Heute wird Arrigo Sacchi 75 Jahre alt. In den Achtzigern revolutionierte er den Fußball. Klopp, Ancelotti oder Guardiola berufen sich auf ihn. Sacchi selbst inspirierte ein Bibliothekar aus einer kleinen Gemeinde in Norditalien.
Dieses Interview erschien erstmals in 11FREUNDE #211. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Arrigo Sacchi, wann haben Sie das erste Mal eine Mannschaft trainiert?
Ich war 18 oder 19 Jahre alt. Damals spielte ich für meinen kleinen Heimatverein Fusignano CF. Vor einer Partie plagten mich starke Rückenschmerzen, also sagte ich meinen Einsatz ab. Daraufhin meinte unser Betreuer Alfredo Belletti: „Wenn du nicht spielen kannst, dann mach doch den Trainer!“ Ich sagte ihm, das könne ich nicht. Und er antwortete: „Du wirst schon sehen, dass du das kannst.“
Sie erwähnen Alfredo Belletti immer wieder. Was machte ihn so besonders?
Er war unser Gemeindebibliothekar, ein kultivierter und intelligenter Mensch. Früher hat er große Dirigenten nach Fusignano geholt. Claudio Abbado, Riccardo Muti und andere. Eines Tages klagte ich: „Wir haben keinen Libero und müssen einen kaufen“. Er fragte mich: „Welche Nummer hat ein Libero?“ Ich antwortete: „Die Sechs.“ Daraufhin gab er mir ein Trikot mit der Nummer sechs und sagte: „Wenn du ein guter Trainer bist, dann erschaffe dir einen Libero.“ Er gab mir zu verstehen, dass es kein Geld gab und ein Trainer mit Arbeit und Ideen die eigenen Spieler verbessern muss.
Der Barockkomponist Arcangelo Corelli, der ebenfalls aus Fusignano stammt, sagte: „Die Musik entsteht im Kopf, nicht aus den Instrumenten.“ Sie sagen: „Fußball entsteht im Kopf, nicht in den Beinen.“ Gibt es da eine Verbindung?
Ich habe meine Tätigkeit als Trainer immer wie die eines Kino- oder Theaterregisseurs aufgefasst. Es gibt den, der die Dramen oder Partituren schreibt, und dann gibt es den Regisseur oder Dirigenten. Wenn ein Trainer sagt, dass vor allem die Spieler wichtig sind, dann möchte ich ihn am liebsten fragen: Was sollen die Spieler Ihrer Meinung nach machen? Und wofür erhalten Sie eigentlich Ihr Millionengehalt?
Stimmt es, dass Sie schon vor Ihrer Zeit bei Milan aufhören wollten, als Trainer zu arbeiten?
Als ich 1985 nach meiner Zeit bei Rimini Calcio zum AC Parma ging, habe ich gesagt, ich mache eine Saison, und danach höre ich auf.
Warum?
Ich konnte den Stress nicht mehr so einfach wegstecken. Aber dann stiegen wir in die Serie B auf, und ich dachte: „Ach, ich schaffe noch eine Saison.“ Danach kam Milan.
Das Sie im Pokal mit Parma, damals noch zweitklassig, sensationell geschlagen hatten.
Bis ich zu Milan kam, war das Ziel immer der Klassenerhalt. Und bei Milan ging es darum, ob wir unter den ersten zwei oder den ersten vier sind. 1988 gewannen wir mit Milan die Meisterschaft und zogen in den Europapokal der Landesmeister ein. Da dachte ich wieder: „Den mache ich noch, und danach reicht es.“ Aber es lief weiterhin gut. Als wir 1990 den zweiten Europapokal gewannen, sagte ich dem Präsidenten, dass ich gehe. Er antwortete: „Gehen Sie nach Hause, und erholen Sie sich ein paar Tage.“ Nach zehn Tagen hatte er mich zum Bleiben überredet, aber ich war da schon wie ausgepresst. Ich habe 1973 angefangen und bis 2001 trainiert. Wir sprechen hier von 28 Jahren, in denen ich nie gefeuert wurde und nie abgestiegen bin.
„Der schöne Fußball hat mich inspiriert“
Sie haben viele große Trainer inspiriert wie Jürgen Klopp, Carlo Ancelotti oder Pep Guardiola. Wer hat Sie inspiriert?
Nicht wer, sondern was: der schöne Fußball. Ich habe mir auch Basketball und Rugby zur Inspiration angesehen, aber als Kind war ich verrückt nach Real Madrid mit Alfredo Di Stefano, Ferenc Puskas, José Santamaria. Und ich war verrückt nach der Seleçao, die 1958 in Schweden Weltmeister wurde. Danach gab es einen epochalen Wandel durch die Niederländer. Der Fernseher war zu klein für so ein großes Phänomen. Ajax hat angefangen, Milan ist gefolgt, Guardiola hat mit Barcelona weitergemacht. Ich glaube, dass sich der Fußball dank Guardiola, Sarri, Ancelotti, Klopp und anderen entwickelt.
Sie haben nicht nur das Niveau ihrer Teams verbessert, sondern auch das Niveau der Ligen, in denen sie aktiv sind.
Den Wandel der Niederländer hat auch Johan Cruyff herbeigeführt. Er spielte für Ajax und Barcelona.
War er der ideale Spieler?
Nicht nur er, auch Alfredo Di Stefano. Der ideale Spieler ist ein intelligenter und bescheidener Mensch, der einen Blick für die Mannschaft und Arbeitsethos besitzt. Der selbstlos ist, Leidenschaft und Enthusiasmus hat, der die ganze Zeit mit und für die Mannschaft auf dem ganzen Platz spielt. Wenn er dann noch Talent hat, umso besser. So einer war also Di Stefano. Er baute Mannschaften, mehr noch, er war die Mannschaft. Er war jemand, der die anderen inspirierte und der mit großem Talent auf dem ganzen Platz für und mit der Mannschaft spielte. Die Stärke von Spielern wie Johan Cruyff oder Alfredo Di Stefano war es, immer eine Sekunde schneller zu sein als der Gegenspieler.