Wenn man in die Kritik gerät, weil man ein Spiel gegen eine der besten Mannschaften der Welt verloren hat, dann ist eines klar: Die Luft auf der Dortmunder Trainerbank ist sehr dünn geworden.
Manchmal muss man nur sein E‑Mail-Postfach beobachten, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat. Es war 10:27 Uhr, als die Redaktion folgendes Interviewangebot aus Breckerfeld bei Wuppertal erreichte: „Muss ein Bundesliga-Trainer vor dem Rauswurf abgemahnt werden? Anwältin klärt auf!“
Nur für den Fall, dass dem Empfänger nicht gleich klar war, um welchen Trainer es sich handelt, begann die Mail mit den Worten: „Nach der 1:3‑Pleite gegen den FC Barcelona geht es wieder um den möglichen Rauswurf von Lucien Favre, sollte dieser das ›Job-Endspiel‹ gegen Jürgen Klinsmann verlieren. Doch kaum jemand weiß, wie es arbeitsrechtlich abläuft, wenn der Trainer fliegt. Bekommt ein Trainer eine Abmahnung, wenn er zu viele Spiele verliert, oder kommt so eine Kündigung ganz spontan?“ Und so weiter.
Das ist zwar ebenso dreist wie geschmacksunsicher, spiegelt aber den Zeitgeist ganz gut wider: Eigentlich geht es nämlich gar nicht mehr darum, ob der bedauernswerte Lucien Favre seinen Hut nehmen muss, sondern nur noch wann. Und obwohl man natürlich in Barcelona 1:3 verlieren kann und darf, war das gestrige Spiel in Katalonien ein Paradebeispiel für die inzwischen völlig verfahrene Situation.
Vom Glück verlassen
So ist der ausgewiesene Taktikfuchs Favre seit Monaten vom Glück verlassen. Hätte Nico Schulz gleich in der ersten Minute die Führung für den BVB erzielte, wäre der Coach wohl für den genialen Schachzug gelobt worden, den Linksverteidiger in der Offensive aufzubieten. So aber wirkte die Umstellung, als hätte man Schulz nach seinem verhängnisvollen Laufduell gegen Paderborns Kai Pröger an einen Ort strafversetzt, an dem er weniger Unheil anrichten kann.
Dieser Eindruck verstärkte sich dann noch durch Favres Einwechselungen. Als Jadon Sancho reinkam und Lust hatte, mal so eine Art Bewerbungsschreiben in Barcelona zu hinterlegen, dürfte so mancher Fan zwischen zwei Schluck Frustbier gemurmelt haben: „Den hat Favre nicht von Anfang an gebracht, weil er ihn seit dem Bayern-Spiel auf dem Kieker hat.“ Und als etwas später der junge Dan-Axel Zagadou erst zum zweiten Mal seit September wieder für mehr als nur ein paar Sekunden auf den Rasen durfte, sagte derselbe Fan wohl: „Und der wird seit dem anderen Bayern-Spiel, im April, vom Trainer ignoriert.“
Dabei gab es für Favres Entscheidungen gute Gründe. So sollte Schulz das seit Wochen brachliegende Offensivpressing der Borussia beleben, was gerade gegen Barcelona sehr wichtig gewesen wäre. Aus eben diesem Grund hätte es fast selbstmörderische Züge gehabt, den (bis gestern) formschwachen und (immer noch) defensivschwachen Sancho in die Startelf zu nehmen, vor allem da noch ein zweiter Angreifer nur sporadisch gegen den Ball arbeitet, nämlich Julian Brandt. Zagadou schließlich harmoniert wahrscheinlich nicht gut mit Hummels, weil beide instinktiv dieselben Räume besetzen. Ob das wirklich zutrifft, kann allerdings nur ein regelmäßiger Trainingsgast beurteilen, falls es so jemanden in Dortmund überhaupt noch gibt, wo öffentliche Einheiten so selten geworden sind wie Sprechchöre, die den Trainer feiern.
Doch fast alles, was Favre im Moment versucht, geht nach hinten los. Gegen Paderborn fassten sich die entsetzen Fans an den Kopf und fragten, warum eine Mannschaft wie Dortmund – bei der die Außenverteidiger sehr hoch stehen, was bedeutet, dass die beiden Innenverteidiger gegen lange Bälle absichern müssen – ausgerechnet Hummels und Julian Weigl in die Sprintduelle schickt. Dabei zeigten die zweiten 45 Minuten dieser Partie, dass das sehr gut funktionieren kann … solange die anderen acht Feldspieler vorne aggressiv die Räume verengen.
Warum dies nicht immer – und sogar immer seltener – passiert, ist die entscheidende Frage und das strukturelle Problem, das den Verantwortlichen wirklich Sorge bereiten muss. Denn es ist ja nicht so, als wäre erst seit ein paar Wochen Sand im Getriebe. Das 1:3 gegen Barcelona war auch deswegen beispielhaft für die schwarz-gelbe Misere, weil man gegen eine Elf, die man daheim noch ganz gut im Griff hatte, auswärts überhaupt kein Mittel fand.
Elf Monate Auswärtsblues
Dieses Phänomen zieht sich wie ein roter Faden durch die jüngere Vergangenheit. Seit rund elf Monaten reiht sich ein schlimmes Auswärtsspiel an das nächste: Düsseldorf, Tottenham, Nürnberg, Augsburg, München 1, Köln, Union Berlin, Inter Mailand, Schalke, München 2, Barcelona. Nicht alle wurden verloren, eines sogar gewonnen, aber in allen wirkte die Mannschaft fahrig, uninspiriert, mutlos. Wer diese Begegnungen gesehen hat, dem erscheint es wie Hohn, dass die erst im Sommer erschienene Favre-Biografie den Titel „Der Bessermacher“ trägt.
Ist also die nächste Partie in der Tat schon ein „Job-Endspiel“ für den Schweizer, wie es in der Mail von heute heißt? Wer Hans-Joachim Watzkes Reden auf der Mitgliederversammlung am Sonntag und dem Aktionärstreffen am Montag gehört hat, kann eigentlich nicht glauben, dass er seinem Trainer das ausgesprochene Vertrauen nur 120 Stunden später wieder entzieht. Andererseits ist jene Partie schon wieder ein Auswärtsspiel. Ausgerechnet in Berlin, wo Klinsmann gerade genau den Enthusiasmus verbreitet, der seinem Schweizer Kollegen so abgeht. Die Wettervorhersage spricht von vier Grad, Wind und möglichem Schneeregen. Favre muss sich warm anziehen.