Der Nächste, bitte: Nach den Gladbach-Fans boykottieren nun die Schalker ihr Derby. Doch bringt der Protest etwas oder führt er zum großen Knall?
Der FC Schalke 04 könnte in diesen Tagen sehr gut den Rückhalt der Fans gebrauchen: Nur ein Sieg aus den letzten sieben Pflichtspielen, dazu der Grabenkampf um die Besetzung des Manager-Postens – und nun auch noch das wohl wichtigste Auswärtsspiel in einer Schalker Bundesligasaison, das Derby gegen den ewigen Rivalen aus Dortmund. Doch ausgerechnet in diesem Spiel müssen die Königsblauen auf die Unterstützung ihrer Fans verzichten – auch wenn das nichts mit dem sportlichen Geschehen zu tun hat.
„Natürlich wäre uns die Situation anders lieber“, gesteht Schalkes Finanzvorstand Peter Peters im Gespräch mit 11FREUNDE. „Wir hätten unsere aktive Fanszene gerne in Dortmund dabei, verstehen aber die Entscheidung.“ Über 100 Schalker Fanklubs werden sich einem Boykott-Aufruf der größten Schalker Ultragruppe, den „Ultras Gelsenkirchen“ (UGE), anschließen und das Spiel nicht im Westfalenstadion sondern im heimischen Gelsenkirchen gemeinsam verfolgen.
„Selbst entscheiden, wie man zu einem Fußballspiel anreist“
Die Schalker Fans demonstrieren damit gegen die strengen Sicherheitsauflagen im Derby. Anfang Oktober wurde bekannt, dass ihr Verein auf Anraten der Polizei in diesem Jahr nur 4000 anstatt der üblichen 8000 Eintrittskarten für das Derby bekommen solle. Außerdem müsse sich jeder Ticket-Käufer zu einer verbindlichen Anreise mit dem Bus verpflichten. Der BVB und Schalke 04 wehrten sich gegen den Vorschlag. Es kam zu einem Kompromiss: 6500 Karten und keine vorgeschriebene Anreiseform. Peter Peters: „Der Veranstalter ist für die Sicherheit verantwortlich und hat entschieden, weniger Auswärtsfans zuzulassen. Wir können das nur zur Kenntnis nehmen.“
In den Augen der „UGE“ ist die Einigung ein „fauler Kompromiss“. In einer Stellungnahme beziehen sie Position: „Für uns sind die Reduzierung des Karten-Kontingents sowie die vorgeschriebenen Anreisemöglichkeiten nicht hinnehmbar. Durch diese Maßnahme wird das Grundrecht auf Freizügigkeit drastisch eingeschränkt. Es muss möglich sein, selbst entscheiden zu können, wie man zu einem Fußballspiel anreist.“ Die Ultras verweisen vor allem auf die Geschehnisse rund ums Derby 2012, als 600 Schalker Fans von der Dortmunder Bahn-Haltestelle „Universität“ ohne Zwischenfälle zum Stadion gelaufen seien.
In der Tat verliefen zumindest die zurückliegenden beiden Derbys weitgehend friedlich, wie sogar die Polizei nach dem letzten Aufeinandertreffen am 28. Februar 2015 per Pressemitteilung bestätigte: „Das Sicherheitskonzept des Arbeitskreises Derby hat erneut gegriffen“, schrieb Einsatzleiter Dieter Keil damals. Dennoch sollen die Schalker nun trotzdem nicht in voller Mannstärke anreisen dürfen.
Der Fall Köln-Gladbach
Das Besondere: Der Boykott ist bereits das zweite Aufsehen erregende Fernbleiben von Fans in dieser Bundesliga-Saison. Bereits am fünften Spieltag boykottierte die aktive Fanszene von Borussia Mönchengladbach das Derby beim 1. FC Köln. Auch die Gladbach-Fans demonstrierten gegen die aus ihrer Sicht überzogenen Sicherheitsmaßnahmen. Sie fühlten sich zu Unrecht bestraft. Beim letzten Aufeinandertreffen im Februar 2015 hatten einige Kölner Ultras den Rasen des Borussia-Parks gestürmt.
Infolgedessen verdonnerte der DFB den 1. FC Köln zu einer empfindlichen Strafe: Beim nächsten Derby durfte nur die Hälfte der Köln-Fans mit nach Gladbach reisen, außerdem sollten beide Vereine, also Köln und Gladbach, ein gemeinsames Sicherheitskonzept für die anstehenden Derbys ausarbeiten.
In den gemeinsamen Gesprächen erklärte der 1. FC Köln, im Müngersdorfer Stadion nur für die Sicherheit von etwa sieben Prozent der Gladbacher Fans (etwa 3.700 Karten) sorgen zu können. Die Vereinsführung der Borussia nahm dieses Votum hin, die Fans gingen auf die Barrikaden und boykottierten – mit Erfolg.
Nur wenige Hundert Anhänger standen beim Derby im Gästeblock. Überraschend erhielten die Gladbacher sogar aus der Domstadt Unterstützung: Die Kölner Fanszene versagte dem eigenen Verein aus Protest den organisierten Support. Geister- statt Derby-Stimmung! Aber auch eine Lösung? Oder ein verzweifelter Versuch der Fans, das Heft des Handelns in der Hand zu halten?
Der schwarze Peter wandert ständig umher
Um diese Fragen zu beantworten, muss zunächst das extrem komplizierte Spannungsfeld genauer analysiert werden, in dem vor allem die beiden großen NRW-Derbys geplant und durchgeführt werden. Ein Spannungsfeld, in dem fünf Akteure mitmischen, die sich teilweise gegenseitig nicht leiden können: Polizei, Politik, Verbände (DFL, DFB), Vereine und Fans. Der schwarze Peter wandert ständig umher, die Kommunikation bleibt auf der Strecke. Eine explosive Mischung.
Am Anfang der neuerlichen Diskussion zwischen Fans, Politik und Polizei standen in erster Linie Ausschreitungen einiger wenigen Anhängern. Nach dem überarbeiteten DFL-Sicherheitspapier 2012 hatte sich die Lage zunächst etwas entspannt. Die Fans hatten in der Aktion 12:12 ihrem Ärger Luft gemacht. Sie hatten gezeigt: Ohne uns geht es nicht! Doch die Behörden blieben misstrauisch – und bekamen von den Fans Zündstoff geliefert: 2013 nahmen BVB-Anhänger den Gästeblock in Gelsenkirchen auseinander, in Köln griffen Gladbach-Hooligans und ‑Ultras im vergangenen Jahr vor dem Spiel die Südkurve an, nicht zuletzt dann die „Revanche“ einiger FC-Ultras im Februar.
„Als Gruppe decken sie diese Personen“
Zumindest die Sicherheitsbehörden glauben deshalb, das Problem lokalisiert zu haben: die Ultras. „Die Ultras haben Leute in ihren Reihen, die lieber Theater machen wollen anstatt sich das Spiel anzuschauen“, sagt Arnold Plickert von der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Und auch wenn das nicht alle von ihnen wollen: Als Gruppe decken sie diese Personen.“
Plickert schätzt die Polizei-Einsatzkosten bei den Risikospielen (etwa 1.200 Beamte) auf 700.000 bis 800.000 Euro. Man könne die Summe problemlos reduzieren, wenn die Problemfans nicht anreisen würden – wie im Schalker oder Gladbacher Fall. „Natürlich würde ich meine Kollegen lieber in ein volles Stadion schicken. Aber aus Polizei-Sicht ist es gut, wenn bestimmte Gruppen zuhause bleiben. Zuletzt ist es dann ruhig geblieben“, so Plickert.
Die Polizei spricht sich damit deutlich für einige aus der Politik vorgeschlagene Maßnahmen aus: Reduzierung von Karten-Kontingenten und Personalisierung von Karten. Im Juli 2015 richtete sich NRW-Innenminister Ralf Jäger mit einem Brief an die die Verantwortlichen aller West-Vereine (Dortmund, Schalke, Köln, Leverkusen, Mönchengladbach, Münster, Düsseldorf, Duisburg und Essen). Der SPD-Politiker drängte – im Nachgang der Innenministerkonferenz in Mainz – auf eine Begrenzung der Gästekarten bei besonders riskanten Spielen. Es komme, so der Minister, zu häufig zu „Versuchen großer Störergruppen, Gewalttätigkeiten zu initiieren“. Deshalb solle „eine Pufferzone zwischen rivalisierenden Fans in Stadien eingerichtet werden“.
„Gewaltsuchende Störer fahren trotzdem zum Auswärtsspiel“
Der Brief des Innenministers zog in Deutschlands aktiven Fanszenen einen Aufschrei nach sich. Die Anhänger forderten ihre Vereine auf, sich gegen die Pläne zu stellen. Die Vereine hielten sich jedoch zunächst zurück. Einzig Borussia Mönchengladbach positionierte sich in einem dreiseitigen Brief, der unserer Redaktion vorliegt, gegen Jägers Ideen. Die angedachten Maßnahmen, also Kontingent-Kürzungen oder Personalisierungen, seien „nicht richtig“ und würden „nichts daran ändern, dass gewaltsuchende Störer (…) trotzdem zum Auswärtsspiel (…) fahren und dort in der Stadt oder im Stadion für Unruhen sorgen“.
Stephan Schippers, Unterzeichner des Schreibens, sieht in Jägers Vorschlägen „nur das letzte Mittel“. Der Geschäftsführer von Borussia Mönchengladbach erklärt im Gespräch, er kenne seine „vereinsinternen Pappenheimer“, setze aber weiterhin die Kommunikation mit den aktiven Fans: „Es geht nur über den Dialog. Wir müssen unsere Fanszene ernst, aber auch in die Pflicht nehmen.“ Dann benutzt Schippers einen Satz, den er gerne verwendet, wenn er über die aktuelle fanpolitische Situation spricht: „Wir Vereine und die Fanszenen müssen aufpassen, dass wir den Ast auf dem wir alle sitzen nicht selber absägen.“
Was Gladbachs Geschäftsführer, gleichzeitig auch aktiver DFL-Aufsichtsrat, meint: Die Vereine und ihre Fans haben es selber in der Hand. 99 Prozent der Fußballfans seien friedlich. Man müsse irgendwie in die Köpfe dieses einen Prozents hineinkommen. „Wenn es zu weiteren Ausschreitungen kommt, werden Politik, Polizei und Verbände schon bald eine Null-Toleranz-Schiene fahren. Dann dürfen vielleicht gar keine Auswärtsfans mehr mit zu den Derbys – und dann haben wir den Salat“, sagt Schippers.
Keine Auswärtsfans – für viele Fußballfans das Horrorszenario. In Italien oder den Niederlanden sind leere Gästeblöcke längst gängige Praxis. In Deutschland schwebte die Maßnahme jahrelang wie ein Damoklesschwert über den Fanszenen. Dass der DFB bereit ist, zu diesem Mittel zu greifen, demonstrierte er Anfang September. Aus Sicherheitsgründen beschloss der Verband, nach einer mehrtägigen Konferenz mit Vertretern der Drittliga-Vereine VfL Osnabrück und Preußen Münster, den Ausschluss der Gästefans für das Derby der beiden Klubs. Bei vorangegangen Aufeinandertreffen war es immer wieder zu massiven Ausschreitungen gekommen – zuletzt wurden sogar Fans rund um die Spiele verletzt. Zu viel für DFB und Polizei.
Die Fans fühlen sich nicht ernstgenommen
Die Krux: Die organisierten Fans halten solche Schritte für übereilt. Nur wenige Wochen nach dem DFB-Beschluss verließen die unabhängigen Fanorganisationen wie „ProFans“ und „Unsere Kurve“ den bestehenden Fandialog innerhalb der DFB-Kommission „Sicherheit, Prävention und Fußballkultur“. Man habe sich schlichtweg nicht mehr ernstgenommen gefühlt. „Da war eine gewisse Ohnmacht vorhanden. Von Verbandsseite hieß es immer, der Dialog sei eine Mitsprache-Möglichkeit. De facto war es aber eine Alibi-Veranstaltung“, sagt „Pro-Fans“-Sprecher Sig Zelt. Mittlerweile sei der Kampfesgeist einiger aktiver Fans einer Art Frust gewichen. „Die Verbände sehen leider nicht, dass sie sich einen großen Teil ihres Hochglanzproduktes Bundesliga selber kaputt machen – nämlich die Fankultur“, sagt Zelt.
Es ist das gleiche Argument, das vereinsübergreifend auch viele Ultra-Vertreter benutzen. „Natürlich hat die Liga andere Interessen als wir, nämlich kommerzielle. Aber ehrlich: Wäre die Liga mit toten Stadien ohne gute Stimmung, ohne Choreografien noch so gut zu vermarkten?“, fragt etwa Eike, ein Mitglied der Kölner Ultragruppe „Coloniacs“. Auch Schalker Ultravertreter äußern sich in diese Richtung.
Seb, ein Mitglied der Gladbacher Ultragruppe „Sottocultura“, gibt zu bedenken, es sei wichtig, wer mit in die Planung der Risikospiele einbezogen würde: „Da sitzen teilweise Leute am Tisch, die vom aktiven Fansein wirklich keine Ahnung haben. Warum spricht man nicht mit Personen die sich in den Fanszenen auskennen?“ Aber ist das wirklich so einfach – vor allem wenn Polizei und Politik aufgrund ihres Einschreitens für viele Ultras als Feindbild dienen? „Wir müssen von diesen Kriegsszenarien wegkommen, die vor Risikospielen gemalt werden. Durch Tausende Polizisten und Wasserwerfer wird die Ausschreitung ja fast heraufbeschworen. Wir brauchen da mehr Besonnenheit“, sagt der Gladbach-Ultra.
Tatsächlich setzen auch die Ultras auf den Dialog. „Die Vereinsführungen müssen intensiver mit den Fans sprechen. Wir müssen alle ein Verständnis füreinander entwickeln“, sagt der Kölner Eike. Ähnliche Töne kommen aus anderen Bundesligastädten. Allerdings signalisieren einige radikalere Fangruppen auch, dass sie das Spiel nicht ewig mitmachen werden. Immer wieder hört man hinter versteckter Hand: „Wir halten es auch für vorstellbar, dass die Situation irgendwann eskaliert und die Antwort auf neue Sicherheitsmaßnahmen Ausschreitungen sind.“
Die Lösungswege klingen bei allen gleich
Nicht zuletzt solche Aussagen machen deutlich, dass den Ultras in der Debatte zweifelsohne eine Schlüsselrolle zukommt. Keine andere Fan-Gruppe hat mehr Einfluss auf die Fan-Landschaft und könnte für einen friedlichen Ablauf der Spiele sorgen. Ob sich alle Ultras dieser Verantwortung bewusst sind, steht auf einem anderen Blatt.
Im Nachgang des Revierderbys am Sonntag können die Fans genau das beweisen. Gemeinsam mit ihren Vereinen, aber auch den so kritischen beäugten Verbänden, Politik und Polizei. Dialog, Verständnis, Besonnenheit – die Lösungswege klingen bei allen Konflikt-Parteien gleich. Die Frage ist nur, inwieweit diese Lösungen wirklich umzusetzen sind.
Der FC Schalke 04 machte in dieser Woche schon einen Anfang. Im Derby-Rückspiel auf Schalke wird es wohl keine personalisierten Tickets geben. „Das funktioniert nicht. Wir müssten jede Karte mit dem Personalausweis abgleichen. Dafür müssten wir das Stadion ja schon um zehn Uhr morgens öffnen“, so Peter Peters. Und: Im Rückspiel werden die Fans von Borussia Dortmund definitiv das komplette Ticket-Kontingent zur Verfügung gestellt bekommen. Zwar gibt Peters zu, 6000 Gästefans seien einfacher zu organisieren als 8000, der Schalke-Vorstand sieht die Entscheidung aber auch als Vertrauensbeweis für die Fans.
Ob der genutzt wird, liegt allein bei ihnen. Es wäre der Anfang auf einem steinigen Weg.