Im Gesicht von André Kahle kann man ablesen, was er von dem Ergebnis hält. Soeben hat Atlético Madrid beim FC Schalke 04 mit 1:0 verloren. Enttäuscht rollt Kahle den riesigen Banner seines Fanclubs ein. Er stoppt immer wieder. Schaut müde in die Runde der 150 mitgereisten Fans. Sucht Blickkontakt. Zuckt resigniert mit den Schultern. Irgendwie hatte er sich diesen Tag ein wenig anders vorgestellt. »Soviel Arbeit und dann zeigt unsere Mannschaft so eine Leistung. Typisch Atlético. In wichtigen Spielen verlieren wir immer«, sagt er.
Dabei hätte es der Student wesentlich einfacher haben können. Der gebürtige Hannoveraner lebt in Paderborn. Beide Städte klingen zwar nicht nach großer Fußballbühne – aber er hätte es ja zumindest versuchen können mit dem Fansein. Doch weder Hannover 96 noch der SC Paderborn konnten den 26-jährigen wirklich fesseln. Kahle erklärt, dass sich sein Interesse für Fußball bis 2002 sowieso nur auf die Bundesliga beschränkt hat. Die Ergebnisse am Samstag, ab und zu mal ein Spiel live ansehen, all das genügte ihm bis dahin.
Die WM 2002 hat sein Leben entscheidend verändert. André Kahle meldete sich bei einer Online-Community an und wird virtueller Manager der südkoreanischen Nationalmannschaft. So entwickelte er den Ehrgeiz, jeden Tag Neuigkeiten über das Team herauszufinden. Sein Interesse am Fußball, auch über die Bundesliga hinaus, wuchs. Nach der WM fragten Freunde den Studenten, ob er Lust hätte, einer Community zur spanischen Liga beizutreten. Er bekam die Mannschaft von Atlético Madrid zugelost. »Da war ich überhaupt nicht begeistert. Ich habe sogar kurz überlegt auszusteigen, weil ich kein großes Interesse an einer Mannschaft hatte, die ich überhaupt nicht kannte. Was letztendlich daraus geworden ist, sieht man jetzt!« Man sieht es spätestens, als kurz nach Spielbeginn die Gästefans die Vereinshymne von Atlético anstimmen. Voller Inbrunst singt Kahle jede Zeile mit. Die Leidenschaft für die Rojiblancos, die Rot-Weißen, ist in diesem Moment greifbar. Er erzählt: »Über die Atlético-Hymne habe ich meine ersten Worte Spanisch gelernt. Die Hymne lief bei mir in der Dauerschleife. Ich wusste zwar nicht einmal, was ich genau singe, aber dennoch konnte ich das komplette Lied auswendig.« Der Ehrgeiz hatte ihn gepackt. Mittlerweile spricht er fließend Spanisch.
Zum 100-jährigen Jubiläum von Atlético in der Saison 2002/03 reiste er mit einem Freund in die spanische Hauptstadt: zum Derby gegen Real. Ein freundlicher Spanier, der im Organisationskomitee der Jubiläumsfeierlichkeiten mitarbeitete, nahm die beiden Deutschen bei sich auf und bot ihnen an, bei der Festivität mitzuhelfen. »Eines Abends habe ich mich dann erwischt, wie ich zusammen mit 120.000 fanatischen Fans zum Neptuno-Brunnen gezogen bin, um einen überdimensionalen Fanschal um die Siegesfigur zu legen. 120.000 Menschen feiern ein Riesenfest und wir waren mittendrin. Ein Wahnsinnsgefühl!« Der Atlético-Virus hatte Kahle und seinen Freund nun endgültig im Griff. Wieder in Deutschland angekommen, beschlossen sie den ersten deutschen Atlético-Fanclub zu gründen. Über den neuen Freund aus Spanien stellte man Kontakt zum Verein her. Am Anfang bestand der Peña Atlética Centuria Germana (PACG) aus vier Mitgliedern, heute ist es ein Kreis aus 35 Mitgliedern in ganz Deutschland.
Viele von den Mitgliedern stehen natürlich auch im Gästeblock der Schalker Arena. An ihren Fanclub-Shirts sind sie eindeutig zu erkennen. Ein bunter Haufen, der von einer Gruppe Frankfurter Studenten bis zu einem 75-jährigen Großvater samt Enkelsohn reicht. Sie mischen sich unter die anderen Gästefans. Man kennt sich untereinander und nicht nur hier. Tags zuvor war Kahle mit anderen Atlético-Fans in den Hauptnachrichten des spanischen Fernsehens zu sehen, als Gast auf dem offiziellen Bankett der Vereinsdelegation. Mit am Tisch saß auch Javier Aguirre, der Trainer der Rojiblancos, der Vize-Präsident und andere Offizielle des Vereins. Mittlerweile ist der ungewöhnliche Fanclub im Verein bestens bekannt. Bei einem seiner letzten Besuche in Madrid erkannte der Trainer Kahle und seine Begleiter sofort. »Er hat uns begrüßt mit den Worten: ›Ah, da sind wieder unsere verrückten‹«, schwärmt der 26-Jährige von dem Umgang mit Verantwortlichen und Spielern. Während der Saison fahren immer wieder kleinere Gruppen des PACG zu Spielen von Atlético nach Spanien. Einmal im Jahr gibt es eine große Peña-Tour – mit möglichst vielen Fanclub-Mitgliedern – zum Derby gegen Real oder Barcelona. An Karten kommen sie eigentlich immer. Für das Spiel auf Schalke hat ihnen der Verein auf Anfrage 100 Karten zur Verfügung gestellt.
Die Saison in Spanien startet am 31. August. Dann nimmt auch wieder die Arbeit für den PACG zu. Die Mitglieder verfolgen die Spiele der Rojiblancos meist in Internetstreams und bieten auf ihrer Website einen Liveticker an. Nachberichte und Stimmern von den Pressekonferenzen gehören zum Service des PACG. Durchschnittlich verbringt André Kahle zwei Stunden pro Tag damit, die neuesten Informationen über Atlético zu sammeln und online zu stellen. So wird aus dem anfänglichen Hobby schon fast ein Job. »Ich bin mit 26 Jahren immer noch Student. Das habe ich mit Sicherheit auch Atlético zu verdanken«, fügt er grinsend an. Die akribische Arbeit findet aber auch seine Abnehmer. Durchschnittlich 1000 Besucher hat die Website täglich, an Spieltagen deutlich mehr.
Als der PACG gemeinsam die Arena »Auf Schalke« verlässt, regnet es Bindfäden. Alle hier wissen, dass ihr Atlético verdient verloren hat. Zu wenige Ideen im Spiel nach vorne zeigten die Spanier, fielen phasenweise nur durch Fouls auf. Es wird sehr schwer im Rückspiel, dass wissen alle. Aber André Kahle ist das in dieser Sekunde egal: »Jetzt geht es erstmal nach Hause und morgen früh buchen wir die Flüge für das Rückspiel in Madrid.« Es wird sein 15. Besuch im Stadion Vicente Calderon, sein 15. Heimspiel. Der einzige Unterschied: Zum ersten Mal geht es am 27.08. gegen einen deutschen Klub.
Mehr über die Peña Atlética Centuria Germana findet sich unter www.atleticomadrid.de