Von „Big City Club“ mag Hertha BSC weit entfernt sein. Das 1:1 gegen Wolfsburg zeigt allerdings, dass die Mannschaft sich positiv entwickelt. Fünf Beobachtungen zur Hertha.
Etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass Investor Lars Windhorst der Welt seine Vision verkündete: Hertha BSC solle ein „Big City Club“ werden. Viele Hertha-Fans dürften sich heute wünschen, er hätte den Begriff nie genutzt. Die Bezeichnung „Big City Club“ wird nur noch von Medien und gegnerischen Fans genutzt, um sich über die Hertha lustig zu machen. Zu groß ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nach sechs Spieltagen, in denen die Berliner gerade einmal vier Punkte geholt haben.
Herthas Verantwortliche werden nicht müde zu betonen, dass die Berliner eben kein „Big City Club“ sind – egal, wie viele Millionen-Transfers Windhorst finanziert. Sie sagen, die Mannschaft befinde sich in einem Umbruch, der Zeit brauche. Doch wie weit fortgeschritten ist dieser Prozess? Fünf Beobachtungen zum Hauptstadt-Klub.
1. Auf der Suche nach der Stammelf
Als Bruno Labbadia Herthas Trainerposten übernahm, befand sich der Klub vor dem Abgrund. Nach der turbulenten Klinsmann-Episode und den bleiernen Wochen unter Alexander Nouri stand Labbadia vor der Aufgabe, den Klub vor dem Abstieg zu retten. Ihm gelang es, indem er auf eine klare Stammelf mit viel Erfahrung setzte.
Die meisten dieser erfahrenen Spieler haben den Verein verlassen. Wortführer wie Vedad Ibisevic oder Per Skjelbred hinterließen Lücken. Hertha füllte diese zwar mit teuren Transfers. Dennoch hat Labbadia noch keine feste Elf gefunden, auf die er vertrauen kann. Er beklagte gerade nach den ersten Spieltagen immer wieder, dass seine Mannschaft zu leise sei. Es mangele an Kommunikation auf dem Platz. Eine Hierarchie müsse sich erst noch herausbilden.
Das liegt zum einen an Verletzungen. So fehlt mit Jordan Torunarigha eine Säule in der Innenverteidigung. Zum anderen braucht es auf vielen Positionen noch Feintuning. So hat die Hertha viele offensivstarke Spieler verpflichtet; Akteure wie Deyovaisio Zeefuik und Mattéo Guendouzi stehen für ihren Vorwärtsdrang. Das beißt sich aktuell noch mit Labbadias Spielphilosophie, die eigentlich auf hoher Positionstreue sowie einem gut abgestimmten Pressing fußt.
Nach sechs Spieltagen kristallisiert sich so langsam eine Startelf heraus: So schickte Labbadia beim 1:1 gegen Wolfsburg dieselben elf Spieler auf den Rasen wie bei der 1:2‑Niederlage gegen Leipzig.
2. Bruno Labbadia bekommt Stabilität in die Mannschaft
Herthas schwacher Saisonstart lag in erster Linie an der Defensive. 13 Gegentore haben die Berliner bereits kassiert, mehr haben nur Mainz (18) und Schalke (20) zugelassen. Doch das Team arbeitet an den Schwächen: Zuletzt standen die Berliner defensiv wesentlich stabiler als an den ersten Spieltagen.
Trainer Labbadia setzt auf Kompaktheit. Zu Saisonbeginn hatte er noch mit einer Raute experimentiert, um die offensiven Stärken seines Teams zur Geltung zu bringen. Mittlerweile setzt er auf ein klares 4−4−2. Zwei Viererketten sollen den Raum verdichten, gerade im Mittelfeld darf sich der Gegner nicht entfalten.
Es fällt auf, dass die Berliner im Spiel gegen den Ball wesentlich robuster agieren. So setzt Labbadia mit Niklas Stark einen defensiv starken, aber wenig kreativen Spieler als Sechser ein. Die Defensive geht derzeit vor – und das stabilisiert die Mannschaft. Bereits gegen Leipzig (1:2) hat sie über weite Strecken (ab der 50. Minute mit einem Mann weniger) gut verteidigt. Auch Wolfsburg kam am Sonntagabend nur zu wenigen Chancen.
3. Auf der Suche nach der Balance
Labbadias größte Schwierigkeit dürfte die Frage darstellen, wie er die neu gewonnene defensive Stabilität verbindet mit offensiver Durchschlagskraft. So wirbelte die Hertha gegen Wolfsburg gerade in der zweiten Halbzeit, als der eingewechselte Guendouzi die Position im zentralen Mittelfeld offensiv interpretierte.
Den wenig durchschlagskräftigen Wolfsburgern gelang es nicht, die durchaus vorhandenen Lücken im zentralen Mittelfeld zu bespielen. Labbadia wird weiter an der Balance arbeiten müssen.
4. Alles geht über Cunha
Ein Herthaner Offensivspieler sticht bei fast allen Statistiken heraus: Matheus Cunha. Er hat die drittmeisten Schüsse aller Bundesliga-Spieler abgegeben und die siebtmeisten Schüsse vorbereitet. Zusammen gerechnet war kein anderer Spieler an mehr Torschüssen beteiligt. Und als wäre das nicht genug, führt er auch noch die Statistik mit den meisten Dribblings an.
Cunha ist Dreh- und Angelpunkt des Herthaner Offensivspiels. Er nimmt sich viele Freiheiten, bewegt sich häufig zum Ball und fordert ständig Zuspiele. An guten Tagen beflügelt er das Hertha-Spiel; so gegen Wolfsburg, als er Berlins einzigen Treffer erzielte. An schlechten Tagen schadet sein teilweise wildes und noch unausgereiftes Spiel der Mannschaft. Auch das zeigt sich in der Statistik: Nur Stuttgarts Orel Mangala hat in dieser Saison häufiger den Ball verloren als der Brasilianer.
5. Die Hertha hat Geschwindigkeit – muss sie aber noch besser nutzen
Trotz Cunhas Überpräsenz wäre es falsch, bei der Hertha von einer One-Man-Show zu sprechen. Die Partie gegen Wolfsburg hat gezeigt, welches Potential in der Offensive schlummert.
Der Kauf vieler junger Talente beschert dem Team eine neue Stärke: Geschwindigkeit. Über die Flügel kann die Hertha schnelle Gegenangriffe starten, sobald sie den Ball gewinnen. Jhon Cordoba ist für diese Tempo-Gegenstöße der ideale Stürmer, verfügt er doch zugleich über eine hohe Geschwindigkeit sowie einen guten Riecher für den richtigen Laufweg.
Auch wenn es gegen Wolfsburg trotz zahlreicher guter Chancen nicht zum Sieg gereicht hat: Labbadia kann auf der neu gewonnenen Stabilität und der hohen Geschwindigkeit seiner Mannschaft aufbauen. Vielleicht gelingt es Labbadia so, die Saison in die richtigen Bahnen zu lenken. Das mag die „Big City Club“-Spötter nicht verstummen lassen; Den genügsamen Fans und den Verantwortlichen bei der Hertha aber dürfte das fürs Erste genügen.