Was Rudi Völler ist, wissen wir: Er ist der Weltmeister, Tante Käthe, der Weißbier-Choleriker, Bayer-04-Sportdirektor forever. Was wir nicht wissen: Wer verbirgt sich hinter der Fassade des Nationalheiligtums „Ruuudi“? Ein Erklärungsversuch zum 60. Geburtstag.
Fußballidole sind Projektionsflächen. Größer als das Universum, tiefer als der Marianengraben. Rudi Völler hat früh verstanden, dass es nur böse enden kann, wenn er anfängt, sich allzu viel Gedanken darüber zu machen, was die Leute in ihm, dem zurückhaltenden Drehersohn aus Hanau, sehen könnten. Also ließ er es bleiben und konzentrierte sich ganz aufs Wesentliche: aufs Toreschießen. Die Fähigkeit, alle Nebengeräusche des Profigeschäfts aufzublenden, machten aus ihm einen Weltmeister, einen Torschützenkönig in diversen Spielklassen, einen Champions-League-Sieger.
Wie ein Mofarocker an der Schießbude düpierte er schon früh die gegnerischen Keeper. Völler war ein Fließbandarbeiter in Sachen Maschen. Wie beim Scheibenschießen – peng, peng & peng! Allein in seinen ersten 100 Spielen für den SV Werder traf er unglaubliche 73 Mal. Wenn es ein typisches Völler-Tor gibt, dann ist es diese synkopische Rechts-Links-Kombination, die sein Kopf vollzog, wenn der Ball halbhoch in den Strafraum segelte und er mit der vollen Überzeugung des Strafraum-Vermessers in leichter Rücklage „Ja!“ sagte – und mit einer Dynamik einnickte, die andere Profis höchstens beim Spannschuss entwickelten.
Und weil er nicht redete, sondern machte, weil er nicht – wie etwa sein langjähriger Nationalelf-Wegbegleiter Lothar Matthäus – versuchte, schlauer daherzukommen als er ist, wurde ihm neben bedeutenden Titeln die wohl größte Ehre zuteil, die einem Fußballer zuteil werden kann: Völler wurde zur Marke. Der ganze Stolz des Trademarks „Made in Germany“. Und schon bald Eigentum des Volkes. Völler wurde, ist und bleibt wohl auf ewig: Ruuudi. Der Prototyp. Das Unikat. Wird nicht mehr gebaut. Der „Ein’n Rudi Völler“.
Im deutschen Fußball gibt es außer ihm nur drei lebende Exemplare dieser seltenen Spezies. Uns Uwe, Poldi, Schweini. Typen, hinter denen sich die ganze Nation versammeln kann. Spieler, die selbst bei Fans anderer Klubs automatisch Beschützerinstinkte wecken.
Klaus Augenthaler kann ein Lied davon singen. Nachdem er im Liga-Spiel 1985 in München den durchstarteten Völler rasierte und sich dieser im Sinkflug einen Adduktorenabriss zuzog, der ihn fünf Monate außer Gefecht setzte, bekam der Bayern-Verteidiger reihenweise Morddrohungen. Bis heute will Augenthaler nicht über den Vorfall sprechen, der ihn zu einem der meistgehassten Deutschen in dieser Zeit machte und das Verhältnis zwischen dem SV Werder und den Bayern auf Jahre vergiftete. Auch Frank Rijkaard hatte sich den Falschen ausgesucht, um einem Gegenspieler im WM-Achtelfinale 1990 mit seinem Speichel das Haupthaar zu benetzen. Kohler, Matthäus, Berthold, Illgner, das wäre vielleicht noch gegangen. Aber Ruuudi?! Wie kann man nur!
Zwei Unsportlichkeiten, zweifelsohne, aber zu Skandalen von historischen Ausmaßen wurden sie erst, weil das Opfer in beiden Fällen Völler hieß, der Inbegriff des allürenfreien Sportsmanns.
Auch nach seiner aktiven Karriere erhielt er sich den freundlichen Zauber des Idols aus der Nachbarschaft. Nationalcoach Erich Ribbeck wurde nach dem Vorrundenaus bei der EM 2000 geprügelt, als hätte es den Status des „Sirs“ nie gegeben. Als Teamchef Rudi Völler 2004 derselbe Faux-Pas unterlief, schlenderte er schulterzuckend in die Kurve und kaum dort angekommen skandierten die deutschen Fans bereits: „Ein’n Rudi Völler…“. Von einem Denkmal wie Ruuudi blättert selbst die tristeste Schmach wie ein Spritzer trockener Taubenkot ab.
Er hat es clever gemacht. In seiner aktiven Zeit wurden keinerlei Eskapaden, keine geifernde Besserwissereien von ihm aktenkundig. Ein Grund für seine beständige Bodenhaftung war Otto Rehhagel, dem es gelang, als Bremer Spiritus Rector selbst Canaillen von besonderer Güteklasse (z.B. Uli Borowka) im Zaum zu halten. Von ihm ließ sich Völler gern zum Weltstar schleifen. Die einzige Extrovertiertheit, die er sich in seinen 19 Profijahren gönnte, war der pudelartige Minipli, den er in späteren Jahren gräulich tönte, was ihn trotz (oder gerade wegen) seines festgetackerten Oberlippenbarts wie eine Baumarkt-Kassiererin aus der südsächsischen Provinz aussehen ließ. Mitspieler formulierten es etwas charmanter – und machten ihn aus einer Laune heraus zu Tante Käthe.