Ganze Spieltage abgesagt, ein Wettbewerb auf die nächste Saison verschoben: Was nach 2020 klingt, gab’s schon vor 50 Jahren, als Gladbach zum ersten Mal Meister wurde und damit die Goldenen Siebziger einläutete.
Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #223. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
„Ha!“, ruft Günter Netzer. „Wenn ich das damals gewusst hätte!“ Es ist fast auf den Tag genau fünfzig Jahre her, dass er zum ersten Mal Deutscher Meister wurde, aber sobald es um den Meistermacher geht, beschleunigt sich sein Puls noch immer. „Wiederholen Sie noch mal Weisweilers Worte“, bittet Netzer. Sein Gesprächspartner erzählt erneut, wie der Gladbacher Trainer an einem Tag im Juli 1969 im Kreise einiger Reporter ankündigte: „Wenn wir diesmal nicht Meister werden, bin ich nächsten Sommer weg.“ Netzer holt Luft. „Hätte ich das damals gewusst, wäre ich zu ihm gegangen und hätte gesagt: Dann tun Sie doch was dafür! Ändern Sie Ihre Einstellung und sorgen Sie dafür, dass wir ökonomischer Fußball spielen.“
Der ewige Streit zwischen Netzer und Hennes Weisweiler über die Spielweise der Fohlenelf gehört zu den zentralen Erweckungsmythen der großen Gladbacher Ära und damit auch der Goldenen siebziger Jahre des deutschen Fußballs. Netzer stand nicht allein mit seiner Meinung, dass Hurra-Fußball Herzen gewinnt, doch keine Titel. Nur wenige Wochen, bevor Weisweiler sein Ultimatum verkündete, saß der Münchner Journalist Walter Setzepfandt mit einigen Nationalspielern zusammen. Es war Anfang Mai, und der FC Bayern hatte in der Bundesliga einen deutlichen Vorsprung. Gladbach war Dritter, wie im Vorjahr. Setzepfandt fragte Berti Vogts: „Wann werdet ihr denn mal Meister?“ Der Gladbacher antwortete: „Nie.“ Diesen Dialog bekam Willi Schulz mit, der Abwehrchef des HSV. Er lehnte sich hinüber zu den beiden und sagte: „Das glaube ich auch.“
Die Geschichte, wie Vogts und Schulz schließlich unrecht behielten und wie Weisweiler dann doch bei der Borussia blieb, um das große Dauerduell Bayern-Gladbach ins Leben zu rufen, ist aber weit mehr als nur die Geschichte eines Trainers, der über seinen Schatten sprang und endlich, endlich verteidigen ließ. Denn die Saison 1969/70, in der alles anders wurde, war eine der wildesten und folgenreichsten in der gesamten Bundesligahistorie. Fragt nach beim Schalker Friedel Rausch, dessen Tierliebe in jenem Jahr durch den Biss eines Dortmunder Schäferhundes auf eine schmerzhafte Probe gestellt wurde. Bis zu jenem Derby waren Fußballfans gewohnt, sich in Stadien frei zu bewegen, erst danach wurden durch Zäune getrennte Blöcke eingeführt.
Oder fragt nach bei Hans-Gerd König. Er war nicht nur Stadionsprecher des 1. FC Köln, sondern auch so etwas wie der Manager des Klubs. Als solcher vernahm er Weisweilers Satz über die Meisterschaft und den nächsten Sommer mit Freude. Königs Plan war es nämlich, den Trainer heim zum Dom zu holen. Er wusste, dass Weisweilers Vertrag in Gladbach auslief, er wusste natürlich auch, dass Weisweilers Frau Lieselotte Ur-Kölnerin war. Er dürfte zufrieden gewesen sein, als die Borussia sehr stotternd in die Saison startete. Wochenlang machte König seinem Wunschtrainer Avancen, und bald war er sich sicher, dass Weisweiler fest an der Angel des FC hing. Als König am 5. Dezember 1969 nach Gladbach fuhr, um an einer kleinen Feier zum 50. Geburtstag des Trainers teilzunehmen, hatte er sogar einen Blumenstrauß in den Farben Rot-Weiß dabei. Er überreichte das Präsent, dann sah er zu, wie Borussias Präsident Helmut Beyer dem Jubilar gratulierte und ihm ganz nebenbei einen neuen Vertrag anbot. Um 23.17 Uhr stand Weisweiler auf und brummte: „Ich halte jetzt die kürzeste Rede meines Lebens: Ich sage ja.“ König fiel alle Farbe aus dem Gesicht.
Noch ein halbes Jahrhundert später muss Horst Köppel lachen. „Ja, an die Geschichte kann ich mich gut erinnern“, sagt er. „Wir hatten an dem Abend 5:0 gewonnen. Ich glaube, gegen Hannover. Hennes war offenbar in Feierlaune. Aber die Kölner haben ihn dann ja doch noch bekommen, wenn auch erst einige Jahre später.“ Weisweiler war sicher in guter Stimmung, denn seine Elf führte inzwischen die Tabelle an und sollte wenig später auch Herbstmeister werden. Doch der Vorsprung war nicht groß. Titelverteidiger FC Bayern und ausgerechnet der 1. FC Köln lagen ebenfalls gut im Rennen. Warum also verlängerte Weisweiler so früh per Handschlag? „Er war ein Schlitzohr“, meint Netzer. „Er hat gesehen, was für eine Entwicklung diese junge Mannschaft schon gemacht hatte und welches Potential sie noch besaß. Es wäre schon eine sehr grobe Fehleinschätzung von Weisweiler gewesen, hätte er in dieser Phase den Klub verlassen.“
In der Mannschaft mit so viel Potential standen junge Stürmer wie Köppel, der die hundert Meter in 11,4 Sekunden lief, oder der dänische Linksaußen Ulrik Le Fevre, den Weisweiler durch Zufall bei Vejle BK entdeckt hatte, als er eigentlich Johnny Hansen unter Vertrag nehmen wollte. Aber seit dem Sommer 1969 gehörten zur Fohlenherde eben auch knüppelharte Verteidiger wie Ludwig Müller und Klaus-Dieter Sieloff. „Was meinen Sie, wie viele Gespräche nötig waren, bis Weisweiler schließlich unsere Abwehr verstärkte“, seufzt Netzer. „Müller war ein Muss-Transfer. Wir hatten auch die Chance, Wolfgang Weber zu kriegen, falls Köln abgestiegen wäre. So wurde es Sieloff. Der war nicht mehr erste Wahl in Stuttgart und erschien mir übergewichtig. Aber Weisweiler hatte das richtige Näschen. Das hat er gut gemacht.“ Dass Trainer und Spieler ständig im Austausch standen, sieht man auch an einer Nachricht, die Ende 1969 die Runde machte: „Borussia Mönchengladbach hat jetzt so etwas wie einen Betriebsrat“, meldete der verblüffte „Kicker“. Gemeint war ein gewählter Spielerrat, der aus Netzer, Vogts sowie Mittelfeldspieler Peter Dietrich bestand und die Interessen der Mannschaft vertreten sollte. „Das war damals ganz und gar nicht üblich“, sagt Netzer. „Aber Weisweiler mochte kontroverse Diskussionen, weil er wusste, dass dabei immer etwas rauskam.“
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Wie Netzer und seine Kollegen allerdings bald erfahren sollten, gab es da eine Sache, bei der Weisweiler sich auf keine Debatte einließ: Freundschaft. Er hatte einem alten Mitstreiter ein Versprechen gegeben und das würde er halten, selbst wenn es ihn mehr kosten sollte als eine Fußballmeisterschaft. Doch bevor es so weit war – bevor der „Betriebsrat“ den Trainer buchstäblich, aber vergeblich anflehte, seine Meinung zu ändern –, brachte etwas anderes die Gladbacher Titelträume in Gefahr: das Wetter.
Für die Fohlen sollte die Rückrunde schon am 9. Januar starten, was damals nicht ungewöhnlich war. Doch dann brach einer der härtesten Winter des Jahrhunderts über Europa herein. Am Neujahrstag sanken die Temperaturen vielerorts auf minus 15 Grad, sechs Tage später fiel im Flachland mehr als ein halber Meter Schnee. An Fußball war nicht zu denken. Der 18. Spieltag wurde komplett abgesagt, eine Woche später fielen wieder sechs Begegnungen aus. „Bald schleppten alle Klubs ständig drei oder vier Nachholspiele mit sich rum“, erinnert sich Köppel. „Deswegen war die Tabelle sehr unübersichtlich.“ Mitte Februar stand die Gesamtzahl der ausgefallenen Spiele schon bei 35. Weil die WM in Mexiko ungewöhnlich früh begann, gab es bei der Terminwahl fast keinen Freiraum. Der DFB fasste einen radikalen Entschluss: Die letzten vier Runden des Pokals wurden einfach auf die nächste Saison verschoben. (Das Finale zwischen Köln und Offenbach fand am 29. August statt.)
Mitten in diesem kompletten Chaos, das für die Einführung der Winterpause sorgen sollte, reiste Gladbach zu einem der bedeutsamsten Freundschaftsspiele der deutschen Fußball- und Politikgeschichte: nach Israel. Weisweiler war befreundet mit dem israelischen Nationaltrainer Emanuel Schaffer und hatte ihm zugesagt, dass er eines Tages mit einer deutschen Elf auf jüdischem Boden Fußball spielen würde. „Vier Tage vor dem Spiel gab es einen Terroranschlag auf einen Swissair-Flug nach Tel Aviv“, sagt Köppel. „Alle Insassen sind gestorben. Da wollten wir Spieler nicht mehr nach Israel fliegen. Wir hatten Angst.“ Die war keineswegs unbegründet. Gerade erst hatte die PLO versucht, auf dem Flughafen München eine Maschine zu kapern. „Keiner konnte verstehen, warum Hennes unter diesen Umständen unbedingt dort spielen wollte“, sagt Köppel. „Erklärt hat er uns das nicht, er schickte lieber Manager Helmut Grashoff vor. Dann schaltete sich auch noch Bundeskanzler Willy Brandt ein. Die Sache war ja ein Politikum. Am Ende flogen wir auf einer geheimen Route mit einer Maschine der Luftwaffe.“
„Weisweiler stand vor unserem Tor, mitten auf dem Rasen, und schimpfte mit den Abwehrspielern!“
Das Spiel gegen die israelische Nationalelf, das Gladbach vor keineswegs feindseligen, sondern vielmehr begeisterten Zuschauern deutlich gewann, gilt als Wendepunkt in der Beziehung beider Länder. Aber es war auch eine große Strapaze für die Fußballer. „Wir sind am Donnerstag zurückgeflogen“, sagt Köppel. „Und am Samstag spielten wir gegen Bremen. Ganz kurz vor Schluss hat Ulrik Le Fevre das 1:0 gemacht.“ Das war Glück für die Fohlen, denn die Kölner waren gerade im Begriff, mit neun Siegen in Serie einen neuen Ligarekord aufzustellen. Ihre Serie riss Mitte März gegen Oberhausen. Enttäuschte Kölner Fans drehten durch und griffen den RWO-Bus mit Steinen und Flaschen an. „Er sieht jetzt aus wie nach einem Tieffliegerangriff“, sagte der junge Co-Trainer der Gäste über das Gefährt, ein Mann namens Karl-Heinz Feldkamp.
Nun waren nur noch die Bayern den Fohlen auf den Fersen. „Im April verloren wir drei Spiele in Folge mit 0:1“, erinnert sich Köppel. „Da haben alle gesagt: Jetzt fallen sie doch wieder auseinander.“ Doch am vorletzten Spieltag stand Gladbach weiterhin vorne und brauchte nur einen Heimsieg unter Flutlicht gegen den HSV. Es war der 30. April 1970, ein Donnerstag. Nach 47 Minuten stand es 4:0. Nach 85 Minuten nur noch 4:3. „Ich kann mich nicht mehr an viele Dinge aus jener Zeit erinnern“, sagt Netzer. „Aber das weiß ich noch: Ich drehte mich um und sah, dass wir einen neuen Libero hatten. Weisweiler stand vor unserem Tor, mitten auf dem Rasen, und schimpfte mit den Abwehrspielern! Auf einmal war ihm das Verteidigen wichtig.“ Dann war Schluss. Um 21.46 Uhr wurden im Stadtteil Eicken die Kirchenglocken geläutet. Als DFB-Präsident Hermann Gösmann die Schale überreichte, sagte er: „Es war die härteste Saison, die es jemals gab.“ Das erste Glückwunschtelegramm, das in Gladbach eintraf, kam vom FC Bayern. Die Siebziger hatten begonnen.
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