In der westlichen Peripherie Neapels steht das Stadio San Paolo, Heimspielstätte des SSC Neapel. Alt und marode wirkend sorgt das Stadion für den Charme, den Fußballromantiker so lieben. Es weckt Erinnerungen an die großen Spiele und die guten Zeiten des italienischen Fußballs – ebenso wie an die schlechten.
In den vergangenen Dekaden wurde das Stadion immer wieder renoviert und dabei verkleinert. Im Sommer 2019 schrumpfte die Kapazität des in die Jahre gekommenen Fußballtempels auf 55.000. In den Zeiten Maradonas waren es bei Ligaspielen noch 85.000. Doch wenn am heutigen Abend die Mannschaften Genks und Neapels an der Mittellinie die Champions-League-Hymne genießen werden, werden auf den Rängen vermutlich nur ca. 25.000 Zuschauer Platz nehmen. Denn während die Mannschaft von Trainer Carlo Ancelotti in einem wichtigen Spiel um das Weiterkommen in der Champions-League kämpft, scheinen die Entscheidungen im Verein längst gefallen, die Spannung verflogen und die Begeisterung rund um das Team in den letzten Spielen erloschen. Für Ancelotti, das scheint immer deutlicher zu werden, werden es vermutlich die letzten Minuten im San Paolo als Trainer des SSC Neapel werden.
Der Lieblingsschüler als Nachfolger
In den vergangenen Wochen legte das Team Neapels eine beispiellose Negativserie hin. Am 19. Oktober heimste Ancelotti mit seiner Mannschaft den vorerst letzten Sieg in einem Ligaspiel ein. Seitdem rutschten die Mannen in Hellblau von Platz vier auf Platz sieben ab. Sieben Unentschieden und zwei Niederlagen in den letzten sieben Ligaspielen setzten die Mannschaft, vor allem aber ihren Trainer zunehmend unter Druck. Die Streitigkeiten zwischen Präsident Aurelio De Laurentiis und Spielern über das vom Präsidenten eigens einberufene Trainingslager taten ihr übrigens zu der sportlich ausgelösten Krisenstimmung in Süditalien. Und so tritt Ancelotti das heutige Spiel mit dem Wissen an, dass sich in De Laurentiis Kopf schon alles geregelt haben dürfte und ein Nachfolger für den 60-jährigen Italiener schon gefunden scheint. Ausgerechnet ein ehemaliger Schützling Ancelottis, Gennaro Gattuso, gilt in den Gazetten des Landes als aussichtsreichster Kandidat, um seinen ehemaligen Ziehvater vom Leid an der Seitenlinie zu erlösen.
Das es überhaupt zu solch einer kuriosen und desaströsen Situation rund um das San Paolo gekommen ist, ist die Folge von zahlreichen Enttäuschungen bei allen Beteiligten.
Gestiegene Ansprüche
Denn im Frühsommer 2019 waren die Vorzeichen für die zweite Saison Ancelottis noch ganz andere. Der Mann, der einst mit Real Madrid, Paris-Saint-Germain, vor allem aber den AC Milan Titel gewann, hatte mit seinem Team eine gute Premierensaison absolviert und sich im Meisterschaftsrennen lange Zeit als ärgster Konkurrent Juventus Turins präsentierte. Auch in der Champions-League zeigte sich die Mannschaft in den Duellen mit den Top-Teams Europas auf Augenhöhe. Am letzten Spieltag der Gruppenphase verhinderte lediglich Liverpools Millionenschwerer Neuzugang Alisson mit einer Giga-Parade den Ausgleich Neapels und besiegelte damit das frühe Gruppenaus der Italiener.
Neapel startete in der Folge hoffnungsvoll in die neue Saison. Die Ansprüche stiegen, weil man sich zum einen in den Duellen mit den großen Teams bewiesen hatte, mit Ancelotti aber auch einen klangvollen Namen in das San Paolo gelockt hatte, der nun in seiner zweiten Saison unter Beweis stellen sollte, warum er zu den erfolgreichsten Trainer der Welt gehörte.
Die neue Erwartungshaltung, der neue Anspruch in Süditalien spiegelte sich auch auf dem Transfermarkt wieder. Anders als im Vorjahr, in dem man mit Jorginho noch das zentrale Hirn der Mannschaft unter Sarri verloren hatte, um im Winter gleich auch Kapitän Marek Hamsik ziehen zu lassen, musste man im Hochsommer Italiens keinerlei Verluste von Leistungsträgern hinnehmen. Darüber hinaus geisterten immer wieder prominente Namen durch die Gassen Neapels. Ancelotti machte keinen Hehl daraus, mit James Rodriguez nicht nur seinen Lieblingsschüler nach Neapel locken zu wollen, sondern sich auch einen internationalen Topstar für sein Team zu wünschen. Der wie sauer Bier angebotene Mauro Icardi weckte bei den Fans der Neapolitaner die Sehnsucht nach einem echten Knipser. Einer wie es Gonzalo Higuain gewesen war. Die Gier nach Mehr war spürbar.