Heute wird Arrigo Sacchi 75 Jahre alt. In den Achtzigern revolutionierte er den Fußball. Klopp, Ancelotti oder Guardiola berufen sich auf ihn. Sacchi selbst inspirierte ein Bibliothekar aus einer kleinen Gemeinde in Norditalien.
Wie lernt man das?
Wenn man eine große Leidenschaft und intelligente Begabung hat, ist es leichter, schneller zu sein als die anderen. Aber so wie man die Muskeln trainiert, muss man auch die Neuronen trainieren. In meinen Trainingseinheiten habe ich alles üben lassen, was in einem Spiel passiert, so dass das zentrale Nervensystem der Spieler alles schon mal verdaut hatte und schneller Lösungen fand.
Was für eine Mannschaft fanden Sie vor, als Sie 1987 zum AC Mailand kamen?
Ich traf auf tolle Spieler, aber keiner von ihnen hatte jemals den Europapokal der Landesmeister gewonnen. Milan hatte zehn Jahre keinen Titel geholt. Das neue offensive Spiel hat ihre Spiellust, ihre Zusammenarbeit und ihren vollen Einsatz herausgekitzelt. Als ich Milan trainiert habe, schrieb „L’Equipe“: „Nachdem man dieses Milan gesehen hat, kann der Fußball nicht mehr derselbe sein.“ Unser Spiel hat dazu beigetragen, Synergien zu erzeugen, denn eine Mannschaft hat eine Macht, die ein Einzelspieler niemals haben kann.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir den Halbfinalsieg im Landesmeistercup zwischen dem AC Mailand und dem FC Bayern (4. April 1990, die Red.). Uns fehlten Ruud Gullit, Roberto Donadoni und Carlo Ancelotti. Aber die Ausfälle machten uns nicht schlechter. Am Ende der ersten Halbzeit wurden die Statistiken eingeblendet, Bayern hatte einmal aufs Tor geschossen und wir elfmal. In meinem ersten Jahr bei Milan holten wir die Meisterschaft, obwohl Frank Rijkaard noch an Real Saragossa ausgeliehen war und Marco van Basten von 30 Spielen nur drei durchgespielt hatte, die anderen Partien war er verletzt. Und trotzdem holten wir die Meisterschaft.
Wie nahmen die Fans die neue Mannschaft wahr?
Sie sahen uns als würdigen Sieger. Als ich bei Milan anfing, verkauften wir 30 000 Dauerkarten. Nachdem wir Meister wurde, gingen 66 000 Dauerkarten weg. 2000 Tickets bekamen die Gästefans, und 2000 gingen in den freien Verkauf.
„Lieber Paolo, entschuldige, dass dir mein Training noch immer Albträume beschert“
Milan setzte damals auf Holländer, Inter Mailand vor allem auf Deutsche wie Andreas Brehme, Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann.
Wenn ich an die Deutschen denke, fällt mir immer eine Geschichte meines Freundes Osvaldo Bagnoli ein, der damals Trainer bei Hellas Verona war. Als sie nach Mailand kamen, war zu meiner Verwunderung Thomas Berthold nicht im Kader. Bagnoli erzählte, dass sich Berthold im Trainingslager nachts rausgeschlichen hatte. Vor seine Tür hatte er seine Schuhe gestellt, damit alle dachten, er sei im Zimmer und schlafe.
Aber er feierte die Nacht durch?
Er traf sich mit der Sängerin Loredana Berte. Als Berthold um sechs Uhr morgens zurückkam, wartete Bagnoli schon. Er stellte ihn nie wieder auf.
Sie waren berühmt für Ihr hartes Training. Paolo Maldini hat kürzlich auf einer Podiumsdiskussion in Trento erzählt, dass er immer noch Albträume habe.
(Arrigo Sacchi steht auf und holt sein Smartphone. Er zeigt seine WhatsApp-Konversation mit Maldini, d. Red.) Schauen Sie, ich habe ihm geschrieben: „Lieber Paolo, entschuldige, dass dir mein Training noch immer Albträume beschert. Mein Ziel war ein ganz anderes.“ Er hat geantwortet: „Ciao Arrigo. Entschuldige du mich, dank deines Trainings habe ich gelernt, wie man Fußball spielt.“ Ich war mit den Spielern sehr anspruchsvoll, manchmal auch hart, ich habe viel von ihnen verlangt und ließ sie wahnsinnig viel arbeiten, aber es zahlte sich aus.
Welcher war Ihr größter Sieg?
Der größte Sieg war nicht der Sieg an sich, sondern wie wir gewonnen hatten. Wenn man auf höchstem Niveau trainiert, dann ist nichts so wichtig wie Qualität. Aber es gibt etwas, das noch wichtiger ist: Wenn man auf höchstem Niveau Werte vorlebt, Werte wie das Verdienst, die Kultur, die Kunst, die Gefühle, das Spektakel, das Miteinbeziehen, die Innovation – dann wird man zu einem würdigen Sieger und erwirbt eine moralische Autorität. Den Sieg muss man sich verdient haben.