Hinweis: Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE-Ausgabe #214, die hier im Shop erhältlich ist.
Andrius Balaika hat ein Leben verändert. Am Vorabend des 18. April 2017 bekam Sprockhövels Trainer von einem seiner Spieler zu hören: „Mir geht’s nicht gut. Das mit dem Knöchel, das wird nichts.“ Der Spieler will aussetzen, möchte seine Gesundheit nicht im Westfalenpokal-Halbfinale gegen den SC Paderborn riskieren. Er meint, er brauche Schonzeit für den Abstiegskampf in der Regionalliga West. Aber Balaika sagt: „Nimm eine Schmerztablette, dann geh raus und spiel.“ Also schluckt Sprockhövels Kapitän Christopher Antwi-Adjei, den alle nur „Jimmy“ nennen, der sich selbst nur „Jimmy“ nennt, zwei Ibuprofen – und sein altes Leben ist vorbei.
Am folgenden Tag geht Sprockhövel beim Drittligisten in Führung, kämpft mit dem Mut des Außenseiters, der eine Überraschung wittert. Zur Halbzeit steht es 1:1. Nach einer Stunde Spielzeit erhält Antwi-Adjei den Ball auf der linken Seite. „Ich bin Rechtsfüßer“, sagte er, „aber ich mag es gerne, von links zu kommen, dann in die Mitte zu ziehen und mit rechts abzuschließen.“ Doch das ist jetzt nicht möglich, zu groß ist der Druck des heranrauschenden Verteidigers. Also schießt Antwi-Adjei mit links. Er visiert das lange Ecke an, der Ball wird immer länger – und fliegt am Pfosten vorbei ins Seitenaus. Eine Hundertprozentige, sagen manche. „Eher 80 Prozent“, lacht Antwi-Adjei.
Von der Oberliga in die Bundesliga
In der Verlängerung gewinnt der hohe Favorit. Trotz seiner vergebenen Chance – das Potenzial dieses Jungen ist unübersehbar. Sein Berater ahnt schon lange, was in ihm stecken könnte. Deshalb hat er bereits ein Treffen mit Farat Toku vermittelt, dem Trainer von Wattenscheid 09. Während Antwi-Adjei an der Wattenscheider Geschäftsstelle vor der einen Tür wartet, geht plötzlich eine ganz neue auf. Sein Telefon klingelt, und es meldet sich Paderborns Sport-Geschäftsführer Markus Krösche.
Bald danach unterschreibt Antwi-Adjei in Paderborn einen Vertrag für die 3. Liga. Seitdem zeigt die Erfolgskurve des 25-jährigen Stürmers steil nach oben. Stammplatz beim ersten Profiverein, Aufstieg in die 2. Liga, noch immer unangefochtener Stammspieler. Zehn Tore in 31 Spielen, zum Saisonende 2018/19 dreht er richtig auf, der nächste Aufstieg. Und jetzt, im Sommer 2019: Bundesliga. Dabei hat Antwi-Adjei nie ein Jugendleistungszentrum besucht, vor drei Jahren spielte er noch in der Oberliga Westfalen, fünfte Klasse. Heute ist er einer der Topspieler im Kader von Paderborn. Wie ist das möglich? Und vor allem: Was macht das mit einem Jungen aus Hagen?
Der Aufstieg von Antwi-Adjei beginnt im Sommer 2016, als Sprockhövel Dritter in der Oberliga wird und in die Regionalliga klettert. Dort ist die Mannschaft oft chancenlos, 15 Punkte fehlen zum Klassenerhalt. Doch Antwi-Adjei kann auf dem neuen Level mithalten – mindestens. Wie das Pokal-Halbfinale gegen Paderborn zeigt, ist vielleicht sogar noch mehr drin. „Für mich war seine Klasse offensichtlich“, sagt Krösche heute. Geschwindigkeit, enger erster Kontakt, immer im Tempo bleibend, das seien die Stärken des damals unbekannten Spielers gewesen. Und so kann man sagen, dass das so unerwartet schwierige Spiel im April 2017 gegen Sprockhövel für Paderborn ein ganz wichtiges war. Steffen Baumgart hatte einen Tag zuvor den Posten als Trainer angetreten. „Es war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt Baumgart heute über die Fast-Blamage. Denn danach ist man in Paderborn bereit, ganz neu anzufangen.
Dazu gehört auch ein Anruf bei Antwi-Adjei. „Ich dachte: Wow, okay, das klingt interessant“, sagt der Spieler rückblickend. Das Angebot von Wattenscheid hört er sich zwar noch an, aber eigentlich hat er sich schon entschieden. Wenige Tage später unterhält er sich persönlich mit Krösche. Sie sprechen über sein Studium. Der Manager ist beeindruckt, wie klar und aufgeräumt dieser junge Mann wirkt. Die beiden stehen am Trainingszentrum des SC Paderborn. Ein Relikt besserer Tage mitten im Industriegebiet. Als die Ostwestfalen 2014/15 zum ersten Mal in der Bundesliga spielten, hatte der Verein ein neues zweistöckiges Gebäude samt sich anschließender Rasenplätze für etwa acht Millionen Euro gebaut. Quadratisch, praktisch. Am Eingang sind Logos und Fahnen angebracht, die über Nacht ausgetauscht werden könnten. „Ich war überwältigt“, sagt Antwi-Adjei. Er unterschreibt.
Angefangen als Torwart
Vielleicht ließ sich Antwi-Adjei damals so schnell beeindrucken, weil er in seiner Kindheit nie in einem Nachwuchsleistungszentrum war. Nur für ein Jahr, er war 16, holte ihn der MSV Duisburg zu sich. „Aber mit den Leistungszentren von heute hatte das nichts zu tun.“ Als Kind spielte er beim SV Fortuna Hagen, später dann beim Hasper SV zusammen mit seinem Zwillingsbruder Christian. „Auf Turnieren haben wir gegen Schalke und Bochum gespielt. Und konnten die richtig ärgern. Wir hatten Super-Truppen.“ Er stand im Tor, sein Bruder spielte im Sturm. „Der hat immer geknipst. Der war super, wirklich super.“ Christopher, der von seinem Jugendtrainer „Jimmy“ genannt wird, weil der meinte, er bräuchte einen süßeren Namen, wird Feldspieler, als er nicht schnell genug wächst. Er spielt fast immer auf Asche. „Ich wurde nie verwöhnt. Aber wenn ich den Ball gesehen habe, hatte ich trotzdem Spaß.“
In Paderborn machte man im Sommer 2017 aus der Not eine Tugend. Eigentlich war der SC in die Regionalliga abgestiegen, nur die Insolvenz von 1860 München verhinderte den totalen Absturz. Und so bauten Krösche und Baumgart einen Drittligakader mit Viertligaspielern. Krösche sagt: „Wir hatten nicht die finanziellen Möglichkeiten. Die Regionalligen bieten einen unglaublichen Pool an Spielern.“ Er holte nicht nur Antwi-Adjei, sondern auch Dennis Srbeny vom BFC Dynamo und Massih Wassey von Borussia Dortmund II. Später dann Klaus Gjasula (Hallescher FC), Kai Pröger (Rot-Weiss Essen) und Sebastian Vasiliadis (VfR Aalen).
„Drei Jahre in Sprockhövel rumgeeiert“
In jedem Jahr verlassen 600 Fußballer die deutschen Nachwuchsleistungszentren. Erzogen, um Stars zu werden. Aber nur etwa 30 setzen sich in den ersten drei Profiligen durch. Antwi-Adjei, Pröger oder Vasiliadis haben diese Ausbildung aber nie erhalten. Sie lernten bei Eintracht Dortmund, dem Heidmühler FC, in Backnang. Jetzt spielen sie trotzdem Bundesliga. Wie ist das möglich? Ist Fußball dann doch so einfach? „Fußball ist nicht kompliziert“, sagt Krösche, „er wird nur kompliziert gemacht.“ In Paderborn verbinden sie die Stärken der Spieler, wie Geschwindigkeit und das Eins-gegen-eins mit einem einfachen Spielsystem. „Das ist unsere große Stärke“, sagt Antwi-Adjei. „Wir attackieren hoch, spielen schnellen Offensivfußball und bestrafen den Gegner sofort.“ Er sitzt auf einem Stuhl am Rande des Trainingsplatzes. Die Einheit am Vormittag ist vorbei, „Jimmy“ wirkt entspannt, braucht im Gespräch keine Anlaufzeit. „Ich lebe meinen Traum.“ Nur die Vorbereitungsphase mag er wegen der anstrengenden Läufe immer noch nicht. Wenigstens hält er jetzt mit – nicht so wie beim allerersten Training.
„War eigentlich ganz locker damals. Wir haben uns ein bisschen aufgewärmt, einige Passformen und dann Spielchen.“ Antwi-Adjei war selbst überrascht, wie gut das alles klappte. Aber nach einiger Zeit blieb ihm die Luft weg. „Spielerisch war das alles machbar, aber nicht im physischen Bereich. Ich war zwar konditionell nicht schlecht, aber ich habe drei Jahre in Sprockhövel rumgeeiert, sorry, das war ein Kulturschock hier.“ Nach einer Weile sagte Jimmy nur: „Ich bin platt.“
Antwi-Adjei ist selbstbewusst, aber auch sehr höflich. In der Mannschaft ist er bei allen beliebt. Er könnte so auf richtig dicke Hose machen, aber er will es nicht gleich übertreiben. „Kann ich nicht verstehen, die Leute, die ihr Geld auf den Kopf hauen.“ Aber der erste Kontoauszug nach dem Profivertrag? „Das war schon ein richtig schönes Gefühl.“ Er sagt, er sei interessiert an Mode. Auf Instagram präsentiert er Fotos, die zwei Jahre alt sind. Designer Outlet Roermond, Diesel-Tüte in der Hand. Wie bei einem sehr kleinen Lotto-Gewinn. Mittlerweile hat sich das ein bisschen gewandelt. Jetzt trägt er Marken, die nicht jeder kennt, wie er sagt. Sozialer Aufstieg eben, ein bisschen Gönnung muss schon sein.
Bundesliga statt Abstiegskampf
Sein alter Trainer in Sprockhövel, Andrius Balaika, hat einmal gesagt, Jimmy fliege über den Platz. So schnell, so locker mit dem Ball. Er habe ihm schon früh vorausgesagt, dass er für mehr bestimmt sei. Sein jetziger Trainer, Steffen Baumgart, hat gesagt: „Es geht darum, die Jungs ans Laufen zu bringen.“ Und Laufen, das kann Antwi-Adjei. So wie am vorletzten Spieltag gegen den Hamburger SV. Bei einem Sieg ist Paderborn zumindest die Relegation nicht mehr zu nehmen. Es steht 2:1, und der HSV drückt mit dem Mut der Verzweifelten. Dann bekommt Antwi-Adjei den Ball auf der linken Seite. Ein bisschen so wie damals im Westfalenpokal. Mit einem Unterschied. Er zieht nach innen, und diesmal kann er sich den Ball auf den rechten Fuß legen. Tor zum 3:1. Und gleich noch mal. Mit einer Kopie des ersten Treffers erzielt Antwi-Adjei auch das 4:1. Die Fans rufen das langgezogene „Jiiiimmyyyyy“. Eine Woche später wird Paderborn Bundesligist.
Jetzt also gegen Schalke, Dortmund oder gegen die Bayern. Ein bisschen so wie früher, als er und sein Bruder die Mannschaften mit den großen Namen ärgerten. Sein Bruder spielt übrigens heute in – Sprockhövel. Warum hat es Christian, anders als Christopher/Jimmy, nicht nach ganz oben geschafft? „Viele Verletzungen. Kreuzbandriss, Mittelfußbruch. Er freut sich sehr für mich“, sagt Antwi-Adjei über seinen Bruder. Dann überlegt er: „Es gehört halt auch viel Glück dazu.“ Wer wüsste das besser, als ein Stürmer, der sich eigentlich für den Abstiegskampf schonen wollte?