Wir bauen unsere Seite für dich um. Klicke hier für mehr Informationen.

Es ist warm und die Sonne scheint herr­lich an diesem Pfingst­sonntag bei der Ach­tel­fi­nal­be­geg­nung zwi­schen Bra­si­lien und Polen bei der Fuß­ball-WM 1938 in Straß­burg. Der schwe­di­sche Schieds­richter Eklind hat soeben zur Halb­zeit im Sta­dion La Meinau gepfiffen. Die fran­zö­si­schen Zuschauer sind aus dem Häus­chen, sie ver­ab­schieden ins­be­son­dere die Bra­si­lianer mit ste­henden Ova­tionen in die Sta­dion-Kata­komben. Der tosende Bei­fall ist der Dank für eine gran­diose Leis­tung der Bra­si­lianer, die mit 3:1 führen. Ins­be­son­dere wegen des leicht­fü­ßigen Mit­tel­stür­mers Leô­nidas da Silva geraten die Ränge ins Schwärmen. Der schwarze Ball­künstler narrt mit immer wieder neuen Tricks und einer unglaub­li­chen Leicht­fü­ßig­keit die pol­ni­schen Abwehr­re­cken. Bereits in der 18. Minute bringt er die Seleção mit 1:0 in Füh­rung. Immer aufs Neue huscht er an seinen Gegen­spie­lern vorbei. Wenn er hoch­springt, scheint er feder­leicht zu sein. Trotzdem bringt er mit Geschick den Ball in jeder Lage unter Kon­trolle. Er macht mit dem Ball, was er will. Mit einem uner­hört schnellen Antritt lässt er jeden Gegner um einige Meter hinter sich, um dann mit plat­zierten Schüssen den Tor­hüter der Polen in Ver­le­gen­heit zu bringen.

José Leô­nidas da Silva wurde am 6. Sep­tember 1913 in Bom­sucesso, einem Vorort von Rio de Janeiro, geboren. Seine sport­liche Kar­riere begann mit 16 Jahren beim São Cris­tovao FR, bereits mit 19 debü­tierte er in der bra­si­lia­ni­schen Natio­nal­mann­schaft. Nach einigen Sta­tionen bei ver­schie­denen Fuß­ball­clubs in Rio wech­selte er 1933 zum Star­club Peñarol Mon­te­video ins Nach­bar­land Uru­guay. Peñarol hatte Bra­si­liens jungen Wun­der­stürmer 1932 beim 2:1‑Sieg der Bra­si­lianer gegen Uru­guay in Augen­schein nehmen können und war von seinem spek­ta­ku­lären Sieg­treffer begeis­tert. Den Uru­gu­ayern gefielen seine her­vor­ra­gende Ball­füh­rung und seine elas­ti­sche Wen­dig­keit. Diese her­aus­ra­genden akro­ba­ti­schen Fähig­keiten brachten ihm schnell den Spitz­namen homem bor­racha“, Gum­mi­mann ein. Er galt zudem als der Erfinder des klas­si­schen Fall­rück­zie­hers. Diese hals­bre­che­ri­sche Technik, die er per­fekt und spie­lend beherrschte und auch in Frank­reich bei der WM 1938 dem stau­nenden Publikum prä­sen­tierte, wird noch heute in Bra­si­lien bici­c­leta“, Fahrrad genannt.

Doch lange hielt er es in der Fremde nicht aus. Das Heimweh trieb ihn zurück in seine Hei­mat­stadt Rio de Janeiro, wo er nach­ein­ander die Farben von Vasco da Gama, Bota­fogo und Fla­mengo ver­trat. In der Natio­nal­mann­schaft absol­vierte er 25 Län­der­spiele und schoss dabei 25 Tore. Eine Quote, die nicht einmal Pelé schaffte. Seine Fuß­ball-Kar­riere setzte er 1942 nach einem sport­lich wenig erfolg­rei­chen Jahr bei Fla­mengo nun beim FC São Paulo fort. Der krän­kelnde Verein wollte mit dem damals teu­ersten Transfer der bra­si­lia­ni­schen Klub­ge­schichte die Tal­fahrt beenden, was sich als gelun­gener Coup erwies. Bis 1949 holten die Pau­listas“ fünf Stadt­meis­ter­schaften, die sie auch dem in die Jahre gekom­menen Alt­star zu ver­danken hatten.

Wäh­rend in Straß­burg die Zuschauer der zweiten Hälfte ent­ge­gen­fie­bern, ziehen urplötz­lich schwarze Gewit­ter­wolken auf. Ein orkan­ar­tiger Sturm wir­belt Sand und Laub auf, grelle Blitze erhellen den Himmel um das alt­ehr­wür­dige Straß­burger Münster. Donner grollt und ein Unwetter bricht los. Der Wol­ken­bruch durch­nässt nicht nur die bedau­erns­werten Zuschauer, son­dern ver­wan­delt das Spiel­feld in einen See. Schieds­richter Eklind sieht sich ob dieser Natur­ge­walten gezwungen die Halb­zeit­pause zu ver­län­gern. Als der Unpar­tei­ische nach einer halben Stunde die Partie wieder anpfeift, ist die Gewit­ter­front zwar in Rich­tung Schwarz­wald abge­zogen, aller­dings regnet es weiter beständig auf Zuschauer und Spieler her­nieder. Der Platz gleicht einer glit­schigen und schmie­rigen Lehm­grube.

Ich mir vor wie ein neu­ge­bo­renes Kind!“

Den Bra­si­lia­nern wird diese Rutsch­bahn zum Ver­hängnis, da sie sich auf dem unge­wohnten Geläuf nicht zurecht­finden. Auch Leô­nidas schlit­tert wie betrunken über den glatten Rasen. Er erin­nerte sich 1963, ein Vier­tel­jahr­hun­dert später, an diese denk­wür­digen Momente: Es war jener Tag, an dem es don­nerte und blitzte und wir nicht mehr ein und aus wussten, weil der Platz über­schwemmt war und wir auf diesem Ter­rain keinen Halt mehr fanden.“ Die gegen das Rut­schen auf­ge­klebten Leder­streifen unter den Schuh­sohlen der Bra­si­lianer lösen sich langsam ab. Wütend zieht Leô­nidas sein Schuhe aus und will barfuß weiter spielen, was Schieds­richter Eklind jedoch nicht zulässt. Ich sehe noch immer den langen Schieds­richter vor mir, der von mir ver­langte, dass ich sofort wieder meine Schuhe und Strümpfe anziehe. Ich hatte mich ihrer ent­le­digt, weil ich mir vorkam wie ein neu­ge­bo­renes Kind – es war ein­fach unmög­lich, sich dort zu bewegen. Sooft man sich drehen wollte, rutschten einem die Beine weg.“

Die Polen kommen mit dem durch­nässten Platz wesent­lich besser zurecht. Sie haben die Hilf­lo­sig­keit der Süd­ame­ri­kaner rasch erkannt und nehmen das Spiel­ge­schehen nun in die Hand. In kurzer Zeit holen sie den Vor­sprung der Bra­si­lianer auf. Der über­ra­gende Ernst Wil­li­mowski bringt die Polen mit zwei Toren nach einer Stunde wieder zurück ins Spiel. 3:3! All­mäh­lich hellt sich der Himmel jedoch wieder auf und die Sonne zeigt sich über dem Sta­dion. Mit den Son­nen­strahlen ver­schwinden auch die Was­ser­la­chen auf dem Platz und sofort finden die Bra­si­lianer wieder zu ihrem Rhythmus. Nach einer herr­li­chen Kom­bi­na­tion gehen die Ball­künstler wieder in Füh­rung. Mit der Sonne am Himmel scheint der Sieg nun wieder sicher zu sein. Doch die Polen werfen nun alles nach vorn. In der letzten Minute gleicht Wil­li­mowski mit einer Ein­zel­ak­tion erneut zum 4:4 aus und erzwingt quasi mit dem letzten Schuss die Ver­län­ge­rung.

Der große Favorit aus Übersee“ wie die Ber­liner Fuß­ball­woche vor der WM geti­telt hatte, war nun schon bei der ersten Begeg­nung in Frank­reich ins Strau­cheln geraten. Dabei hatten die Bra­si­lianer im Vor­feld dieser WM nichts unver­sucht gelassen, um das kläg­liche Abschneiden bei den beiden vor­an­ge­gan­genen Welt­meis­ter­schaften ver­gessen zu machen. Der mit dem Erst­runden-Aus­scheiden von 1930 und 1934 ram­po­nierte Ruf der bra­si­lia­ni­schen Fuß­ball­kunst sollte in Europa gründ­lich auf­po­liert werden. Bereits im April 1938 reiste die Seleção nach Frank­reich und machte im elsäs­si­schen Nie­der­bronn Quar­tier. Die Akkli­ma­ti­sie­rung und das Trai­nings­lager dau­erten meh­rere Wochen. Die bra­si­lia­ni­sche Regie­rung unter Prä­si­dent Getulio Vargas über­nahm alle Kosten der Fuß­ball-Expe­di­tion nach Europa. Der Popu­list Vargas unter­stützte die Natio­nal­mann­schaft finan­ziell, da sie seiner Politik der Bra­si­lia­ni­dade“, der Bil­dung der bra­si­lia­ni­schen Nation, för­der­lich war. Im pro­fes­sio­nellen Fuß­ball sah er ein zweck­mä­ßiges poli­ti­sches Instru­ment. Der Estado Novo“, der neue bra­si­lia­ni­sche Staat, den er zu formen gedachte, sollte den bisher wild wach­senden Fuß­ball ein­glie­dern und aus dem Volk von Weißen, Schwarzen und Indi­ge­nias eine Nation bilden. Davon pro­fi­tierten vor allem die Schwarzen, denen der Fuß­ball nun Auf­stiegs­chancen bot.

Der weiße Eli­te­s­port Bra­si­liens, der bis in die zwan­ziger Jahre alle Schwarzen aus­ge­schlossen hatte, ent­wi­ckelte sich nun mit dieser multi-eth­ni­schen Mischung zu einer neuen gesell­schaft­li­chen Kraft, die die Ras­sen­schranken ein­zu­reißen begann. Als sich diese gemischte Seleção auf den Weg zur Welt­meis­ter­schaft nach Frank­reich machte, packte das ganze Land eine Auf­bruch­stim­mung. Im Mit­tel­punkt der Begeis­te­rung standen die schwarzen Stars der Seleção, der 1,92 Meter große Ver­tei­diger Dom­ingos da Guia und eben Leô­nidas da Silva. Ihnen waren in Frank­reich tolle Geschichten und wahre Wun­der­dinge vor­aus­ge­eilt, die nun im Matsch von Straß­burg zu einer Per­si­flage zu ver­kommen drohten.

Mit Mut gegen das Unwetter

Die Pause zur Ver­län­ge­rung nutzen die Bra­si­lianer für eine inten­sive Aus­sprache unter­ein­ander. Sie spre­chen sich Mut zu, sie wollen unbe­dingt gewinnen, da sonst bei einem Unent­schieden ein Wie­der­ho­lungs­spiel unver­meidbar wäre. Als der Regen auf­hört, schlägt die Stunde des groß­artig auf­spie­lenden Leô­nidas. Er findet nun zur gewohnten Sicher­heit seiner Ball­zau­berei zurück, die ihn schon in der ersten Halb­zeit aus­zeich­nete. Mit zwei wei­teren Toren besiegt er die Polen, die nur noch ein Tor erzielen können, mit 6:5 fast im Allein­gang. Es war ein tolles Spiel. Ich rechne es zu den auf­re­gendsten, die ich je gemacht habe. Ich war nicht schlecht, auch wenn es so lange gedauert hat, bis ich wieder zu mir selbst fand, nachdem uns der Wol­ken­bruch das ganze Kon­zept durch­kreuzt hatte“, erin­nerte sich Leô­nidas.

Ins­be­son­dere sein drittes Tor an diesem Tag sorgt für Ver­zü­ckung. In der Nähe des Anstoß­kreises schnappt er sich das Leder, umdrib­belt in Hoch­ge­schwin­dig­keit drei pol­ni­sche Abwehr­spieler und schießt hart und über­ra­schend den Ball unter die Latte. Die über 13.000 Zuschauer im Sta­dion La Meinau geraten ins Staunen. Ein Jour­na­list schrieb: Die Leute waren sprachlos. Die meisten euro­päi­schen Sport­jour­na­listen, die geglaubt hatten, dass es für sie auf dem Spiel­feld nichts Neues mehr zu sehen gab, waren wie erstarrt und ver­wirrt, manche riefen nur noch Bravo! Bravo! Bravo!“ Die fran­zö­si­sche Sport­zei­tung Paris Match“ urteilte gar über Leô­nidas: Dieser Gum­mi­mann ver­fügt am Boden und in der Luft über die dia­bo­li­sche Gabe, den Ball in jeder Lage zu kon­trol­lieren und Gewalt­schüsse abzu­geben, wenn es nie­mand erwartet.“ Die Zei­tung sprach fortan voller Bewun­de­rung und Respekt vor diesem Ball­zau­berer vom Le dia­mant noir“, dem schwarzen Dia­manten.

Kein Welt­meister – aber Tor­schüt­zen­könig

Bra­si­lien glaubte sich nun auf dem Weg zum Titel. In zwei Vier­tel­fi­nal­be­geg­nungen wurde der amtie­rende Vize­welt­meister Tsche­cho­slo­wakei aus dem Tur­nier geworfen, Leô­nidas glänzte mit zwei Toren. Im fol­genden Halb­fi­nal­spiel gegen Ita­lien traf Natio­nal­trainer Ademar Pimenta jedoch eine fol­gen­schwere Ent­schei­dung: Er ver­zich­tete auf den im Spiel gegen die Tsche­cho­slo­waken ange­schla­genen Leô­nidas, und das rächte sich prompt. Bra­si­lien verlor das Spiel mit 1:2 und wurde nur WM-Dritter. Im Spiel um Platz 3 gegen die Schweden lief Leô­nidas wieder auf und trug mit zwei Toren zum 4:2‑Sieg über Schweden bei. Am Ende des Tur­niers durfte sich der Aus­nah­me­stürmer mit dem Titel des WM-Tor­schüt­zen­kö­nigs schmü­cken. Sieben Tore hatte er in vier Spielen für die Seleção erzielt.

Bei seiner Rück­kehr nach Bra­si­lien wurde Leô­nidas mit Ehr­be­kun­dungen über­häuft. Er star­tete eine Kar­riere, die man als die eines frühen Pop-Stars des Fuß­balls bezeichnen kann. Der mode­be­wusste Leô­nidas ver­dingte sich neben dem Fuß­ball als Werbe-Ikone, war Besitzer eines Möbel­ge­schäftes und tauchte in Illus­trierten sowie bei gesell­schaft­li­chen Anlässen auf. Nach seiner Sport­kar­riere avan­cierte er zu einem der berühm­testen Sport­re­porter, der mit seinen leben­digen Radio- und später Fernseh-Kom­men­taren eine bei­spiel­lose Fol­ge­kar­riere hin­legte. In Rio wurde er nicht nur von den Schwarzen ver­göt­tert. Auch die rei­chen jungen Damen der Ober­schicht umringten den WM-Star, sobald sich der ele­gante Leô­nidas auf den Straßen Rios zeigte. Einer seiner Werbe-Deals hat sogar bis heute Bestand: Der Süß­wa­ren­her­steller Lacta wid­mete ihm zu Ehren 1940 einen Scho­ko­riegel mit dem in Frank­reich erkämpften Namen Dia­mante Negro“. Der Riegel ver­kauft sich bis heute glän­zend. Aller­dings ver­diente Leô­nidas daran keinen ein­zigen Cru­zeiro.

Wie damals in Frank­reich 1938 ver­zückt der Dia­mante Negro“ noch heute seine Lieb­haber. Doch nicht nur mit diesem Lecker­bissen bleibt der 2004 ver­stor­bene Leô­nidas da Silva der Nach­welt in Erin­ne­rung. Son­dern viel­mehr mit einer denk­wür­digen WM, die mit einem Gewitter-Krimi in Straß­burg begann.