Heute wird einer der ganz großen Spieler des vergangenen Jahrzehnts 30 Jahre alt: Thiago Alcántara. Einst trafen wir ihn zu einem ausführlichen Gespräch. Über Heimatgefühle, zudringliche Fans und die heimliche Sehnsucht, auf dem Oktoberfest zünftig abzufeiern.
Das interview erschien erstmal im Dezember 2018 in 11FREUNDE #205. Das Heft findet ihr hier. Mittlerweile hat Thiago mit den Bayern die Champions League gewonnen – und Deutschland verlassen. Aktuell steht er beim FC Liverpool unter Vertrag.
Thiago Alcântara, was bedeutet Heimat für Sie?
Meine Heimat ist Vigo.
Ihre Eltern stammen aus Brasilien, Ihr Vater hat zwischen 1996 und 2000 für Celta Vigo gespielt. Aber Sie sind in Italien geboren und bereits mit neun Jahren nach Elche gezogen.
Aber in Vigo habe ich meine Kindheit verbracht. Meine ältesten Freunde leben dort. Auch zu den Nachbarn von damals habe ich noch Kontakt. Wenn ich nach Vigo komme, habe ich das Gefühl, so sein zu können, wie ich wirklich bin.
Das heißt?
Ein Leben ohne Filter zu führen. Ich kenne die Menschen, seit ich fünf Jahre alt bin.
Wie oft sind Sie noch dort?
Wenn es die Zeit erlaubt, drei, vier Mal im Jahr. Vigo liegt im Nordwesten Spaniens, es ist nicht ganz einfach dorthin zu gelangen. Sie stehen schon Ihr ganzes Leben in der Öffentlichkeit.
Ihr Vater ist Mazinho, der 1994 mit Brasilien Weltmeister wurde, Ihre Mutter eine bekannte brasilianische Volleyballspielerin. Sie galten schon mit 14 Jahren als Hoffnungsträger im Nachwuchs des FC Barcelona. Leben Sie in einer Blase?
Natürlich besteht diese Gefahr. Aber ich sehe es so: Der Sport hat mir in meinem Leben mehr Türen geöffnet als verschlossen. Meine Realität ist Fußball. Und deshalb versuche ich, Physis und Geist voll und ganz auf diesen Sport auszurichten.
Und das reicht, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren?
Auch Sie werden danach bewertet, was Sie tun. Wenn Sie sich Gedanken machen, was und wie sie etwas schreiben, müssen Sie sich in ein Verhältnis zur Gesellschaft setzen. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich eher selten Interviews gebe: Ich möchte danach beurteilt werden, was ich auch dem Rasen tue.
Aber Fußball ist eine Unterhaltungsindustrie, da gehört die Show dazu.
Ein Sport, der vielen Menschen Spaß macht. Das stimmt. Wir wissen beide, dass sich im Profifußball fast alles verkaufen lässt. Aber Fußball ist auch ein zentraler Bestandteil des Lebens. Da draußen gibt es Millionen, deren Gefühlsleben stark davon abhängt, ob ihr Team am Wochenende gewinnt. So gesehen trage ich als Spieler auch Verantwortung.
In welchen Augenblicken wird Ihnen das bewusst?
Ich habe Freunde, die für ihr Team leben. Die Tattoos ihres Klubs oder von Messi und Ronaldo auf dem Arm tragen.
Haben Sie dennoch Probleme, das normale Leben zu verstehen?
Ich hoffe nicht. Ich musste mir schon als 14-Jähriger viele Dinge verkneifen, die andere auslebten. Ich habe schon als Junge fast alles diesem Job untergeordnet. So etwas macht niemand, der nicht versteht, warum er es tut.
Als Spross einer Sportlerfamilie wurden Sie sehr leistungsorientiert erzogen.
Aber meinen Sie, dass macht es mir leichter, mit 14 Jahren von zuhause wegzugehen, um im tauschend Kilometer entfernten Barcelona Fußball zu spielen?
Sie kennen zumindest seit Ihrer Kindheit das Leben auf Koffern. Sie wurden in Italien geboren, wuchsen in Sao Paulo, in Vigo und Elche auf und zogen mit zehn Jahren nach Rio de Janeiro.
Natürlich waren wir viel unterwegs, aber dennoch war es stets unser Ziel, das Leben einer normalen Familie zu führen. Oft stehen Kindern populärer und erfolgreicher Menschen im Schatten der Eltern.
Was haben Ihre Eltern richtig gemacht, damit es bei Ihnen anders lief?
Gute Frage. Ein Vorteil ist zweifellos die Gabe, die unsere Eltern meinem Bruder und mir mitgegeben haben. Aber darauf hatten sie nur bedingt Einfluss. Ansonsten sind wir von beiden sehr genau auf eine professionelle Karriere vorbereitet worden.
Das wird bei anderen Sportlerkindern ähnlich sein.
Das Problem ist, dass mit Erfolg oft auch Reichtum einher geht, der es Kindern ermöglicht, einfacher durchs Leben zu kommen als die Eltern, die sich alles erarbeiten mussten.
Sie meinen, viele wachsen ohne das entscheidende Quäntchen Ehrgeiz auf.
Natürlich sind auch wir sehr komfortabel aufgewachsen. Aber mein Bruder und ich wussten, was unsere Eltern für ihren Erfolg gemacht haben. Und damit meine ich nicht nur, dass unser Vater uns zeigte, wie man Freistöße schießt oder verteidigt, sondern auch wie sein tägliches Leben verläuft: Wie er sich ernährt, wofür er Geld ausgibt, wie er mit anderen umgeht.
Waren Sie je in Gefahr, den nötigen Ehrgeiz zu verlieren?
Natürlich hadert man, wenn die Freunde in jungen Jahren ausgehen. Und mit 18 kann man seinem Körper noch die eine oder andere Party zumuten.
Selbst wenn man für den FC Barcelona spielt?
Manche auch noch mit 20. Vielleicht nicht am Tag direkt vor dem Spiel, aber ich kenne einige, die zumindest zwei Tage vorher abends noch loszogen. Mit 23, 24 Jahren wird das schwierig. Und wenn sie 31, 32 sind – und vielleicht schon ein paar Trophäen im Schrank haben – wird es noch anstrengender, sich den inneren Hunger zu bewahren. Dann ist es wichtig, dass der Körper mitmacht.
Wie lernt ein Mensch wie Sie, echte und von falschen Freunden zu unterscheiden?
Schon als Kind konnte genau ich beobachten, welche Leute meinen Vater umgaben. In jungen Jahren entwickelt man ein Gefühl dafür, wer die echten Freunde sind und wer nicht.
Und woran erkennt man das?
Bauchgefühl.
Lässt der Profifußball echte Freundschaften zu?
Zwei meiner besten Freunde sind aktive Spieler.
Von wem sprechen Sie?
Rodrigo kenne ich noch aus meiner Zeit in Rio, wir kamen gemeinsam nach Spanien und spielen jetzt zusammen in der Nationalelf. Mit Jonathan dos Santos habe ich bei Barça gespielt und wir haben guten Kontakt, auch wenn er jetzt für Los Angeles Galaxy spielt.
Viele Profis sagen, das Business mache es schwer, Freundschaften zu schließen.
Natürlich macht einen das Geschäft misstrauisch. In Topklubs kommen Menschen zusammen, die sich nicht kennen, die miteinander konkurrieren, und oft nicht dieselbe Sprache sprechen. Aber eigentlich ist es gar nicht schwer: Denn als Team müssen wir füreinander einstehen, wenn wir Erfolg haben wollen. Wir verbringen jeden Tag zusammen, teilen dieselben Erfahrungen und sind in einem ähnlichen Alter.
Tun sich deutsche Spieler da schwerer?
Es fällt jedem leichter, zu Menschen aus einem ähnlichen Kulturkreis Beziehungen aufzubauen. Aber als ich 2013 nach München kam, wurde ich hier sehr positiv empfangen.
Wie rezipieren Sie die deutschen Medien?
Ehrlich gesagt, ich lese lieber Bücher als Tageszeitungen und Magazine. Mich faszinieren Menschen, die die Phantasie haben, eigene Welten zu erschaffen.
Es gibt Leute geben, die glauben, Journalisten hätten diese Fähigkeit auch? (Lacht.) Sie haben Recht. Aber ich habe großen Respekt vor der Arbeit von Journalisten. Auch weil ich weiß, dass Erfolge Kritik schnell wieder verstummen lassen.
Lesen Sie die Bild?
Nein, aber natürlich reden wir in der Kabine darüber, was in Zeitungen über uns steht.
Und wie kam das in den krisenhaften Wochen in dieser Saison an?
Wissen Sie, es ist doch auch in unserem Interesse, gut zu spielen und das Glücksgefühl, das Siege in einem Fußballer hervorrufen, zurückzuholen.
Wie wichtig sind Titel für Ihr Leben? Schon mit 20 holten Sie mit dem FC Barcelona die Champions League.
Im Sport und im Leben geht es doch nicht nur um Titel.
Sondern?
Darum, sich Ziele zu setzen und zu erreichen. Das kann auch bedeuten, dass ich mir vornehme, mich besser zu ernähren oder im nächsten Training fünf Tore zu erzielen. Keine Ahnung, ob es mir gelingt, aber schaffen will ich es. Aber bevor ich fünf erziele, muss ich erst mal eins machen.
Sie sprechen in Rätseln.
Es geht im Fußball darum, sich ständig individuell zu verbessern. Lerne ich dazu, wirkt es sich auf den Erfolg des Teams aus. Titel sind das Letzte, woran ein Profi denken sollte.
Woran sonst?
Daran, der Beste im Team zu sein, der beste Spieler der Stadt, der beste des Landes. Wenn jeder so denkt, kommen Trophäen von ganz allein. Ich bin der Überzeugung, dass das Maximum an Erfolg, das ein Sportler erreichen kann, nur im Teamsport möglich ist. Weil hier so viele individuelle Faktoren passen müssen.
In der Führungsetage des FC Bayern ist der Gewinn der Champions League dennoch das zentrale Ziel.
Ein Verein muss sich an solchen Dingen orientieren. Aber es gibt neun, zehn andere Klubs in Europa, die ebenfalls das Ziel und die Möglichkeiten haben, es zu erreichen.
Die WM 2014 haben Sie wegen einer Knieverletzung verpasst, bei der WM 2018 schieden Sie mit Spanien unglücklich im Achtelfinale gegen Russland aus. Könnte es passieren, dass als Profi ein Unvollendeter bleiben?
Meine Laufbahn bleibt doch nicht unvollendet, nur weil ich einen bestimmten Titel nicht hole. Eine Karriere ist unvollendet, wenn ein Spieler sich verletzt und vorzeitig aufhören muss oder weil er Mist baut, sich mit einem Teamkollegen prügelt und deshalb suspendiert wird.
Wären Sie fünf Jahre früher zur Welt gekommen, hätten Sie Teil der Goldenen Generation des spanischen Fußballs sein können.
Aus meiner Sicht haben wir auch jetzt außergewöhnlichen Akteure in der Nationalelf: Koké, Daniel Carvajal, Saul, Isco sind Spieler, die sich auf höchstem Level bewegen und noch sehr viel erreichen können. Der Mix stimmt. Und wir wachsen immer mehr zusammen.
Allerdings sind Sie bei der nächsten WM bereits 31 Jahre alt?
Aber 31 ist doch noch kein Alter. (Lacht.)
Thiago Alcântara, Sie spielen jetzt Ihre siebte Saison in München.
Ich hätte auch nie gedacht, dass ich so lange bleibe.
Warum ist es so gekommen?
Wenn ich einen Vertrag unterschreibe, denke ich im Rahmen der Laufzeit. Im Fußball geht alles so schnell, niemand weiß, was darüber hinaus passiert. Aber schnell stellte sich heraus, dass es in München passt und meine Familie sich wohl fühlt. Und jetzt habe ich einen Vertrag bis 2021.
Was im Profifußball nichts mehr bedeutet.
Mir ist schon wichtig, meine Verträge zu erfüllen.
Könnten Sie sich vorstellen, in München alt zu werden?
Zeigen Sie mir einen Fußballer, der sagt: Hier werde ich mein ganzes Leben verbringen.
Wie denken Sie? Dass ich hier guten Fußball spielen will. Was soll ich über die nächste Saison nachdenken? Junge Fußballer träumen oft davon, bei dem Verein als zu werden, bei dem sie groß geworden sind. In meinem Fall ist das Barcelona, bei Basti, Philipp und Thomas der FC Bayern. Aber wenn Profi dann woanders unterschreibt, denkt er nur noch von Saison zu Saison.
Uli Hoeneß ist es gelungen, dass im Laufe der Jahre sogar der Franzose Franck Ribéry München inzwischen als Heimat verstand.
Dafür ist nicht allein Uli Hoeneß verantwortlich, sondern die gesamte Situation. Franck spielt seit Jahren großartigen Fußball, die Menschen lieben ihn dafür. Und das hat dazu geführt, dass Franck in München große Freiheit empfunden hat. Seine Familie fühlt sich wohl, er hatte einen großartigen Klub im Hintergrund. So ein Gefühl von Heimat resultiert aus einer Vielzahl von Erfahrungen.
Bei Ihnen reichen die Erfahrungen noch nicht aus?
Ich weiß nicht, ob ich in München, in Barcelona oder Rio leben werde. Momentan ist am Wahrscheinlichsten, dass ich nach meiner Laufbahn zurück Barcelona gehe, weil meine Frau von dort stammt. Aber man weiß nie.
Und Vigo?
Eher nicht, dort regnet es zu oft.
Im März 2014 verletzten Sie sich im Spiel gegen die TSG Hoffenheim am Innenband des rechten Knie. In der Folge mussten Sie drei Mal operiert werden und kamen erst ein Jahr später zurück. Wie hat diese Zeit Ihre Perspektive auf den FC Bayern geprägt?
Das war ein verlorenes Jahr, aber es war großartig zu erleben, wie ein verletzter Spieler hier unterstützt wird. Der Verein hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass man mit mir plant.
Damals klangen Sie sehr niedergeschlagen. Als Sie im Oktober 2014 erneut unters Messer mussten, sagten Sie: „Warum immer ich?“
Wer hätte das zu diesem Zeitpunkt nicht gesagt? 2014 war eine Katastrophe.
Sind Sie ein grüblerischer Typ?
Ich denke schon viel nach, auch auf dem Rasen. Manchmal vielleicht zu viel, um das Optimale aus den Möglichkeiten zu machen. Aber ich bin mir auch im Klaren darüber, was für ein glückliches Leben ich führe. Denn ich darf die Person sein, die ich immer sein wollte. Wenn ich mich erinnere, wie ich 2014 gehadert habe, denke ich: Wie egoistisch in Anbetracht der Tatsache, wie es Menschen in Afrika geht.
Wie haben Sie sich seitdem verändert?
Ich lebe in vielerlei Hinsicht bewusster und disziplinierter. Ich versuche, mich vor dem Training und vor Spielen noch intensiver vorzubereiten, vermeide es zu viel sitzen, achte auf die Ernährung und bin früh draußen beim Aufwärmen.
Welches Buch liegt aktuell auf Ihrem Nachttisch?
„Der Name der Rose“ von Umberto Eco. Mein Lieblingsbuch ist übrigens: „All die ungesagten Worte“ von Marc Levy. Habe ich schon zwei Mal gelesen.
Wovon handelt es?
Von einer Frau, die am Tag ihrer Hochzeit erfährt, dass ihr Vater gestorben ist, zu dem sie kaum Kontakt hatte. Doch durch ein Paket, dass er ihr geschickt hat, beginnt sie all die Dinge nachzuholen, die er gemeinsam mit ihr geplant hat.
Hat die Story einen Bezug zu Ihrem Leben?
Wie kommen Sie darauf? Ich bereue nichts, ich muss nichts nachholen. Natürlich gibt es Spielsituationen, die ich im Nachhinein ändern würde, aber das sind nur Details.
Zurück zum Stichwort: Heimat. Wo ist Ihr angestammter Platz auf dem Rasen?
Seit Jahren spiele ich auf allen möglichen Positionen im zentralen Mittelfeld. Bei Carlo war ich öfter hängende Spitze, jetzt bin ich eher eine Zehn oder etwas weiter hinten. Gefällt mir alles gut.
Als Sie vor fünf Jahren nach München wechselten, kamen Sie als Wunschspieler von Pep Guardiola. Welcher Bayern-Coach hat Sie ähnlich stark geprägt wie er?
Natürlich war Pep ein großer Einfluss. Als junger Spieler war er für mich der beste Trainer der Welt. Aber dann kamen Carlo, Jupp und auch Niko mit ihrer Herangehensweise, die teilweise ganz anders war, und halfen mir, meine Sicht auf das Spiel zu erweitern.
Worüber sprechen Sie?
Jupp ist seit 50 Jahren im Fußball. Er hat eine ganz eigene Art, ein Team zu motivieren, einen ganz eigenen Charakter, wie er mit Spielern umgeht. Sie wissen, er kam in einer schwierigen Situation, er war raus aus dem Geschäft, aber er hat uns von Anfang sehr viele Freiheiten gelassen, uns aber gleichzeitig auch gepusht. Die Mischung war perfekt. Nur wenige Trainer haben die Fähigkeit, in so einer Situation zu erkennen, welches Maß an Druck ein Team braucht.
Was ist für Sie als Profi der Idealzustand: über Jahre konstant mit einem Trainer arbeiten oder immer wieder neue Reize durch Trainerwechsel zu erhalten?
Schwer zu sagen. Fußball ist ein flüchtiges Geschäft. Alle drei, vier Jahre kommt ein neuer Staff. Es wäre ein interessantes Experiment, wenn Trainer nur noch alle fünf oder zehn Jahre wechseln. Aber ich habe das noch nie erlebt.
Nerven die ständigen Richtungswechsel auf Dauer nicht?
Es ist mein Job, mich auf neue Situationen einzustellen. Und es ist eine Herausforderung, ob man mit den Ideen des neuen Coachs zurechtkommt.
Klingt ja alles sehr rational, aber wo haben Sie Zweifel?
Wissen Sie, was mir in diesem Job die größten Probleme bereitet?
Nein.
Dass unser Job so öffentlich ist. Manchmal würde ich gern mehr Privatsphäre haben. Das ist übrigens ein großer Vorteil hierzulande. In Deutschland respektieren die Menschen, dass ich mein Lunch erst zu Ende esse, bevor ich für ein Selfie zur Verfügung stehe.
In Barcelona ist das anders?
In südlichen Ländern haben Menschen das Gefühl, wenn sie mich drei Mal in der Woche im Fernsehen sehen, dass ich ein alter Freund bin. Ich habe kein Problem mit Fotos, aber für manche ist es schwer, Distanz zu halten. Dann muss ich sehr aufpassen, was ich sage.
Wie meinen Sie das? Drei, vier Worte können da schon vieles kaputt machen, schließlich habe ich eine Vorbildfunktion. Aber es ist nicht einfach, wenn dich jemand umarmt oder sogar küsst, den du gar nicht kennst.
Wie gehen Sie damit um?
Ich sage: „Lass uns doch erst einmal ein Foto machen.“
Ist das Leben als Profi heute schwerer als zu Zeiten Ihres Vaters?
Es ist anders. Früher waren die Fußballer viel mystischer, viel mehr wie Rockstars. Heute sind Spieler durch die sozialen Netzwerke für Fans viel unmittelbarer und greifbarer.
Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Rafinha spielt beim FC Barcelona im Mittelfeld. Hat es Vorteile, mit einem begabten Bruder groß zu werden?
In jeder Hinsicht. Als Kinder verband uns nicht nur eine gemeinsame Leidenschaft. Ich hatte auch das Glück, dass mein Bruder damals im Tor stand, so dass wir uns gegenseitig viel beibringen konnten. Er wollte der beste Keeper werden, ich der beste Spieler, also standen wir jeden Tag auf dem Platz und ich ballerte ihm die Dinger auf den Kasten. Mit 14 war er dann so gut, dass er eine Halbzeit im Tor spielte und in der zweiten ins Mittelfeld vorrückte.
Gibt es Mitspieler beim FC Bayern, mit denen Sie ähnlich gut harmonieren wie mit Ihrem Bruder?
Natürlich gibt es Fußballer, bei denen die Chemie von Beginn an stimmt.
Bei wem zum Beispiel?
Die Chemie ist gar nicht entscheidend. Es ist wichtiger, dass ich ein Gefühl dafür entwickle, wie sich der Einzelne bewegt, wo seine Stärken liegen, um ihn einzusetzen. Mein Bruder und ich hatten sehr viel Zeit, um uns aneinander zu gewöhnen. Sowas gibt es im Leben nicht zwei Mal. Wenn man so lange miteinander harmoniert, weiß man intuitiv, welchen Rhythmus der andere hat. Aber wenn ich einen anderen Rhythmus erkenne, muss ich auch in der Lage sein, ihn aufzunehmen.
Und das funktioniert auf Ihrem spielerischen Niveau?
Natürlich gibt es Spieler, denen bestimmte Skills fehlen. Aber die haben dafür andere Fertigkeiten. Warum sind wir hier in München? Weil wir es verdienen, für diesen Klub zu spielen! Und das verbindende Element zwischen uns ist, dass wir uns stetig verbessern wollen.
Thiago Alcântara, mögen Sie die bayerische Lebensart: Weißbier & Weißwurst?
Der Brasilianer in mir mag Bier, der Spanier bevorzugt Wein. Aber ich trinke eher selten. Allerdings finde ich es großartig, wie die Leute sich während des Oktoberfests die Freiheit nehmen, für zwei Wochen wie Kinder zu sein und zu feiern.
Würden Sie das auch gern mal tun?
Es ist nicht meine Welt, aber mir gefällt es, wenn Leute Spaß an Traditionen haben.
Und Sie finden es nicht ansatzweise drollig?
Es gibt Sachen, die für Menschen mit meinem kulturellen Hintergrund schwer zu verstehen sind. Erklären Sie einem Spanier mal, was beim Oktoberfest passiert? Ich weiß noch, als ich man mir nach meiner Ankunft in München eine Weißwurst vorsetzte. Ich dachte: „Mmh, ich glaube, das esse ich jetzt besser nicht.“ Aber der Koch meinte: „Probier’s halt, damit du weißt, wie es schmeckt.“
Und?
Es schmeckte gut, allerdings noch besser mit ein bisschen süßem Senf.