Seit Januar spielt Tore Reginiussen beim FC St. Pauli. Der norwegische Innenverteidiger über seine Unterstützung eines WM-Boykotts in Katar, sein Engagement gegen Abschiebungen und die Möglichkeit, nach dem Karriereende Bürgermeister zu werden.
Dieses Interview erschien zuerst bei unseren norwegischen Kollegen von Josimar.
Tore Reginiussen, beim Länderspiel zwischen Gibraltar und Norwegen im März betraten die Norweger in weißen T‑Shirts mit der Aufschrift „Human Rights – on and off the Pitch“ den Platz. Am Tag danach legte Deutschland nach. Lassen sich die Scheichs in Katar von einigen T‑Shirts abschrecken?
Nein, bestimmt nicht. Aber einer der Kritikpunkte ist es, dass es egal ist, was wir im kleinen Norwegen machen, wir würden uns sowieso nicht für internationale Wettbewerbe qualifizieren. Doch jetzt sehen wir, wo der Fanaktivismus in Norwegen und die Boykottaufforderung von Tromsø IL hinführen können. Deutschland behauptet, die Aktion käme aus eigenem Antrieb, aber es ist auffallend, dass die Aktion direkt nach der norwegischen kam. Jemand muss ein erstes Zeichen setzen, es hilft nicht, wenn alle darauf warten, dass die anderen etwas tun werden.
Wie kam es dazu, dass ausgerechnet Tromsø IL, ein ziemlich kleiner Verein in Norwegen, den ersten Schritt ging?
Ich kenne viele Personen im Verein persönlich, auch Tom Høgli (Tromsøs Beauftragter für Gesellschaft und Nachhaltigkeit, d. Red.), die sich schon länger mit dem Thema beschäftigen. Er war einer der ersten, die ihr Schweigen gebrochen haben, und am Anfang stand er damit ziemlich alleine da. Wenn ein Verein solche Leute hat, ist es keine Überraschung, dass das ganze dort angefangen hat.
Sie haben sich aber selber dazu nicht geäußert, als Sie noch in der Nationalmannschaft spielten.
Für mich ist es natürlich jetzt einfacher mich zu äußern, wenn ich nicht mehr für die Nationalmannschaft spiele (Reginiussen beendete Ende 2020 seine Nationalmannschaftskarriere, d. Red.). Im Fußball herrschen unterschiedliche Interessen und viele träumen von einer WM-Teilnahme seit ihrer Kindheit. Ich habe vollstes Verständnis für diejenigen, die die Frage schwierig finden. Doch der Fußball braucht Leute, die Stellung beziehen.
Blöd, wenn 6.500 gestorbene Gastarbeiter für den großen Traum im Weg stehen.
Man muss das Ganze in Perspektive setzen: Fußball ist ein Spiel und soll Spaß machen. Natürlich ist es jetzt zum Big Business geworden und die Werte, die früher herrschten, sind nicht mehr so präsent. Doch jetzt sehen wir ein wachsendes Engagement. Die Probleme in Katar sind schon länger bekannt, trotzdem ist nichts passiert. Die Rede ist von Reformen und einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen, doch das entspricht nicht der Wahrheit. Tatsächlich ist sehr wenig passiert. Deshalb würde ein Boykott wahrscheinlich am schwersten wiegen.
Sie haben von Fanprotesten gesprochen. Doch in Norwegen sehen wir, dass die Vorstände der Vereine auf einer ganz anderen Linie als die Fans liegen. Wie kommt das?
Darauf habe ich leider keine gute Antwort. Die Vereinsgremien hätten sehen müssen, dass in der Fanszene ein starkes Engagement für das Thema herrscht. Aber Fußball ist Geld, das ist wahrscheinlich eine Erklärung.
„Meiner Meinung nach haben sie hier in Deutschland großen Erfolg mit der 50+1‑Regel gehabt, auch wenn sie immer wieder unter Druck steht“
Weltweit sind viele Vereine in der Hand von reichen Investoren. Die Liste von Prinzen, Oligarchen und Mäzen, die in Fußballvereine investieren, ist unendlich lang geworden.
Da haben Sie wahrscheinlich eine Antwort auf Ihre Frage, warum so viele Fußballer sich damit schwer tun, sich für politische Standpunkte einzusetzen. Sie spielen für einen dieser Vereine oder erhoffen sich zukünftig zu einem von diesen zu wechseln. Natürlich ist es ein Problem, dass diese finanzstarken Personen sich über diesen Weg so viel Einfluss über den Fußball sichern können.
In Norwegen gehören die Vereine, zumindest auf dem Papier, zu 100 Prozent den Mitgliedern. Doch diese Regel wird in der Praxis oft durch Ausgliederungen umgangen. Wie ist Ihrer Meinung nach der aktuelle Stand in Norwegen? Und ist das deutsche 50+1‑Modell besser geeignet als das norwegische?
Die Realität in Norwegen ist, dass die Profiabteilungen immer häufiger ausgegliedert werden, das sogenannte Dualmodell. Dadurch sind immer mehr Macht und Einfluss in die Hände von Investoren überführt worden und wir sehen Konflikte im täglichen Betrieb der Klubs. Meiner Meinung nach haben sie hier in Deutschland großen Erfolg mit der 50+1‑Regel gehabt, auch wenn sie immer wieder unter Druck steht. Hier sind die Stadien voll, die Fanzugehörgikeit ist groß, und die Tickets sind bezahlbar.
1995 verweigerte der damals norwegische Nationalspieler Lars Bohinen das Spiel gegen Frankreich, aus Protest gegen Kernwaffentests im Pazifik. Heutzutage hört man selten von solchen Aktionen von aktiven Fußballern. Warum?
Ich kenne viele Fußballer, die sich in der Gesellschaft engagieren, die darüber aber nicht so oft und laut öffentlich reden. Zumal darüber nicht oft genug berichtet wird, meiner Meinung nach. Aber natürlich sind die jungen Fußballtalente – zumindest in Norwegen – sehr privilegiert, vieles steht ihnen zur Verfügung. Genau deshalb ist es wichtig, das Ganze manchmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Seitdem Sie Vater geworden sind, setzen Sie sich auch gegen Mobbing ein.
Niemand möchte erleben, dass seine eigenen Kinder so etwas ausgesetzt werden. Ich habe einen großen Einfluss, das merke ich etwa, wenn ich an Schulen mit dem MOT-Projekt unterwegs bin (norwegische Fußballinitiative gegen Mobbing, d. Red.). Die Leute hören mir einfach wegen meiner Tätigkeit als Fußballer sehr gut zu. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir Profifußballer- und Sportler uns für eine Veränderung der Gesellschaft einsetzen.
Ohne dabei die Leistung auf dem Platz zu hemmen?
Ein Teil meiner Zeit für die Verbesserung der Gesellschaft zu opfern, bereitet mir nur Freude. Mein Engagement hat meine Leistungen nicht geschwächt – eher im Gegenteil – ich glaube, man wird ein besserer Fußballer wenn man lernt, dass Fußball nicht das wichtigste auf der Welt ist.
Wie etwa Marcus Rashford. Sie haben seinen Einsatz für die Versorgung von Essen für Schulkinder in Großbritannien gelobt.
Genau, er hat gezeigt, dass sich viel verändern kann, wenn du Eigeninitiative übernimmst.
Sie sind im Januar von Rosenborg Trondheim zum FC St. Pauli gewechselt. Wer könnte Ihr gesellschaftliches Engagement in Trondheim übernehmen?
Per (Skjelbred, d. Red.) ist einer, der Verantwortung übernimmt. Ich setze auch ganz viele Hoffnungen auf Markus Henriksen, den neuen Kapitän. Rosenborg ist immer ein Verein mit starken Werten gewesen und es ist wichtig, dass sie ihr Engagement neben dem Feld fortsetzen. Diese Werte müssen Tag für Tag gelebt und nicht nur schön auf Werbeposters gemalt werden. Rosenborg ist der größte Klub Norwegens und ich hoffe sehr, dass ihnen weiterhin die dazugehörige gesellschaftliche Verantwortung bewusst bleibt.
Tore Reginiussen, 2019 haben Sie in der Lokalzeitung Adresseavisen in Trondheim einen Beitrag gegen die Abschiebung der Familie Abbasi geschrieben. Wie kam es dazu?
Die Bürgerinitiative, die um das Schicksal der Familie gekämpft hat, hat mich kontaktiert. Sie hat ein Hilfskonzert für die Abbasis veranstaltet und ich bin dahin gegangen. Dadurch bin in Kontakt mit der Familie gekommen, um ihre Situation besser zu verstehen. Ich habe sie kennengelernt und sie durch eine sehr herausfordernde Zeit begleitet. Das hat sowohl bei mir als auch bei ihnen tiefe Spuren hinterlassen. Am Ende wurde die Mutter nach Afghanistan geschickt, aber die drei Kinder durften in Norwegen bleiben. Die Art und Weise, wie sie behandelt wurden, hätte jeden Menschen zerbrechen lassen können. Heute habe ich immer noch Kontakt mit dem 18-jährigen Ehsan. Ich habe ihm ein St.-Pauli-Trikot für seine Sammlung versprochen.
Mit Ihrem gesellschaftlichen Engagement war es kein Zufall, dass Sie beim FC St. Pauli gelandet sind, oder?
Das Leben ist voller Zufälle, es war auch nicht das einzige Angebot, das auf dem Tisch lag. St. Pauli hatte eine schlechte Hinrunde gespielt und brauchte neue Spieler – egal ob 25 oder 35 Jahre alt – so lange man die erwünschte Erfahrung und Qualität vorweisen könnte, kam man in Frage. Ich habe länger hin und her überlegt, ob ich mitten in einer Pandemie ins Ausland ziehen wollte, habe aber gedacht: „Gut, zuerst ist es nur ein halbes Jahr, ich probiere es einfach.“ Zudem hatte ich viel Faszinierendes über den Verein gehört und ich wusste, dass er zu mir passen würde, sowohl auf als auch neben dem Platz.
Haben Sie den Fußball in Deutschland länger verfolgt?
Ja, ein bisschen. Nun spielt aber St. Pauli in der zweiten Liga, es war also nicht immer so einfach, den Klub aus Norwegen heraus zu verfolgen. Es ist der Ruf als Kultklub, der mich fasziniert hat. Vor zehn Jahren, als ich bei Schalke spielte, haben wir im Winter vor 25.000 Zuschauern ein Testspiel gegen St. Pauli gespielt. Die Erinnerung ist in meinem Kopf hängen geblieben, zumal ich vom Aktivismus im und rund um den Verein wusste. Ich wusste vom Einsatz gegen Hass und Diskriminierung und dem Engagement in wichtigen Debatten. St. Pauli ist ja nicht der schickste Teil von Hamburg, aber das Interesse rund um den Verein ist sehr besonders. Ich hoffe sehr, dass ich auch mal im vollen Millerntor-Stadion spielen darf.
kam 1986 in Alta im nördlichen Norwegen zur Welt. Seine Leistungen für Tromsø IL weckten auch internationales Interesse: 2010 holte ihn Schalke 04 ins Ruhrgebiet. Nach eher enttäuschenden Jahren im Ausland kehrte er 2012 nach Norwegen zum Rekordmeister Rosenborg Trondheim zurück, ehe er im Winter 2021 zum FC St. Pauli wechselte.
Am Anfang haben Sie nur begrenzte Einsatzzeit bekommen und wurden nur eingwechselt, um Führungen zu verteidigen. Mit der Zeit haben Sie aber einige Spiele von Beginn an spielen dürfen. Wie fühlen Sie sich bei St. Pauli?
Ich fühle mich hier sehr wohl. Sie wissen wofür ich stehe, welcher Typ ich bin und dass mein Engagement auch neben dem Platz sehr stark ist.
Während des Gesprächs wird Tore Reginiussen von Tom Høgli, Tromsøs Beauftragten für Gesellschaft und Nachhaltigkeit, angerufen.
Woher kommt es, dass Sie sich so sehr engagieren? Hat Tom Høgli sie beeinflusst?
(Lacht.) Viele Werte habe ich von zu Hause mitgenommen, meine Eltern haben sich in der Lokalpolitik engagiert. Mein Vater war lange Vorsitzender der Arbeiterpartei in Alta (Reginiussens Heimatstadt im Norden von Norwegen, d. Red.) und meine Mutter hat als Pflegekraft für Flüchtlinge dort gearbeitet. Sie haben einiges erlebt und ihre Geschichten haben mich bestimmt geprägt.
In zwei Jahren sind Lokalwahlen in Trondheim. Dann können Sie dort Bürgermeister werden.
(Lacht.) Perfektes Timing! Tom Høgli und ich haben viel darüber geredet. Aber ich weiß nicht, ob das etwas für mich ist. Ich glaube, es werden zu viele (Überlegt.)…
…Enttäuschungen?
Ja, und zu viel Bürokratie. Mein Engagement ist vorhanden, aber ich bin etwas zu ungeduldig. Ich möchte, dass Dinge sich sofort ändern, aber so funktioniert es nicht in der Politik, glaube ich.
Könnten Sie sich nach Ihrer Karriere eine Rolle bei Rosenborg vorstellen?
Nach meinem Karriereende brauche ich zuerst ein paar Jahre außerhalb des Fußballs. Als allererstes werde ich meine Ausbildung zum Physiotherapeuten abschließen. Danach käme eine ähnliche gesellschaftliche Rolle in Frage wie sie Tom Høgli in Tromsø inne hat. Aktuell finde ich das Engagement rund um den Fußball sehr interessant. Wenn man sich mit der Fifa und der Vergabe der letzten WM-Turniere an etwa Russland oder Katar tiefer auseinandersetzt, findet man sehr viel Dreck unter den Fingernägeln. Das ist ein harter und unangenehmer Kampf, aber einer muss ihn aufnehmen.