Maradona good, Pele better, George Best? Falsch! Der beste Spieler aller Zeiten heißt: Vassilis Hatzipanagis. So sehen das zumindest Fußballfans in Griechenland – und vielleicht haben sie recht.
Früher war der Weltfußball voller kleiner Maradonas. Ein Spieler musste nur einen feinen Außenristpass schlagen oder seinen Gegner per Übersteiger ins Leere laufen lassen, schon klebte ihm die Sportpresse den göttlichen Beinamen an. So gab es irgendwann einen Alpen-Maradona (Andreas Herzog), einen Bosporus-Maradona (Emre Belozoglu), einen Singapur-Maradona (Abbas Saad), einen Balkan-Maradona (Edvin Murati), einen Südkorea-Maradona (Yoo Young Park) und einen Wüsten-Maradona (Saeed Owairan). Selbst Hans-Werner Reif, der in den achtziger Jahren 14 Mal für den 1. FC Köln spielte, durfte sich über den Apendix freuen. Die Autoren des Buches „Fußball Unser“ tauften ihn Maurergesellen-Maradona.
Aber es gibt nur einen Spieler, der diese Würde wirklich verdient hat. Und wer nicht gerade Fan von Iraklis Thessaloniki ist oder in griechischer Fußballgeschichte promoviert, hat vermutlich noch nie von ihm gehört. Sein Name ist: Vassilis Hatzipanagis. Er ist der beste Spieler der Welt und aller Zeiten, und das ist nicht übertrieben.
Um seine Geschichte zu verstehen, muss man zurückgehen in die Zeit des griechischen Bürgerkriegs, der von 1946 bis 1949 dauerte und die Fortsetzung eines Konfliktes zwischen der konservativen Regierung der Monarchie und der linken griechischen Volksfront war. Hundertausende Menschen, viele Kommunisten und Oppositionelle darunter, flüchteten in jenen Jahren in die Sowjetunion und andere sozialistische Staaten. So auch Kyriakos und Chryssa Hatzipanagis, die in Taschkent, der heutigen Hauptstadt von Usbekistan, Asyl fanden.
Bald darauf, am 29. Oktober 1954, kommt ihr Sohn Vassilis zur Welt.
Er entdeckt schon früh seine Freude am Fußball, täglich kickt er mit Freunden im Park. Ein Späher von Dinamo Tashkent ist angetan von seinen Tricks und versucht, ihn zu verpflichten. Aber der Junge schließt sich Pachtakor an, weil der Klub die bessere Jugendakademie hat. Mit 17 Jahren debütiert er für die Herrenmannschaft in einem Spiel gegen Schachtar Donezk. Auf Druck des Verbandes nimmt er die sowjetische Staatsbürgerschaft an.
„Immer wenn ich Verteidiger vor mir sah, wollte ich um sie herumdribbeln“
In der Sowjetunion nennen ihn die Menschen den „Nurujew des Fußballs“, denn er fliegt so elegant und leichtfüßig über das Feld wie der sowjetische Balletttänzer über die Bühne. Hatzipanagis selbst hat eine simple Erklärung für sein Spiel: „Immer wenn ich Verteidiger vor mir sah, wollte ich um sie herumdribbeln.“
1974 und 1975 wird er zum zweitbesten Spieler der Liga gewählt, er ist da noch ein Teenager. Nur Dynamo Kiews Oleh Blochin ist besser, aber an den reicht niemand heran. Da nützt es auch nichts, dass Taschkent Blochins Elf mit 5:0 aus dem Stadion schießt, Hatzipanagis dabei ein Tor macht und vier weitere vorbereitet. Eine Zeitung stellt sein Foto danach neben das eines Skiprofis. Titel des Artikels: „Was man als Slalomfahrer von Hatzipanagis lernen kann“.
Eigentlich ist der Junge mit den griechischen Wurzeln zu gut für die Liga. Er müsste nach England, Spanien oder Italien, sagen die Experten. Aber es kommt anders.
Mitte der Siebziger entspannt sich die politische Lage in Griechenland – nach Jahren des Bürgerkriegs, der „steinernen Zeit“ in den Fünfzigern und einer siebenjährigen Militärdiktatur (1967 bis 1974). Hatzipanagis Eltern möchten heim zu den Verwandten und Freunden nach Thessaloniki, der Sohn will sie begleiten.
Konstanin Beskow, der sowjetische Nationaltrainer, versucht vergeblich, ihn zum Bleiben zu überreden. Die griechische Liga entspräche noch weniger seinem Niveau als die sowjetische. Aber Hatzipanagis ist sich mit Iraklis Thessaloniki einig, und er wird nie wieder für einen anderen Verein spielen. Er selbst hadert bis heute mit diesem Schicksal. Die Fans vergöttern ihn deshalb. In Griechenland nennen sie die Ära zwischen 1975 und 1990 schlicht „The Vasillis Years“.
Schon bei seiner Ankunft am 22. November 1975 stehen über 1000 Fans an der Bahnstation von Thessaloniki und singen „Vassilis Kalosórises!“ (Willkommen Vassilis). Eine unglaubliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die meisten Leute den Namen Hatzipanagis nur vom Hörensagen kennen. Aber ihn umgibt schon vor seiner Ankunft ein Mythos, der sich immer weiter verbreitet. Auch ohne Internet und Fernsehbilder. Das erste Spiel gegen Atromitos Athen ist mit 47.000 Zuschauern ausverkauft.
Auf alten verpixelten Videoaufnahmen kann man Hatzipanagis‘ Genialität erahnen. Eine fast kindliche Freude am Ball wie Garrincha, die Haare im Wind wie Kevin Keegan. Er spielt mit hohem Tempo, seine Pässe lösen ganze Abwehrketten auf. Aber vor allem seine Dribblings wirken magisch. Maradonas Jahrhundertor? Okocha versus Kahn? Messis Sololäufe? Hatzipanagis spielt das alles schon mal durch. Als sei ein Spieler aus der Zukunft im Griechenland der Siebziger und Achtziger gelandet.
Er begeistert nicht nur die Anhänger von Iraklis, sondern auch die Fans von Olympiakos, Panathinaikos, PAOK oder AEK. Sie lassen sich sogar Schals mit seinem Namen anfertigen. Der griechische Maradona? Ach, Maradona ist der der argentinische Hatzipanagis.
„Als die Fans zum ersten Mal seine Tricks sahen, dachten sie, er wäre ein Alien.“
Es heißt bald, er könne seine Gegenspieler in einer Telefonzelle ausspielen. Andere sagen, ihn habe keine Mutter geboren, sondern ein Ball. Und die Verteidiger der anderen Vereine, so geht eine Legende, wollen Hatzipanagis verklagen, weil „er auf dem Feld aus uns einen Idioten macht, und wir Vergeltung wollen“. Sein ehemaliger Mitspieler Christos Zifkas sagt in einer Dokumentation: „Als die Fans zum ersten Mal seine Tricks sahen, dachten sie, er wäre ein Alien.“
In Saison 1982/83 verwandelt er sechs Ecken direkt. Alle mit seinem genialen linken Fuß. „Den rechten hatte ich nur zum Stehen“, sagt er.
Wieder und wieder fragen große Klubs aus dem Westen an. Lazio Rom oder der VfB Stuttgart. Aber eine Klausel in seinem Vertrag, den sein Berater mit Iraklis ausgehandelt hat, macht einen Wechsel unmöglich. Der Verein kann den Vertrag nämlich jedes Jahr um zehn weitere verlängern – ohne Hatzipanagis’ Zustimmung. Dem Magazin „Blizzard“ schilderte Hatzipanagis diese Zeit so: „Die Uefa wollte nichts machen. Also verbrachte ich die meiste Zeit des Jahre 1977 mit Iraklis vor Gericht. Ich war wie Jean-Marc Bosman, mit dem Unterschied, dass ich weiterhin für das erste Team spielte, während die Anwälte meines Klubs gegen mich kämpften.“ Wie Bosmann gewinnt er vor Gericht. Der Verein aber legt erfolgreich Berufung ein. Hatzipaganis ergibt sich seinem Schicksal.
Der Verein Iraklis Thessaloniki weiß, dass er ohne Hatzipanagis nichts ist. Dieser Spieler ist die Attraktion der Liga. Er, und kein anderer, lockt die Massen ins Stadion. Einmal spielt Iraklis gegen Ethnikos im großen Apostolos-Nikolaidis-Stadion. Normalerweise kommen 2000 oder 3000 Fans zu den Heimspielen von Ethnikos, für dieses Spiel aber druckt der Verein sicherheitshalber 10.000 Tickets. Am Ende sind 35.000 Menschen im Stadion und staunen über diesen Wunderspieler mit der Nummer Zehn.
Hatzipanagis lockt aber nicht nur die Zuschauer an, er bringt auch die wenigen Erfolge nach Thessaloniki. In der Zeit zwischen 1975 und 1990 erlebt Iraklis die besten Jahre der Vereinsgeschichte. In einem denkwürdigen Finale gegen Olympiakos wird die Mannschaft 1976 Pokalsieger – 4:4 steht es nach Verlängerung (Hatzipanagis erzielt zwei Tore), 6:5 gewinnt Iraklis nach Elfmeterschießen. 1985 gewinnt das Team außerdem den Balkan Pokal, 1984 schließt Iraklis die Liga als Dritter ab. So gut wie nie zuvor und nie danach.
Aber Hatzipanagis könnte so viel mehr erreichen. Bei einem großen Turnier mitspielen, im Uefa Cup oder im Landesmeister-Pokal, auf der Bühne des Weltfußballs glänzen. Für die griechische Nationalmannschaft darf er in seiner aktiven Karriere nur einmal auflaufen, 1976 gegen Polen (1:0). Danach wird er von der FIFA gesperrt, weil herauskommt, dass er in der Olympia-Qualifikation 1976 viermal für die UdSSR gespielt hat. Es nagt an ihm bis heute. „Zweimal habe ich bei der FIFA einen Antrag eingereicht – zweimal wurde er abgelehnt. Ich hätte mein Land so gerne vertreten.“
Immerhin darf er am 14. Dezember 1999, acht Jahre nach seinem Karriereende und 23 Jahre nach seinem Länderspiel-Debüt, in einem Freundschaftsspiel gegen Ghana noch einmal für die griechische Nationalelf spielen. Auch der Traum von Europa geht am Ende in Erfüllung. 1990 im Uefa-Cup, 1. Runde gegen den FC Valencia (0:0). Danach beendet er im Alter von 36 Jahren seine Karriere.
Hatzipanagis’ Geschichte ist eine von den großen Konjunktiverzählungen des Fußballs. Was wäre gewesen, wenn seine Familie 1963 nach England ausgewandert wäre? Der Vater hatte das gewollt, die Mutter war aber dagegen. Wie wäre die Karriere von Hatzipaganis weitergegangen, wenn er 1977 in London geblieben wäre? Er war damals zu einer Kniebehandlung in der englischen Hauptstadt und trainierte mit dem FC Arsenal mit. Seine temporären Mitspieler Pat Jennings, Graeme Rix und Liam Brady nannten ihn „Aristotle“. Arsenal fühlte bei Iraklis vor, die Griechen aber lehnten einen Wechsel erneut kategorisch ab.
Im inneren Zirkel des Fußballs scheint Hatzipanagis aber einen kleinen Platz gefunden zu haben. Die großen Spieler kennen seinen Namen, sie ahnen, was möglich gewesen wäre. 1984 spielt er in einer Weltauswahl gegen Cosmos. Er steht mit all den Helden des Weltfußballs auf dem Feld – und sie nehmen ihn ihre Mitte. Franz Beckenbauer, Mario Kempes, Hugo Sanchez, Vassilis Hatzipanagis.
Und dann gibt es da noch die vielen Video-Compilations. Wie alte Medaillen liegen sie in den verstaubten Ecken von Youtube. Sie heißen „Who is Messi? Vassilis Hatzipanagis Highlights“ oder „Vasilis Chatzipanagis the Magician“ oder „Vassilis Hatzipanagis: All time best Greek footballer“.
Einen echten Ehrenplatz im Weltfußball bekommt er 2004. Damals feiert die UEFA ihren 50. Geburtstag. Bei den Feierlichkeiten soll jedes europäische Mitglied ihren Goldenen Spieler wählen. Die englische FA entscheidet sich für Bobby Moore, der holländische Verband für Johan Cruyff, der portugiesische für Eusebio. Der hellenische Fußballverband präsentiert: Vassilis Hatzipanagis. Einen Spieler, der nur ein reguläres Länderspiel gemacht hat. Der nie Meister wurde. Der nie bei einem der internationalen Topklubs gespielt hat. Den außerhalb von Griechenland kaum jemand spielen sah. Den Mann, der dribbelte wie Garrincha und der aussah wie Kevin Keegan. Den sie den Maradona Griechenlands nennen.
Der aber eigentlich gar keine Vergleiche brauchte. Denn er war und ist: Vassilis Hatzipanagis. Der beste Spieler der Welt und aller Zeiten.