Mit gerade einmal 17 Jahren gehört er zum Stammpersonal des FC Bayern München. Joachim Löw bemühte sich, dass das Talent zukünftig für den DFB spielen werde. Nun hat er sich entschieden. Wer ist Jamal Musiala?
Anlaufschwierigkeiten? Fehlanzeige. Wer Jamal Musiala in den letzten Spielen mit dem FC Bayern München spielen sehen hat, käme wohl ohne Hintergrundwissen nicht darauf, dass da gerade ein 17-Jähriger für den Rekordmeister auf den Platz stand. Dazu nicht nur irgendeiner, sondern der bislang jüngste Bundesliga-Spieler und ‑Torschütze in der Geschichte des FC Bayern.
Auch wenn der Rekordmeister sein neuestes Talent noch keinen unnötigen Erwartungsdruck aussetzen möchte: Die Freude, dass mit dem 17-Jährigen wieder einmal ein Talent aus den eigenen Reihen der ersten Elf Konkurrenz macht, ist den Münchnern längst anzumerken. „Er hat enorme Ruhe und Qualität am Ball, er ist im Dribbling und im Eins-gegen-Eins schwer zu stoppen“, schwärmte Trainer Hansi Flick schon im Dezember nach dem Champions-League-Spiel gegen Atlético Madrid. Auch wenn er gleichzeitig betonte, wie vorsichtig man jetzt noch sein müsse mit den Lobhudeleien. Und als würde Flick seine Warnung sogleich mit Fakten belegen wollen, war das Spiel gegen Madrid eines der letzten Spiele, in dem man das Talent über einen längeren Zeitraum beobachten konnte – bis gestern Abend.
So sehr die Bayern in den vergangenen Jahren die Konkurrenz dominierten – zumindest für die Durchlässigkeit zwischen Nachwuchsteams und Profimannschaft waren die Münchner nicht wirklich bekannt. Dann kam Alphonso Davies und fügte sich beinahe mühelos in die Triple-Sieger-Mannschaft 2019/20 ein. Und spätestens mit den Debüts von Musiala und seinen Teamkollegen Chris Richards und Bright Arrey-Mbi wird klar: Auch an dieser Baustelle scheint der Ligakrösus gearbeitet zu haben – wenn auch die genannten Spieler den Großteil ihrer Ausbildung bei anderen Vereinen genossen haben.
Klar ist auch: In den letzten Wochen hatte der FC Bayern ein Mammutprogramm zu absolvieren, dass nur mit viel Rotation gestemmt werden konnte. Es liegt also nahe, zu vermuten, dass der bisher jüngste Bundesligatorschütze des FC Bayern seine Einsätze einzig und allein der Corona-Pandemie zu verdanken hat und er auch so schnell wieder weg sein könnte, wie er gekommen ist. Doch Musiala hat seine Frühstarter-Qualitäten nicht erst, seit er für den FC Bayern spielt – wer sich die Vita des gebürtigen Stuttgarters ansieht, kann ebenfalls leicht aus dem Auge verlieren, dass hier von einem erst 17-jährigen Spieler die Rede ist. Musiala blickt bereits auf eine Karriere zurück, die ihn vom TSV Lehnerz aus Fulda über Southampton und Chelsea bis zum FC Bayern München führte – manche Profifußballer haben am Ende ihrer Laufbahn weniger Stationen vorzuweisen.
Der erste Ortswechsel folgte früh: Das Studium der Mutter führte die Familie Musiala Ende der 2000er Jahre von Stuttgart nach Fulda, wo der vierjährige Jamal beim TSV Lehnerz zum ersten Mal im Verein Fußball spielte. Sein Talent fiel dort schnell auf: Vom Kopf her sei er schon immer weiter gewesen als die Gleichaltrigen, erzählte sein erster Trainer Branko Milenkovski der Osthessen-Zeitung. Vier bis fünf Tore habe er im Schnitt erzielt – pro Spiel. Und dabei von Anfang an schon in den höheren Altersklassen gespielt.
Fulda ist – zumindest für den Profisport – ein fußballerisches Niemandsland. Die nächstgrößeren Klubs befinden sich in Erfurt, Kassel oder Frankfurt am Main, zu weit weg, um mal schnell in ein nahegelegenes Nachwuchsleistungszentrum zu fahren. Perfekt passte es da, dass Musialas Mutter Carolin sich nach zwei Jahren entschloss, ein Auslandssemester zu absolvieren – ausgerechnet in London, wo gefühlt hinter jeder Straßenecke ein anderer Profiklub seine Spielstätte hat. Der Sohn folgte seiner Mutter nach England und mischte dort in Windeseile den Jugendfußball auf.
Es dauerte nicht lange, bis Musiala hier von Scouts entdeckt wurde – zunächst von denen des FC Southampton. Im Jugendteam der Saints spielte er sich innerhalb nur weniger Monate ins Rampenlicht der Londoner Klubs – und wechselte nach nicht einmal einem halben Jahr bereits wieder zum FC Chelsea, für den er in seinem ersten Spiel gleich vier Tore erzielte. So schnell wie seine Vereinswechsel verlief auch sein Karriereweg, Anlaufschwierigkeiten hatte Jamal Musiala nur selten. Im Jahr 2016, mit gerade einmal 13 Jahren, durfte er zum ersten Mal für die U15-Nationalmannschaft Englands spielen. Die Teamkollegen waren fast alle ein Jahr älter als er – nur ein einziger weiterer 2003er-Jahrgang, ein gewisser Jude Bellingham, stand bei Musialas Debüt für die „Three Lions“ mit auf dem Platz. Auch für sein zweites Heimatland, die deutsche U16-Nationalmannschaft lief er ein Jahr später zwei Mal auf.
Dass der Jungstar nun in München für Furore sorgt statt in London, hat der FC Bayern München schließlich auch den politischen Entwicklungen zu verdanken: Der Brexit habe mit eine Rolle gespielt, dass er und seine Mutter die jahrelange Heimat London 2019 wieder in Richtung Deutschland verließen, erzählte Musiala im Februar der Fuldaer Zeitung. Auf dem FCB-Campus war er zunächst für die B‑Junioren vorgesehen, doch auch hier ging wieder alles viel schneller als gedacht: Nach sechs Toren in zwölf Spielen spielte Musiala schon ab Dezember des letzten Jahres in der A‑Jugend, nach der Corona-Pause debütierte er für die zweite Mannschaft der Bayern in der dritten Liga. Und am 33. Spieltag der Saison 2019/20 wurde er zum jüngsten Bundesliga-Debütanten der Münchner – nur ein Jahr nach seinem Wechsel zurück nach Deutschland.
Gestern Abend in Rom erzielte Jamal Musiala sein erstes Tor in der Königsklasse. Wenige Minuten nach Abpfiff twitterten die ersten Journalisten, die Entscheidung, ob Musiala für die deutsche oder englische Nationalmannschaft auflaufen wollen würde, sei zugunsten der DFB-Elf gefallen. Bundestrainer Joachim Löw hatte sich im Rahmen des Bundesligaspiels gegen Hoffenheim mit dem Talent getroffen. „Herr Löw hat mir bei diesem Treffen einen sehr klaren Weg für mich in der Nationalmannschaft aufgezeigt“, erklärte Musiala heute in einem Interview mit der Sportschau. Dabei gestand der Spieler, dass ihm die Entscheidung, für welche Nation er in Zukunft spielen wird, nicht leicht gefallen sei: „Es ist ein Gefühl, auf das ich gehört habe. Ein Gefühl, das sich richtig anfühlt, aber auch Zeit gebraucht hat, zu entstehen.“
Eine nahezu überraschende Aussage. Es dürfte das erste Mal in der Karriere des Überfliegers der Fall gewesen sein, dass etwas Zeit gebraucht hat.