Paulinhos Karriere war schon mindestens drei Mal am Ende. Doch der 29-Jährige kam auf wundersame Weise zurück – und ist aktuell Brasiliens wichtigster Mann.
Der wortkarge Herr hinter dem langhalsigen Mikrofon wirkt irgendwie aus der Zeit gefallen. Mit seinem breiten 70er-Jahre-Schnauzbart der Marke „Shaft“ erinnert er an vergangene Größen aus der Post-Pelé-Ära wie Cerezo oder Rivelino. Zumal Paulinho auch auf dem Rasen, und das ist anerkennend gemeint, irgendwie Old School ist.
Fast schon katzenhaft schlich er sich im entscheidenden dritten Gruppenmatch gegen Serbien (2:0) von der Mittellinie in Richtung Strafraum, wo ihn Coutinhos wohl temperierter Lobpass erreichte. Ein gefühlvoller Heber über Torwart Stojkovic, ein Treffer zum 1:0 (36.) und – nein, keine peinliche Selbst-Inszenierung. Statt vor irgendeiner Kamera den Neymar zu machen, fiel Paulinho lieber dem nächstbesten Mitspieler in die Arme. Der hieß zufällig Neymar.
Die „kleinen Dinge“ machen ihn so wertvoll
Nun sitzt er da, in der internationalen Pressekonferenz nach dem Serbien-Spiel. Paulinho weiß nicht, was er groß sagen soll. Plötzlich fragt einer, ob er Schadenfreude empfinde, weil doch die Deutschen aus dem Turnier geschieden seien. Paulinho, während des legendären 1:7 vor vier Jahren beim Stand von 0:5 eingewechselt, hebt eine Braue: „Der Respekt gegenüber Deutschland gebietet es, nichts zu sagen.“
Auch als es um die eigene Leistung gegen Serbien geht, wirkt der Mittelfeldspieler des FC Barcelona nicht sonderlich mitteilsam: „Viele Leute denken: Paulinho spielt nur dann gut, wenn er trifft. Aber mein eigentlicher Job ist es, der Mannschaft zu helfen. Das geht weit über das Toreschießen hinaus und betrifft viele kleine Dinge, die nicht jeder bemerkt.“
Eine Ode an Paulinho
Derweil sitzt Tite an Paulinhos Seite und hört genüsslich zu. Für Brasiliens Nationalcoach sind es nämlich genau diese „kleinen Dinge“, die Paulinho so wertvoll machen: Seine souveräne Körpersprache, selbst in hitzigen Partien. Seine ausbalancierte Art, den Box-to-Box-Player zwischen der Vierer-Abwehrkette und dem illustren Dreier-Angriff zu geben. Seine Übersicht und seine brillanten Laufwege, auch gegen den Ball. Sein untrügliches Gespür für die nötigen Tempo- und Richtungswechsel im Spiel des fünfmaligen Weltmeisters. Und: Paulinhos hochprofessionelle Reaktion, als er gegen Serbien nach gut einer Stunde für Ersatzmann Fernandinho weichen musste.
„Wir haben verschiedene Spielertypen und Charaktere in unseren Reihen“, sagt Tite. „Jeder von ihnen ist wichtig, auch wenn nicht jeder dieselbe öffentliche Anerkennung bekommt.“ Was klingt, wie ein Allgemeinplatz, ist in Wahrheit eine Ode an Paulinho. „Fußball“, fügt Tite weise an, „funktioniert nur, wenn du Spieler hast, die alles für den gemeinsamen Erfolg geben.“
José Paulo Bezerra Maciel Junior, so Paulinhos bürgerlicher Name, ist irgendwie nicht richtig zu fassen: Von den brasilianischen Fans nicht, weil die ihn spätestens 2015, nach seinem Wechsel von Tottenham zu Guangzhou Evergrande, abgeschrieben hatten. Von den Gegnern nicht, weil Paulinhos Lauf- und Passwege für normalsterbliche Spiel-Analysten mindestens so schwer entzifferbar sind wie das Fach-Chinesisch in einer Gebrauchsanweisung für Flugsicherungs-Software.
Paulinho dechiffrieren? Das kann eigentlich nur Paulinho selbst. Genau deshalb avanciert der 29-Jährige im Schatten schillernder Figuren wie Neymar, Gabriel Jesus oder Coutinho zum entscheidenden Strategen auf dem Weg zum WM-Titel.
Saublöde Verdammnis
Dabei war Paulinhos Laufbahn mehr als ein Jahrzehnt lang eine einzige Aneinanderreihung von Fehlgriffen und Missverständnissen. 2006 wurde der damals 18-Jährige – warum auch immer – für zwölf Monate an den FC Vilnius nach Litauen ausgeliehen. Von dort führte ihn die wundersame Reise für ein Jahr zu LKS Lodz nach Polen, ehe er die Stollenschuhe endgültig an den Nagel hängen wollte. Paulinho hatte die Schnauze voll vom Viehmarkt Fußball-Business. Er wollte etwas anderes machen, doch seine Frau entgegnete: „Du kannst nichts außer Fußball, du hast nie etwas anderes gelernt.“
Es folgten trostlose Jahre bei unterklassigen brasilianischen Klubs wie GO Audax, CA Bragantino oder MG Coimbra, deren Stadien zum Teil weniger als 2.000 Zuschauer fassten. Über Corinthians Sao Paulo, das Nationalteam und eine starke Vorstellung beim Confed-Cup 2013 in Brasilien (zwei Treffer in vier Spielen) nahm Paulinhos Karriere doch noch Fahrt auf: Der damals 24-Jährige wechselte ein Jahr vor der Heim-WM 2014 für rund 20 Millionen Euro nach Tottenham, wo er anfangs gefeiert, nach einer saublöden Roten Karte gegen Liverpool jedoch verdammt wurde.
Messi schlich auf ihn zu
2015 ging Paulinho als gescheiterter Europa-Legionär zu Guangzhou Evergrande nach China und legte seine sportlichen Ambitionen ad acta – so schien es.
Doch der 2016 als Nachfolger von Carlos Dunga installierte Tite holte seinen alten Schützling aus gemeinsamen Corinthians-Zeiten schon bald ins Nationalteam zurück. Tite hielt noch immer viel von Paulinhos fußballerischen Fähigkeiten – und nicht nur er. Als Brasilien im Juni 2017 im australischen Melbourne ein Testspiel gegen Argentinien (0:1) bestritt und Paulinho gerade zum Freistoß antreten wollte, schlich Lionel Messi auf ihn zu. „Kommst du nach Barcelona?“, fragte „La Pulga“, der Floh. Die ungläubige Antwort des Brasilianers: „Wenn ihr mich nehmt.“
Staunen – über sich selbst
Ein paar Wochen später überwiesen die Katalanen 40 Millionen Euro – für einen fast 30-Jährigen aus der „Super League“, der bei seiner Vorstellung im Camp Nou nicht einmal gescheit den Ball hochhalten konnte. Doch das ist längst vergessen, denn Paulinho erledigt auch bei Barca all die kleinen Dinge, die ihn in der „Selecao“ so unverzichtbar machen.
Mit einer bärenstarken Saison (neun Tore, drei Assists in La Liga) und dem Gewinn des spanischen Doubles zementierte er seinen Platz in Brasiliens Startelf und versetzte die Welt, vor allem aber sich selbst, in Staunen: „Wenn mir während der vorletzten Saison einer gesagt hätte, dass ich bald darauf in Barcelona spielen und mich auf die WM vorbereiten würde, hätte ich geantwortet: ›Nie, nie, nie.‹“