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Dieser Text erschien erst­mals in 11FREUNDE #223. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhält­lich.

Ha!“, ruft Günter Netzer. Wenn ich das damals gewusst hätte!“ Es ist fast auf den Tag genau fünfzig Jahre her, dass er zum ersten Mal Deut­scher Meister wurde, aber sobald es um den Meis­ter­ma­cher geht, beschleu­nigt sich sein Puls noch immer. Wie­der­holen Sie noch mal Weis­wei­lers Worte“, bittet Netzer. Sein Gesprächs­partner erzählt erneut, wie der Glad­ba­cher Trainer an einem Tag im Juli 1969 im Kreise einiger Reporter ankün­digte: Wenn wir diesmal nicht Meister werden, bin ich nächsten Sommer weg.“ Netzer holt Luft. Hätte ich das damals gewusst, wäre ich zu ihm gegangen und hätte gesagt: Dann tun Sie doch was dafür! Ändern Sie Ihre Ein­stel­lung und sorgen Sie dafür, dass wir öko­no­mi­scher Fuß­ball spielen.“

Der ewige Streit zwi­schen Netzer und Hennes Weis­weiler über die Spiel­weise der Foh­lenelf gehört zu den zen­tralen Erwe­ckungs­my­then der großen Glad­ba­cher Ära und damit auch der Gol­denen sieb­ziger Jahre des deut­schen Fuß­balls. Netzer stand nicht allein mit seiner Mei­nung, dass Hurra-Fuß­ball Herzen gewinnt, doch keine Titel. Nur wenige Wochen, bevor Weis­weiler sein Ulti­matum ver­kün­dete, saß der Münchner Jour­na­list Walter Set­ze­pfandt mit einigen Natio­nal­spie­lern zusammen. Es war Anfang Mai, und der FC Bayern hatte in der Bun­des­liga einen deut­li­chen Vor­sprung. Glad­bach war Dritter, wie im Vor­jahr. Set­ze­pfandt fragte Berti Vogts: Wann werdet ihr denn mal Meister?“ Der Glad­ba­cher ant­wor­tete: Nie.“ Diesen Dialog bekam Willi Schulz mit, der Abwehr­chef des HSV. Er lehnte sich hin­über zu den beiden und sagte: Das glaube ich auch.“

Eine der wil­desten und fol­gen­reichsten Sai­sons der His­torie

Die Geschichte, wie Vogts und Schulz schließ­lich unrecht behielten und wie Weis­weiler dann doch bei der Borussia blieb, um das große Dau­er­duell Bayern-Glad­bach ins Leben zu rufen, ist aber weit mehr als nur die Geschichte eines Trai­ners, der über seinen Schatten sprang und end­lich, end­lich ver­tei­digen ließ. Denn die Saison 1969/70, in der alles anders wurde, war eine der wil­desten und fol­gen­reichsten in der gesamten Bun­des­li­ga­his­torie. Fragt nach beim Schalker Friedel Rausch, dessen Tier­liebe in jenem Jahr durch den Biss eines Dort­munder Schä­fer­hundes auf eine schmerz­hafte Probe gestellt wurde. Bis zu jenem Derby waren Fuß­ball­fans gewohnt, sich in Sta­dien frei zu bewegen, erst danach wurden durch Zäune getrennte Blöcke ein­ge­führt.

Oder fragt nach bei Hans-Gerd König. Er war nicht nur Sta­di­on­spre­cher des 1. FC Köln, son­dern auch so etwas wie der Manager des Klubs. Als sol­cher ver­nahm er Weis­wei­lers Satz über die Meis­ter­schaft und den nächsten Sommer mit Freude. Königs Plan war es näm­lich, den Trainer heim zum Dom zu holen. Er wusste, dass Weis­wei­lers Ver­trag in Glad­bach aus­lief, er wusste natür­lich auch, dass Weis­wei­lers Frau Lie­se­lotte Ur-Köl­nerin war. Er dürfte zufrieden gewesen sein, als die Borussia sehr stot­ternd in die Saison star­tete. Wochen­lang machte König seinem Wunsch­trainer Avancen, und bald war er sich sicher, dass Weis­weiler fest an der Angel des FC hing. Als König am 5. Dezember 1969 nach Glad­bach fuhr, um an einer kleinen Feier zum 50. Geburtstag des Trai­ners teil­zu­nehmen, hatte er sogar einen Blu­men­strauß in den Farben Rot-Weiß dabei. Er über­reichte das Prä­sent, dann sah er zu, wie Borus­sias Prä­si­dent Helmut Beyer dem Jubilar gra­tu­lierte und ihm ganz nebenbei einen neuen Ver­trag anbot. Um 23.17 Uhr stand Weis­weiler auf und brummte: Ich halte jetzt die kür­zeste Rede meines Lebens: Ich sage ja.“ König fiel alle Farbe aus dem Gesicht.

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Willi Schulz und Berti Vogts mögen ­gezwei­felt haben, aber die Glad­ba­cher Fans glaubten immer an den Titel.

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Noch ein halbes Jahr­hun­dert später muss Horst Köppel lachen. Ja, an die Geschichte kann ich mich gut erin­nern“, sagt er. Wir hatten an dem Abend 5:0 gewonnen. Ich glaube, gegen Han­nover. Hennes war offenbar in Fei­er­laune. Aber die Kölner haben ihn dann ja doch noch bekommen, wenn auch erst einige Jahre später.“ Weis­weiler war sicher in guter Stim­mung, denn seine Elf führte inzwi­schen die Tabelle an und sollte wenig später auch Herbst­meister werden. Doch der Vor­sprung war nicht groß. Titel­ver­tei­diger FC Bayern und aus­ge­rechnet der 1. FC Köln lagen eben­falls gut im Rennen. Warum also ver­län­gerte Weis­weiler so früh per Hand­schlag? Er war ein Schlitzohr“, meint Netzer. Er hat gesehen, was für eine Ent­wick­lung diese junge Mann­schaft schon gemacht hatte und wel­ches Poten­tial sie noch besaß. Es wäre schon eine sehr grobe Fehl­ein­schät­zung von Weis­weiler gewesen, hätte er in dieser Phase den Klub ver­lassen.“

Der Borussia-Betriebsrat

In der Mann­schaft mit so viel Poten­tial standen junge Stürmer wie Köppel, der die hun­dert Meter in 11,4 Sekunden lief, oder der däni­sche Links­außen Ulrik Le Fevre, den Weis­weiler durch Zufall bei Vejle BK ent­deckt hatte, als er eigent­lich Johnny Hansen unter Ver­trag nehmen wollte. Aber seit dem Sommer 1969 gehörten zur Foh­len­herde eben auch knüp­pel­harte Ver­tei­diger wie Ludwig Müller und Klaus-Dieter Sieloff. Was meinen Sie, wie viele Gespräche nötig waren, bis Weis­weiler schließ­lich unsere Abwehr ver­stärkte“, seufzt Netzer. Müller war ein Muss-Transfer. Wir hatten auch die Chance, Wolf­gang Weber zu kriegen, falls Köln abge­stiegen wäre. So wurde es Sieloff. Der war nicht mehr erste Wahl in Stutt­gart und erschien mir über­ge­wichtig. Aber Weis­weiler hatte das rich­tige Näs­chen. Das hat er gut gemacht.“ Dass Trainer und Spieler ständig im Aus­tausch standen, sieht man auch an einer Nach­richt, die Ende 1969 die Runde machte: Borussia Mön­chen­glad­bach hat jetzt so etwas wie einen Betriebsrat“, mel­dete der ver­blüffte Kicker“. Gemeint war ein gewählter Spie­lerrat, der aus Netzer, Vogts sowie Mit­tel­feld­spieler Peter Diet­rich bestand und die Inter­essen der Mann­schaft ver­treten sollte. Das war damals ganz und gar nicht üblich“, sagt Netzer. Aber Weis­weiler mochte kon­tro­verse Dis­kus­sionen, weil er wusste, dass dabei immer etwas rauskam.“

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Wie Netzer und seine Kol­legen aller­dings bald erfahren sollten, gab es da eine Sache, bei der Weis­weiler sich auf keine Debatte ein­ließ: Freund­schaft. Er hatte einem alten Mit­streiter ein Ver­spre­chen gegeben und das würde er halten, selbst wenn es ihn mehr kosten sollte als eine Fuß­ball­meis­ter­schaft. Doch bevor es so weit war – bevor der Betriebsrat“ den Trainer buch­stäb­lich, aber ver­geb­lich anflehte, seine Mei­nung zu ändern –, brachte etwas anderes die Glad­ba­cher Titel­träume in Gefahr: das Wetter.

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Die här­teste Saison, die es je gab“: Schnee und Eis warfen den ganzen Spiel­plan über den Haufen.

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Für die Fohlen sollte die Rück­runde schon am 9. Januar starten, was damals nicht unge­wöhn­lich war. Doch dann brach einer der här­testen Winter des Jahr­hun­derts über Europa herein. Am Neu­jahrstag sanken die Tem­pe­ra­turen vie­ler­orts auf minus 15 Grad, sechs Tage später fiel im Flach­land mehr als ein halber Meter Schnee. An Fuß­ball war nicht zu denken. Der 18. Spieltag wurde kom­plett abge­sagt, eine Woche später fielen wieder sechs Begeg­nungen aus. Bald schleppten alle Klubs ständig drei oder vier Nach­hol­spiele mit sich rum“, erin­nert sich Köppel. Des­wegen war die Tabelle sehr unüber­sicht­lich.“ Mitte Februar stand die Gesamt­zahl der aus­ge­fal­lenen Spiele schon bei 35. Weil die WM in Mexiko unge­wöhn­lich früh begann, gab es bei der Ter­min­wahl fast keinen Frei­raum. Der DFB fasste einen radi­kalen Ent­schluss: Die letzten vier Runden des Pokals wurden ein­fach auf die nächste Saison ver­schoben. (Das Finale zwi­schen Köln und Offen­bach fand am 29. August statt.)

Mitten in diesem kom­pletten Chaos, das für die Ein­füh­rung der Win­ter­pause sorgen sollte, reiste Glad­bach zu einem der bedeut­samsten Freund­schafts­spiele der deut­schen Fuß­ball- und Poli­tik­ge­schichte: nach Israel. Weis­weiler war befreundet mit dem israe­li­schen Natio­nal­trainer Ema­nuel Schaffer und hatte ihm zuge­sagt, dass er eines Tages mit einer deut­schen Elf auf jüdi­schem Boden Fuß­ball spielen würde. Vier Tage vor dem Spiel gab es einen Ter­ror­an­schlag auf einen Swis­sair-Flug nach Tel Aviv“, sagt Köppel. Alle Insassen sind gestorben. Da wollten wir Spieler nicht mehr nach Israel fliegen. Wir hatten Angst.“ Die war kei­nes­wegs unbe­gründet. Gerade erst hatte die PLO ver­sucht, auf dem Flug­hafen Mün­chen eine Maschine zu kapern. Keiner konnte ver­stehen, warum Hennes unter diesen Umständen unbe­dingt dort spielen wollte“, sagt Köppel. Erklärt hat er uns das nicht, er schickte lieber Manager Helmut Gras­hoff vor. Dann schal­tete sich auch noch Bun­des­kanzler Willy Brandt ein. Die Sache war ja ein Poli­tikum. Am Ende flogen wir auf einer geheimen Route mit einer Maschine der Luft­waffe.“

Weis­weiler stand vor unserem Tor, mitten auf dem Rasen, und schimpfte mit den Abwehr­spie­lern!“

Günter Netzer

Das Spiel gegen die israe­li­sche Natio­nalelf, das Glad­bach vor kei­nes­wegs feind­se­ligen, son­dern viel­mehr begeis­terten Zuschauern deut­lich gewann, gilt als Wen­de­punkt in der Bezie­hung beider Länder. Aber es war auch eine große Stra­paze für die Fuß­baller. Wir sind am Don­nerstag zurück­ge­flogen“, sagt Köppel. Und am Samstag spielten wir gegen Bremen. Ganz kurz vor Schluss hat Ulrik Le Fevre das 1:0 gemacht.“ Das war Glück für die Fohlen, denn die Kölner waren gerade im Begriff, mit neun Siegen in Serie einen neuen Liga­re­kord auf­zu­stellen. Ihre Serie riss Mitte März gegen Ober­hausen. Ent­täuschte Kölner Fans drehten durch und griffen den RWO-Bus mit Steinen und Fla­schen an. Er sieht jetzt aus wie nach einem Tief­flie­ger­an­griff“, sagte der junge Co-Trainer der Gäste über das Gefährt, ein Mann namens Karl-Heinz Feld­kamp.

Nun waren nur noch die Bayern den Fohlen auf den Fersen. Im April ver­loren wir drei Spiele in Folge mit 0:1“, erin­nert sich Köppel. Da haben alle gesagt: Jetzt fallen sie doch wieder aus­ein­ander.“ Doch am vor­letzten Spieltag stand Glad­bach wei­terhin vorne und brauchte nur einen Heim­sieg unter Flut­licht gegen den HSV. Es war der 30. April 1970, ein Don­nerstag. Nach 47 Minuten stand es 4:0. Nach 85 Minuten nur noch 4:3. Ich kann mich nicht mehr an viele Dinge aus jener Zeit erin­nern“, sagt Netzer. Aber das weiß ich noch: Ich drehte mich um und sah, dass wir einen neuen Libero hatten. Weis­weiler stand vor unserem Tor, mitten auf dem Rasen, und schimpfte mit den Abwehr­spie­lern! Auf einmal war ihm das Ver­tei­digen wichtig.“ Dann war Schluss. Um 21.46 Uhr wurden im Stadt­teil Eicken die Kir­chen­glo­cken geläutet. Als DFB-Prä­si­dent Her­mann Gös­mann die Schale über­reichte, sagte er: Es war die här­teste Saison, die es jemals gab.“ Das erste Glück­wunsch­te­le­gramm, das in Glad­bach ein­traf, kam vom FC Bayern. Die Sieb­ziger hatten begonnen.

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