Vor 25 Jahren wurde ein holländischer Schiedsrichter zum doppelten Pionier – als Ikone der Schwulenbewegung und als Mann vor dem Monitor.
Vor fünfzehn Jahren, im August 2006, starb der ehemalige holländische Schiedsrichter John Blankenstein an den Folgen einer Hepatitis-C-Erkrankung. In den Wochen und Monaten nach seinem frühen Tod – Blankenstein war erst 57 Jahre alt – gab es viele Nachrufe und postume Ehrungen, sogar eine Stiftung wurde ins Leben gerufen, die seinen Namen trägt. Die große Aufmerksamkeit und Anteilnahme kam daher, dass der Niederländer schon damals als Pionier wahrgenommen wurde, und zwar für die Gleichberechtigung von Homosexuellen.
Schon recht früh in seiner Laufbahn als Referee, nach eigenen Angaben zu Beginn der achtziger Jahre, hatte Blankenstein in einem Gespräch mit Journalisten eine Art Coming-out ganz nebenbei. „Als ich neu im Profifußball war, wurde ich in Interviews gefragt, ob ich verheiratet bin. Ich habe ganz offen geantwortet: ‚Nein, ich bin schwul‘ – schon war es öffentlich“, sagte er dem deutschen Magazin „Rund“ kurz vor seinem Tod. „Ich hatte nichts mehr zu verbergen, und das war ein gutes Gefühl. Diese Ehrlichkeit wurde in Holland sehr positiv aufgenommen. Ich wurde nie angefeindet.“
Trotz dieser erfreulichen Reaktionen hatte Blankenstein zeitlebens das Gefühl, dass seine Sexualität ihm Nachteile im Fußball brachte. Bei einer Podiumsdiskussion erzählte er mal, dass er nicht zur WM 1990 fahren durfte, weil ein Funktionär behauptet hatte, Blankenstein wäre drei Jahre zuvor im Ausgehanzug der FIFA in einer Schwulenbar gewesen. Und obwohl er 1994 von der UEFA schon für das Champions-League-Finale zwischen dem AC Mailand und dem FC Barcelona nominiert gewesen war, entzog man ihm diese Partie kurzfristig wieder. Blankenstein hatte nie einen Zweifel, warum der Verband diese Entscheidung traf. Im Nachlass des Holländers fanden sich seine Reiseunterlagen, auf die er in roten Druckbuchstaben das Wort „Mafia“ geschrieben hatte.
Trendsetter für die Fanszenen? Schon 1994 bezeichnete Blankenburg die UEFA als „Mafia“.
(Man muss aber fairerweise sagen, dass die offizielle Erklärung der UEFA auch nicht von der Hand zu weisen ist. Silvio Berlusconi vom AC Mailand hatte sich nämlich darüber beschwert, dass ein Niederländer den FC Barcelona pfeifen sollte, dessen Trainer Johan Cruyff hieß und der mit Ronald Koeman auflief. Nur wenige Monate vorher hatte Blankenstein ein Spiel des AC Parma wieder abgeben müssen, weil bei den Italienern gleich acht Spieler mit Gelb vorbelastet waren – und Parma eine Runde später gegen Ajax Amsterdam antreten sollte.)
Blankenstein leitete mehr als 500 Profispiele, darunter fast 90 internationale Begegnungen und viele bedeutende Partien. Obwohl er der einzige offen homosexuelle Referee war, kann man seinen Karriereweg als geradezu typisch bezeichnen. Im Mai 1986 durfte er zum ersten Mal das holländische Pokalfinale leiten, ein Jahr später pfiff er das Halbfinale der U16-WM. Bei der EM 1988 in Deutschland kam Blankenstein dann als Linienrichter zum Einsatz, im September 1990 war er beim letzten Länderspiel der DDR (gegen Belgien) an der Pfeife. Bei der EM 1992 in Schweden konnte er sich als Hauptschiedsrichter beweisen, im Mai 1993 vertraute man ihm das Rückspiel um den UEFA-Cup zwischen Juventus Turin und Borussia Dortmund an.
Doch das spektakulärste Spiel seiner Schiedsrichterkarriere fand in gewisser Weise erst statt, nachdem Blankenstein offiziell in den Ruhestand getreten war. Besagte Partie ging auf den holländischen Trainer Jan Rekers zurück, dessen größter Erfolg der Meistertitel 1985 mit PSV Eindhoven gewesen war. Im Jahre 1996 schlug jener Rekers dem Verband vor, ein ganz besonderes Testspiel abzuhalten. Getestet werden sollten dabei nicht Spieler oder Trainer oder Unparteiische – sondern die moderne Technologie.
Die Partie wurde im Winter 1996 in Eindhoven ausgetragen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit trat ein Team mit holländischen Profis aus den drei Topklubs Ajax, PSV und Feyenoord gegen eine Auswahl von ausländischen Spielern der Ehrendivision an. Zwar waren keine Zuschauer zugegen, trotzdem wurde jeder Schritt der Sportler beäugt. Insgesamt 18 Kameras filmten das Geschehen und schickten die Bilder in einen Regieraum auf der Tribüne. Dort saß John Blankenstein und überprüfte als erster VAR der Geschichte das Geschehen auf dem Rasen. Er konnte jederzeit mit Hauptschiedsrichter Jaap Uilenberg in Kontakt treten, denn dieser war komplett verkabelt.
Das ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen, denn die von der holländischen Trainervereinigung als „Wedstrijd van de toekomst“ angekündigte Partie würde selbst heute noch als „Wettkampf der Zukunft“ durchgehen. So war Uilenbergs Stoppuhr mit der Stadionuhr gekoppelt, die bei jeder längeren Unterbrechung angehalten wurde. Im Gürtel des Referee befand sich ein Laser, der bei Freistößen den Abstand der Mauer auf den Zentimeter genau anzeigte. Selbst den Ball kann man auch ein Vierteljahrhundert später noch futuristisch nennen, denn er war infrarot-reflektierend.
Dazu gab es – man möchte sagen: natürlich – auch all die Dinge, an die wir uns inzwischen gewöhnen mussten. Als Alternative zur heutigen Torlinientechnik waren kleine Objektive in Latte und Pfosten eingelassen, die Uilenberg sofort Meldung machten, wenn der Ball die Linie überquerte. Und dank spezieller Kameras, die von ausgebildeten Ballistikern perfekt positioniert worden waren, hatte VAR Blankenstein bei Abseitsentscheidungen jene weißen Hilfsstriche zur Verfügung, die wir kalibrierte Linien nennen.
„Wir sprechen hier doch schon noch über Fußball, oder?“
Zehn Tage vor Weihnachten wurden die Ergebnisse des Experiments auf einer Tagung in Brüssel präsentiert. Louis van Gaal äußerte sich begeistert über das Spiel, das die ausländischen Kicker 4:3 gewonnen hatten. „Vielleicht hat jetzt die Revolution begonnen“, sagte er. „Das Spiel ist zu schnell für das menschliche Auge geworden. Es werden immer mehr Spiele durch Fehler der Schiedsrichter entschieden. Ich sage nicht, dass sie unfehlbar sein müssen. Aber neun von zehn Mal müssen sie schon recht haben.“ Auch Ronald Koeman, der bei der Partie mitgespielt hatte, äußerte sich durchaus positiv, besonders gut gefiel ihm der Abstandsmesser bei Freistößen. „Ich verspreche mir so mehr Tore“, sagte er. Die Trainervereinigung forderte derweil, technische Hilfsmittel schon zur EM 2000 zuzulassen, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
Wenn 1996 alle so angetan waren, warum dauerte es dann noch rund zwei Jahrzehnte, bis Blankenstein einen Nachfolger bekam? Nun, weil eben nicht alle so überzeugt von der Zukunft waren. Vor allem ein Mann, dessen Wort sehr viel Gewicht hatte, sah die Sache kritisch. „Ronald, du brauchst doch keinen Abstandsmesser!“, rief Johan Cruyff. Rhetorisch fragte er in die Runde: „Wir sprechen hier doch schon noch über Fußball, oder?“ Wie Falk Madeja in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb: „Cruyff, der die meiste Zeit den Kopf schüttelte, hatte schon zur Hälfte der Veranstaltung genug gehört und verließ seinen Platz im Podium.“ Im Grunde war damit jede Diskussion über den Videobeweis beendet. Zumindest für eine ganze Weile.