Wer lässt sich schon gerne in die Seele schauen?

Fuß­ball ist das Spiel der großen Emo­tionen. Es geht um Liebe, Hass, große Nie­der­lagen und große Siege, um Macht und viel Geld. Schieds­richter sind die Ver­walter dieser Emo­tionen. Sie sollen die kühlen Sach­ver­stän­diger sein inmitten von vielen tau­send Zuschauern und 22 Leis­tungs­sport­lern, aus deren Augen Adre­nalin spritzt. Nicht selten ent­scheiden sie über die Emo­tionen. Eine ver­meint­lich fal­sche Ent­schei­dung und all der Mix aus Liebe, Hass, Macht und Geld stürzt auf sie herab wie ein Was­ser­fall.

Ich bin phy­sisch und emo­tional total erschöpft“

Jeder Schieds­richter hat seine eigene Masche, um mit dieser Situa­tion klar zu kommen. Sie alle eint das Poker­face, die wäh­rend dem Spiel zur Schau getra­gene Ganz­kör­per­maske. Sie ist so wichtig wie eine ver­nünftig funk­tio­nie­rende Pfeife. Würden Schieds­richter sich wie Fuß­baller ver­halten, würden sie also ihre Emo­tionen zeigen, wären sie ver­loren. Der Mann, um den es in diesem Text geht, hat mal gesagt: Sonn­tag­abend hatte ich die zwei schwie­rigsten Stunden meiner gesamten Kar­riere. Ich bin phy­sisch und emo­tional total erschöpft.“ Hätte man ihm in diesen zwei Stunden jene innere Extrem­leis­tung auch ange­merkt, wäre sein Auf­tritt in einer Kata­strophe geendet.

Der Mann heißt Howard Webb und ist Schieds­richter. Das heißt, er war es. Der 43-jäh­rige Brite hat am Mitt­woch seine Kar­riere beendet. Es war eine beein­dru­ckende Lauf­bahn als Unpar­tei­ischer. 2008 und 2012 nahm er an der Euro­pa­meis­ter­schaft teil, 2010 und 2014 an den WM-Tur­nieren. 2010 pfiff Webb sowohl das Cham­pions-League-Finale, als auch das WM-End­spiel. Er war einer der besten Schieds­richter seiner Gene­ra­tion. Und gerade weil er so erfolg­reich war, stand er so häufig im Zen­trum jener Mixtur, die weiter oben im Text bereits beschrieben wurde.

Col­lina hatte seine Augen, Webb seinen Körper

Auch Webb hatte seiner Ganz­kör­per­maske. Und was für eine. Mit seiner Glatze, den kan­tigen Gesichts­zügen und dem bul­ligen Körper sah der Poli­zist aus wie einer von diesen Free­figh­tern, die man auf ver­wa­ckelten Videos mit kurzer Hose und Hand­knö­chel­scho­nern durch Käfige prü­geln sieht. Dazu der strenger Ober­lehrer-Blick, den Schieds­richter ver­mut­lich schon im Kin­des­alter vor dem Spiegel üben. Gute Schieds­richter haben neben ihren Talenten auch kör­per­liche Pfunde, mit denen sie im Zweifel wuchern können. Pier­luigi Col­lina ver­schafften Glatze und James-Bond-Böse­wicht-Augen Respekt, der vier­fache Welt­schieds­richter Sandor Puhl aus Ungarn sah aus wie der gute Kumpel von nebenan, man konnte ihm nicht wirk­lich böse werden. Howard Webb sieht aus wie jemand, den man lieber nicht reizen möchte.

Was Webb aber so beson­ders gemacht hat, war etwas anderes. Er hat sich in die Seele schauen lassen. Viel­leicht tat er das nicht unbe­dingt frei­willig, aber er hat es geschehen lassen. Vor der EM 2008 erklärte er sich bereit, am Film­pro­jekt Refe­rees at work“ aktiv mit­zu­wirken. Frei­wil­lige Tur­nier­schieds­richter wurden mit einem Headset aus­ge­stattet, das die Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen den Unpar­tei­ischen doku­men­tierte. Der Deut­sche Her­bert Fandel lehnte das damals ab, Webb war dabei. Da konnte er ja noch nicht wissen, was pas­sieren würde.

Er wollte wohl zeigen, dass er ein großer Junge ist“

Webb war Spiel­leiter der Grup­pen­partie zwi­schen Öster­reich und Polen. Kurz vor dem Ende gab er den Gast­ge­bern einen zumin­dest frag­wür­digen Straf­stoß, die Polen flogen aus dem Tur­nier. Nach dem Spiel sah man Polens Natio­nal­trainer mit wüsten Beschimp­fungen in Rich­tung der Schieds­richter in die Kabine stürmen. Später sagte er: Er wollte wohl zeigen, dass er ein großer Junge ist.“ Im Film sieht man Webb Stunden nach dem Spiel am Bier fest­ge­klam­mert. In seinem Gesicht spie­gelt sich wider, was der Kopf gerade ver­ar­beitet. Es geht natür­lich um die zen­trale Frage eines jeden Schieds­rich­ters: Lag ich richtig, oder falsch? Auf dem Platz hatte man Webb diese Unsi­cher­heit noch nicht ange­sehen.

In den Tagen nach dem Spiel musste der Eng­länder erstaun­lich hef­tige Reak­tionen ertragen. Pol­ni­sche Bou­le­vard­blätter druckten maka­bere Todes­an­zeigen von Webb und pro­vo­zierten damit Droh­an­rufe von auf­ge­brachten Polen beim ver­hassten Schieds­richter. Selbst Min­s­ter­prä­si­dent Donald Tusk ließ sich zu der Aus­sage hin­reißen, dass er sich nach dem Spiel so gefühlt habe, als müsse er gleich jemanden umbringen. So gro­tesk wurde der Shit­s­torm, dass die Polizei einen 62-jäh­rigen Inge­nieur namens Howard Webb schützen musste, weil der zufällig eben­falls aus dem Hei­matort des Schieds­rich­ters stammte und von wütenden Fans bedroht worden war.

Weiter machen. Trotz Todes­dro­hungen

Einem Freund ver­traute Webb später an, dass er in dieser Zeit ernst­haft dar­über nach­ge­dacht habe, die Schieds­rich­terei sein zu lassen. Was macht es auch für einen Sinn, wenn man für eine Elf­me­ter­ent­schei­dung mit dem Tode bedroht wird?

Webb machte weiter. Zwei Jahre später stand er wieder mitten im Orkan.

Dem Schieds­richter war die Ehre zuteil geworden, das WM-Finale 2010 zu pfeifen. Beim Spiel Spa­nien gegen Hol­land ver­loren die Spieler die Kon­trolle über ihre Emo­tionen, Howard Webb gelang es nicht, diese Kon­trolle wieder her­zu­stellen. Am Ende hatte er zwölfmal Gelb gezeigt, einmal Gelb-Rot. Mark van Bom­mels Attacke von hinten hätte einen Platz­ver­weis ver­dient gehabt, der üble Tritt von Nigel de Jong in die Brust von Xabi Alonso gar eine Sperre für viele Spiele.

Webb ließ damals beide auf dem Platz – und musste sich nach dem Spiel den­noch gefallen lassen, von den unter­le­genen Hol­län­dern als Haupt­schul­diger für die Nie­der­lage ver­ur­teilt zu werden. Von allen Seiten hagelte es Kritik. Sky-Experte Stefan Effen­berg nannte die nicht mit Rot geahn­dete Szene von de Jong eine kata­stro­phale Fehl­ent­schei­dung“. Selbst Webbs Schieds­richter-Kol­lege Javier Cas­trilli, 1998 WM-Teil­nehmer, urteilte auf der Tri­büne: Was Webb pfeift, ist kri­mi­nell!“ Das Webbs Frau Kay vor dem Finale in einem Inter­view halb im Spaß ver­raten hatte, dass ihr Mann nicht mal seine Kinder kon­trol­lieren könne, sie also keine Ahnung davon habe, wie er das auf dem Fuß­ball­platz hand­habe, war für die Kri­tiker natür­lich ein gefun­denes Fressen.

Das Finale als Höl­len­ritt“

Erbar­mungslos zeich­neten die Kameras später Webbs langen Gang zur Medail­len­über­gabe auf. Das Sta­dion pfiff sich die Finger wund, die Offi­zi­ellen schienen nicht zu gratu‑, son­dern zu kon­do­lieren. 11FREUNDE-Redak­teur Jens Kirschneck hat dafür in einem älteren Text die pas­senden Worte gefunden: Als Webb die Treppe zur Ehren­tri­büne hoch­stieg, sah er aus, als käme er direkt aus dem Krieg.“ Der Betrof­fene selber bezeich­nete seine Arbeit im Finale als Höl­len­ritt“. Und sprach jenen Satz, der am Anfang dieses Textes bereits zitiert worden ist.

Jetzt hat Webb seine Kar­riere beendet. Viel­leicht wollte er sich wie Philipp Lahm auf dem Höhe­punkt seiner Lauf­bahn ver­ab­schieden. 2013 wurde er zum zweiten Mal zum Welt­schieds­richter“ gekürt. Und bei der WM 2014 war er eben­falls dabei. Seine Leis­tung im so unglaub­lich inten­siven Ach­tel­fi­nale zwi­schen Bra­si­lien und Chile wurde von allen Seiten in höchsten Tönen gelobt. Aber eigent­lich hat man diesmal gar nicht so viel mit­be­kommen von Howard Webb. Keine Todes­dro­hungen, kein Hass aus Hol­land, kein wütender pol­ni­scher Natio­nal­trainer, kein pfei­fendes Sta­dion. Howard Webb musste sich diesmal nicht in die Seele schauen lassen. Es gab keinen Grund dafür. Es inter­es­sierte nie­manden, weil er ein­fach nicht auf­fiel.

Ein schö­neres Kom­pli­ment kann es für einen Schieds­richter ja eigent­lich nicht geben.