es sich stinknormal, wie jedes andere Interview mit einem Fußballfunktionär. Wir haben es trotzdem abgedruckt, mit einem Kommentar, in dem wir die Entstehungsgeschichte erklärt haben.
„Ich fand diese übermäßige Abneigung des Gegners oft befremdlich“
Wie stand der „Tödliche Pass“ eigentlich zu Fußballfans?
Ich war und bin kein regelmäßiger Stadionbesucher, was an meinen Eltern liegt, die mich als Kind von Frankfurt nach Oberbayern verschleppt haben. Dort war die große Frage: Bayern oder Gladbach? Ich sagte: Eintracht! Heute lebe ich in München, und wenn Frankfurt früher in Unterhaching gespielt hat, bin ich gerne hingegangen. Dort war alles sehr klein und familiär, und ich konnte Thorsten Legat so lange von der Seite zurufen, dass sie mehr über außen spielen sollen, bis er genervt zu mir geschaut hat.
Fast zeitgleich mit dem „Tödlichen Pass“ kamen die Ultras in Deutschland auf — und formulierten eine ähnliche Kritik wie Sie.
Allerdings fand ich diese übermäßige Abneigung des Gegners oft befremdlich. Fans, die andere Fans anspucken, weil sie einen anderen Schal haben. Oder die Gewalt. Das ist mir vollkommen unverständlich. Andererseits, die farbenfrohen Choreografien der Frankfurter Ultras im Europapokal fand ich beeindruckend. Und es stimmt, in einigen Punkten sind wir uns gar nicht so fern. Die Kritik der Ultras an der Kommerzialisierung oder den Verbänden haben wir stets wohlwollend verfolgt.
Ist also ein richtiger Fußball im falschen möglich?
Es gibt ja nicht nur den einen Fußball. Ich finde etwa den AFC Wimbledon auch spannend, ein Verein, der von Fans gegründet wurde, nachdem ihr alter Verein in eine Retortenstadt verlegt wurde. Trotzdem dürfen wir uns keine Illusionen machen: Die Ultras, die Fans aus Wimbledon, der „Tödliche Pass“ — wir alle sind oder waren Teil der Show und des Geschäfts. Aber das ist okay, solange wir kritisch darauf schauen und etwas abseits stehen.
Stefan Erhardt, sind Sie ein Fußballromantiker?
Ich mag den alten Fußball und denke gerne an tolle Eintracht-Spieler wie Jürgen Grabowski, Uwe Bein oder Jay-Jay Okocha. Aber ich gucke mir auch heute Fußball an. Momentan interessiert mich die Psychologie des Zusammenspiels. Wie hat sich etwa die Eintracht-Mannschaft verändert, seit Luka Jovic wieder da ist? Filip Kostic hat die Rückkehr offenbar sehr beflügelt. Ich glaube, eine Männerfreundschaft im Fußball ist viel wichtiger, als wir bislang angenommen haben.