Der 33-jährige Sami Khedira wechselt von Juve zu Hertha BSC und soll den schlingernden Berlinern im Abstiegskampf Halt geben. Der Geist des Weltmeisters von 2014 ist offenbar willig, aber ist er für die schwierige Lage auch fit genug?
Fußball ist ein einfaches Spiel, wenn man es zu spielen weiß. Dass sich diese Binse nicht nur auf dem Platz bewahrheitet, sondern auch am grünen Tisch, zeigt der Transfer-Winkelzug, mit dem sich die schlingernde Hertha dieser Tage aus dem gröbsten Übel befreien will. Der Hoffnungsträger heißt Sami Khedira, ein Weltmeister von 2014, der im April 34 Jahre alt wird.
Gern hätte man im Laufe der vergangenen Woche in den Räumen der Geschäftsstelle am Olympiastadion Mäuschen gespielt. Wäre dabei gewesen, als der zurückgekehrte Coach Pál Dárdai mit landestypischem Galgenhumor seinem Ex-Spielkamerad, Interimsmanager Arne Friedrich, sein Leid über die Unausgewogenheit des kostspieligen Kaders klagte, den das Vorgängerduo Preetz und Labbadia ihm da hinterlassen habe. Friedrich tätschelte derweil ein wenig ratlos auf seinem Smartphone herum und irgendwann wird ihm die Idee gekommen sein, seinen Ex-Kollegen Khedira anzuklingeln. So oder ähnlich muss gewesen sein.
Denn mehrfach betonte der ungarische Trainer in zuletzt, dass er zwar überrascht gewesen sei, wie motiviert und gar nicht egoman respektive beratungsresistent die Hertha-Spieler auf ihn gewirkt hätten, als er in die Kabine gekommen sei. Doch nach der 1:3‑Auswärtsniederlage am Samstag in Frankfurt nahm Dárdai auch kein Blatt vor den Mund: „Das ist eine junge Mannschaft“, nahm er seine Profis in Schutz, „sie haben sie zusammengekauft und wahrscheinlich einiges vergessen bei den erfahrenen Spielern.“
Dass da ein paar Leitwölfe fehlen, schwante ihm offenbar schon einige Tage zuvor. Jedenfalls befand sich am Spieltag Sami Khedira bereits auf Besuch in Berlin – trotz coronabedingter Einreisebeschränkungen. Warum auch nicht? Viel größere Erfahrung als mit dem gebürtigen Stuttgarter ist am Markt derzeit kaum einzukaufen. Die Zahlen sprechen für sich: 77 Länderspiele für Deutschland; deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart; Champions-League-Sieger, Meister, Pokalsieger und Klubweltmeister mit Real Madrid; dazu elf nationale Titel mit Juve. Zu seinen großen Zeiten war Khedira das Barometer der besten Mannschaften der Welt. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass er zu den herausragenden deutschen Fußballpersönlichkeiten der vergangenen zwei Dekaden zählt. Ein beschlagener Techniker, taktisch hochintelligent. Einer, der mit einem Pass in die Tiefe wie ein Dirigent ein ganzes Orchester von Galaktischen in Wallung bringen kann. Der aber im richtigen Moment auch für Flaute sorgt, den Fuß auf den Ball stellt und dem Spiel bei einer knappen Führung den Sauerstoff fast vollständig entziehen kann. Etwas, das die Hertha am Samstag in Frankfurt gut hätte gebrauchen können.
Auf dem Papier ist Khedira eine Ideallösung für die drängendsten Probleme der Berliner. Zumal er die Strahlkraft besitzt, die viele vom „Big City Club“ erwarten. Doch der Weltmeister weist auch seit Jahren schon eine hohe Verletzungsanfälligkeit auf. Das Knie, die Adduktoren, das Sprunggelenk, im Jahr 2019 eine OP aufgrund von Herzrhythmusstörungen. Khedira schaut nicht nur auf eine Bilderbuchkarriere zurück, sondern auch auf eine prallgefüllte Krankenakte. Rasantes Tempo konnte er noch nie gehen – und mit den Jahren ist er nicht schneller geworden. Juve Coach Andrea Pirlo, noch so ein begnadeter Taktgeber epochaler Teams zur aktiven Zeit, wird schon wissen, warum Khedira seinen letzten Liga-Einsatz für den italienischen Rekordmeister im November 2019 absolviert hat. Seit März 2020 stand er nicht mal mehr im Kader, nur im Pokal gegen den AC Mailand durfte er für 28 Minuten auf den Platz.
Es ist zumidest ein Wagnis, das der Jungmanager Arne Friedrich eingeht. Denn Khediras Wechsel ist auch der Sprung nach mehr als einem Jahrzehnt bei Spitzenteams des internationalen Fußballs ins Eiswasser des Abstiegskampfs. Kann das gelingen? Seine Strahlkraft wird sich schnell abnutzen, wenn er nicht mit Leistung überzeugen kann. Zumal er in eine Mannschaft aus ambitionierten Jungstars wechselt, die bislang eher als Ich-AGs agiert haben. Diese Profis brauchen Orientierung, sie brauchen Halt und das Gefühl, dass da einer kommt, hinter dem sie im Zweifel auch mal im Halbschatten verschwinden, wenn es nicht läuft. Doch dafür muss Khedira seinen Meriten nun an jedem Wochenende gerecht werden – spätestens bis Hertha BSC den Klassenerhalt geschafft hat.
Ob er diesen Anforderungen mit seinem von einer langen Laufbahn lädierten Körper gerecht werden kann, muss sich erst erweisen. Ob er noch die Kraft hat, voranzugehen. Und auch, ob seine Mentalität und sein Selbstbewusstsein für den belastenden Abstiegskampf taugt. Gut möglich, dass der erste Transfercoup von Arne Friedrich nach hinten losgeht.
Doch sollte Sami Khedira in Berlin seinen dritten Frühling erleben und die Hertha mit seinen erlesenen Talenten aus der Krise navigieren, wäre es nicht nur ein kleines Bundesligamärchen – es wäre womöglich auch der Beginn einer neuen sportlichen Ära am Olympiastadion, die nach dem Abschied der Hertha-Legende Michael Preetz von einer andere Klub-Größe geprägt wird: Arne Friedrich.