Heute wird Arrigo Sacchi 75 Jahre alt. In den Achtzigern revolutionierte er den Fußball. Klopp, Ancelotti oder Guardiola berufen sich auf ihn. Sacchi selbst inspirierte ein Bibliothekar aus einer kleinen Gemeinde in Norditalien.
Woher rührt diese Haltung?
Mein Vater war Lombarde aus Norditalien, er besaß eine Schuhfabrik. Meine Mutter dagegen war aus der Romagna. Zwei total verschiedene Charaktere. Meine Mama war sehr phantasievoll, während mein Vater ein Arbeitstier war, das hat mich natürlich sehr beeinflusst. Mein Vater wollte, dass ich verstehe, was Verdienst bedeutet. Er konnte Geld ausgeben, aber er versuchte, mir nicht alles auf einmal zu geben, nur wenn ich es verdiente. Er hat selbst Fußball gespielt, aber hat mir später nie reingeredet. Bevor er morgens um sechs Uhr in die Fabrik ging, machte er eine halbe Stunde Gymnastik. Ich habe von ihm das Planen, den Willen, Einsatz und Professionalität gelernt.
Glauben Sie an Glück?
Ich glaube nicht an Glück oder Unglück. Der römische Philosoph Seneca sagte: „Glück ist, was passiert, wenn Vorbereitung auf Gelegenheit trifft.“
Wie gewinnt man dann die Champions League?
Guardiola sagt, es braucht Geschichte. Das stimmt. Aber als ich zu Milan kam, hatte der Verein noch keine Geschichte, wir mussten sie schreiben. 1989 spielten wir das Landesmeisterhalbfinale gegen Real Madrid. Bei den Vorbereitungen haben wir alles simuliert, was passieren könnte. Albertini verletzte sich dabei am Knöchel und fiel aus. Ich habe die Mannschaft verändert, Ancelotti auf eine andere Position gestellt und ihm gesagt: „Es ist mir egal, wie du spielst, aber spiel so, wie es die Mannschaft braucht.“ Im Hinterkopf den Satz von Bertolt Brecht: „Ohne Drehbuch gibt es aus dem Moment heraus entwickelte Improvisation.“ Das erste Tor schoss Ancelotti, wir gewannen 5:0.
War auch das Stress? Oder haben solche Spiele Spaß gemacht?
Der Spaß kommt, wenn es dir gelingt, dich im Spiel auszudrücken. Mein Spieler Demetrio Albertini sagte mal: „Was für eine Anstrengung während der Woche, aber was für ein Spaß am Sonntag!“ (Die Serie A spielt sonntags, die Red.)
Von 1991 bis 1996 trainierten Sie die italienische Nationalmannschaft. Bei der WM 1994 war Ihr Team im Achtelfinale gegen Nigeria fast ausgeschieden, aber dann drehte es das Spiel – und kam bis ins Finale. Was war verantwortlich: Ideen, Psychologie oder Geschichte?
Die Geschichte! Damit meine ich, die Kraft eines Landes, die in diesem Moment den Fußball lebt. Wir haben in Unterzahl Neun gegen Elf gespielt! Gianfranco Zola hatte die Rote Karte bekommen, und Roberto Mussi hatte eine Zerrung im Bein.
Was ist mit Stolz?
Auch der Stolz! Ich hatte Spieler aufgestellt, von denen ich wusste, dass sie Kämpfer sind. Mehr noch, sie waren Helden, denn Helden sind die, die alles tun, was sie können. Und das haben sie gemacht. Denn das Gleiche war uns schon gegen Norwegen passiert, dass Gianluca Pagliuca (Torhüter, die Red.) nach 21 Minuten vom Platz flog und wir bei 40 Grad Hitze Zehn gegen Elf durchgespielt und Norwegen 1:0 besiegt haben. Die Mannschaft war fix und fertig, als das Finale kam. Aber da waren dieser Stolz und diese Geschichte, die uns antrieben. Leider ist Italien ein Land, das sich nicht an diesen zweiten Platz erinnert. (Italien verlor das Finale gegen Brasilien im Elfmeterschießen, d. Red.)
„Eine fußballerische Revolution wollte ich nie auslösen“
Ließen Sie die Nationalelf anders spielen als den AC Mailand?
Milan spielte besser als die Nationalmannschaft.
Warum?
Weil ich in einer Saison 300 bis 400 Trainings angesetzt habe. Mit der Squadra Azzurra haben wir höchstens 30 bis 40 Mal im Jahr trainiert. Aus fußballerischer Sicht passiert nie viel bei einer WM.
Sie waren Ihrer Zeit weit voraus. Waren Sie sich dessen bewusst?
Eine fußballerische Revolution wollte ich nie auslösen. Ich wollte die Dinge nur so machen, wie ich sie mir vorstellte. Ganz einfach. Ich wollte meine Werte leben. Wie gesagt: das Verdienst, die Kultur, die Kunst, die Gefühle, das Spektakel, das Miteinbeziehen, die Innovation. Dinge, die den Menschen im Gedächtnis bleiben. Und meine Wenigkeit wollte diese Dinge umsetzen. Man sagte auch mal, dass ich unserer Geschichte widersprechen würde. Ich habe einen kleinen Stein in den Rest der Welt geworfen, in Italien wurde er zur Lawine.
Sie haben ein großes Erbe hinterlassen.
Pep Guardiola hat in vier oder fünf Jahren mit Barcelona 14 Wettbewerbe gewonnen. Man könnte also sagen, er ist besser als ich. Aber er sagte zu mir: „Ich wünsche mir, dass man sich in zwanzig Jahren so an mich erinnert, wie man sich an Sie erinnert.“ Mark Hughes, der ehemalige walisische Nationaltrainer, hat mich gefragt: „Wie haben Sie es geschafft, dieses Milan entstehen zu lassen – ausgerechnet in Italien, dem letzten Land, wo so etwas entstehen konnte? Wenn das Spielfeld zwanzig Kilometer lang wäre, würden wir alle Spieler auf den hinteren zwanzig Metern antreffen.“ Ich antwortete: „Ich habe das in einem ehrgeizigen Verein mit einer wirtschaftlichen Kraft geschafft, mit einer zukunftsnahen Vision, mit einer Gruppe von Spielern, die Professionalität und Persönlichkeit besitzen – und mit Ideen.“
Über Ideen haben wir am Anfang gesprochen. Zum Schluss: Wie sieht so eine zukunftsnahe Vision im heutigen Fußball aus?
Man muss versuchen, mehr in der Zukunft als in der Vergangenheit zu leben. Heute sind viele Italiener nicht zum Pressing fähig, weil wir das letzte Mal bei den Römern vor 2000 Jahren Angreifer waren. Seither haben wir mit Bauernschläue überlebt. Es gibt einen richtigen Widerstand gegen Veränderungen, das ist etwas sehr Negatives in einer so schnellen Welt. Wer so denkt, kann sich der Zukunft nicht annähern. Er wird Pessimist, und wer Pessimist ist, ist nicht mehr kreativ.