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Der wort­karge Herr hinter dem lang­hal­sigen Mikrofon wirkt irgendwie aus der Zeit gefallen. Mit seinem breiten 70er-Jahre-Schnauz­bart der Marke Shaft“ erin­nert er an ver­gan­gene Größen aus der Post-Pelé-Ära wie Cerezo oder Rivelino. Zumal Paulinho auch auf dem Rasen, und das ist aner­ken­nend gemeint, irgendwie Old School ist.

Fast schon kat­zen­haft schlich er sich im ent­schei­denden dritten Grup­pen­match gegen Ser­bien (2:0) von der Mit­tel­linie in Rich­tung Straf­raum, wo ihn Cou­tinhos wohl tem­pe­rierter Lob­pass erreichte. Ein gefühl­voller Heber über Tor­wart Sto­j­kovic, ein Treffer zum 1:0 (36.) und – nein, keine pein­liche Selbst-Insze­nie­rung. Statt vor irgend­einer Kamera den Neymar zu machen, fiel Paulinho lieber dem nächst­besten Mit­spieler in die Arme. Der hieß zufällig Neymar.

Die kleinen Dinge“ machen ihn so wert­voll

Nun sitzt er da, in der inter­na­tio­nalen Pres­se­kon­fe­renz nach dem Ser­bien-Spiel. Paulinho weiß nicht, was er groß sagen soll. Plötz­lich fragt einer, ob er Scha­den­freude emp­finde, weil doch die Deut­schen aus dem Tur­nier geschieden seien. Paulinho, wäh­rend des legen­dären 1:7 vor vier Jahren beim Stand von 0:5 ein­ge­wech­selt, hebt eine Braue: Der Respekt gegen­über Deutsch­land gebietet es, nichts zu sagen.“

Auch als es um die eigene Leis­tung gegen Ser­bien geht, wirkt der Mit­tel­feld­spieler des FC Bar­ce­lona nicht son­der­lich mit­teilsam: Viele Leute denken: Paulinho spielt nur dann gut, wenn er trifft. Aber mein eigent­li­cher Job ist es, der Mann­schaft zu helfen. Das geht weit über das Tore­schießen hinaus und betrifft viele kleine Dinge, die nicht jeder bemerkt.“

Eine Ode an Paulinho

Der­weil sitzt Tite an Paulinhos Seite und hört genüss­lich zu. Für Bra­si­liens Natio­nal­coach sind es näm­lich genau diese kleinen Dinge“, die Paulinho so wert­voll machen: Seine sou­ve­räne Kör­per­sprache, selbst in hit­zigen Par­tien. Seine aus­ba­lan­cierte Art, den Box-to-Box-Player zwi­schen der Vierer-Abwehr­kette und dem illus­tren Dreier-Angriff zu geben. Seine Über­sicht und seine bril­lanten Lauf­wege, auch gegen den Ball. Sein untrüg­li­ches Gespür für die nötigen Tempo- und Rich­tungs­wechsel im Spiel des fünf­ma­ligen Welt­meis­ters. Und: Paulinhos hoch­pro­fes­sio­nelle Reak­tion, als er gegen Ser­bien nach gut einer Stunde für Ersatz­mann Fer­nand­inho wei­chen musste.

Wir haben ver­schie­dene Spie­ler­typen und Cha­rak­tere in unseren Reihen“, sagt Tite. Jeder von ihnen ist wichtig, auch wenn nicht jeder die­selbe öffent­liche Aner­ken­nung bekommt.“ Was klingt, wie ein All­ge­mein­platz, ist in Wahr­heit eine Ode an Paulinho. Fuß­ball“, fügt Tite weise an, funk­tio­niert nur, wenn du Spieler hast, die alles für den gemein­samen Erfolg geben.“

José Paulo Bezerra Maciel Junior, so Paulinhos bür­ger­li­cher Name, ist irgendwie nicht richtig zu fassen: Von den bra­si­lia­ni­schen Fans nicht, weil die ihn spä­tes­tens 2015, nach seinem Wechsel von Tot­tenham zu Guang­zhou Ever­g­rande, abge­schrieben hatten. Von den Geg­nern nicht, weil Paulinhos Lauf- und Pass­wege für nor­mal­sterb­liche Spiel-Ana­lysten min­des­tens so schwer ent­zif­ferbar sind wie das Fach-Chi­ne­sisch in einer Gebrauchs­an­wei­sung für Flug­si­che­rungs-Soft­ware.

Paulinho dechif­frieren? Das kann eigent­lich nur Paulinho selbst. Genau des­halb avan­ciert der 29-Jäh­rige im Schatten schil­lernder Figuren wie Neymar, Gabriel Jesus oder Cou­tinho zum ent­schei­denden Stra­tegen auf dem Weg zum WM-Titel.

Sau­blöde Ver­dammnis

Dabei war Paulinhos Lauf­bahn mehr als ein Jahr­zehnt lang eine ein­zige Anein­an­der­rei­hung von Fehl­griffen und Miss­ver­ständ­nissen. 2006 wurde der damals 18-Jäh­rige – warum auch immer – für zwölf Monate an den FC Vil­nius nach Litauen aus­ge­liehen. Von dort führte ihn die wun­der­same Reise für ein Jahr zu LKS Lodz nach Polen, ehe er die Stol­len­schuhe end­gültig an den Nagel hängen wollte. Paulinho hatte die Schnauze voll vom Vieh­markt Fuß­ball-Busi­ness. Er wollte etwas anderes machen, doch seine Frau ent­geg­nete: Du kannst nichts außer Fuß­ball, du hast nie etwas anderes gelernt.“

Es folgten trost­lose Jahre bei unter­klas­sigen bra­si­lia­ni­schen Klubs wie GO Audax, CA Bra­gan­tino oder MG Coimbra, deren Sta­dien zum Teil weniger als 2.000 Zuschauer fassten. Über Corin­thians Sao Paulo, das Natio­nal­team und eine starke Vor­stel­lung beim Confed-Cup 2013 in Bra­si­lien (zwei Treffer in vier Spielen) nahm Paulinhos Kar­riere doch noch Fahrt auf: Der damals 24-Jäh­rige wech­selte ein Jahr vor der Heim-WM 2014 für rund 20 Mil­lionen Euro nach Tot­tenham, wo er anfangs gefeiert, nach einer sau­blöden Roten Karte gegen Liver­pool jedoch ver­dammt wurde.

Messi schlich auf ihn zu

2015 ging Paulinho als geschei­terter Europa-Legionär zu Guang­zhou Ever­g­rande nach China und legte seine sport­li­chen Ambi­tionen ad acta – so schien es.

Doch der 2016 als Nach­folger von Carlos Dunga instal­lierte Tite holte seinen alten Schütz­ling aus gemein­samen Corin­thians-Zeiten schon bald ins Natio­nal­team zurück. Tite hielt noch immer viel von Paulinhos fuß­bal­le­ri­schen Fähig­keiten – und nicht nur er. Als Bra­si­lien im Juni 2017 im aus­tra­li­schen Mel­bourne ein Test­spiel gegen Argen­ti­nien (0:1) bestritt und Paulinho gerade zum Frei­stoß antreten wollte, schlich Lionel Messi auf ihn zu. Kommst du nach Bar­ce­lona?“, fragte La Pulga“, der Floh. Die ungläu­bige Ant­wort des Bra­si­lia­ners: Wenn ihr mich nehmt.“

Staunen – über sich selbst

Ein paar Wochen später über­wiesen die Kata­lanen 40 Mil­lionen Euro – für einen fast 30-Jäh­rigen aus der Super League“, der bei seiner Vor­stel­lung im Camp Nou nicht einmal gescheit den Ball hoch­halten konnte. Doch das ist längst ver­gessen, denn Paulinho erle­digt auch bei Barca all die kleinen Dinge, die ihn in der Sel­ecao“ so unver­zichtbar machen.

Mit einer bären­starken Saison (neun Tore, drei Assists in La Liga) und dem Gewinn des spa­ni­schen Dou­bles zemen­tierte er seinen Platz in Bra­si­liens Startelf und ver­setzte die Welt, vor allem aber sich selbst, in Staunen: Wenn mir wäh­rend der vor­letzten Saison einer gesagt hätte, dass ich bald darauf in Bar­ce­lona spielen und mich auf die WM vor­be­reiten würde, hätte ich geant­wortet: ›Nie, nie, nie.‹“