Seit zwei Jahren trainiert der Amerikaner Bob Bradley die ägyptische Nationalmannschaft. Es waren zwei Jahre, die er nie vergessen wird. Zwei Jahre, in denen es nur am Rande um Fußball ging.
Dem Posten des Nationaltrainers haftet in manchen Ländern das Prädikat „unerfüllbar“ an. In Brasilien meint es beinahe jeder der 200 Millionen Staatsbürger besser zu wissen als der aktuelle Amtsinhaber. Die boshaften englischen Klatschblätter nehmen ihren Nationaltrainer regelmäßig erfolgreich ins Visier – wenn diese nicht vorher an den hochtrabenden Zielen des Verbandes gescheitert sind. Selbst in Spanien war die Aufgabe, Basken, Katalanen und andere regionale Identitäten zu einer geschlossenen Einheit zu formen, vor dem ersten Titelgewinn bei der EM 2008 eine schier unüberwindbare Hürde.
Bob Bradley weiß um die Schwierigkeiten beim Anführen einer nationalen Auswahl – von 2006 an hatte er dieses Amt fünf Jahre für die USA inne. Unter Bradley gewannen die „Soccer Boys“ 2007 den Gold Cup und den zweiten Platz beim Confed-Cup in Südafrika. Im Halbfinale hatten seine Männer sensationell Spanien mit 2:0 in die Schranken gewiesen. Eine 2:4‑Pleite gegen Mexiko im Gold-Cup-Finale 2011 führte schließlich zu seiner Entlassung. Trotzdem sind die Erwartungen an einen US-Trainer kaum mit denen eines Kollegen aus Brasilien, England oder Spanien vergleichbar. Es ist ein verhältnismäßig einfacher Job.
Bob Bradley weiß das. Denn seit er im September 2011 die Auswahl Ägyptens übernahm, werden ihm Knüppel ganz anderer Größe zwischen die Beine geworfen. „Es gibt nicht viel, was nicht schiefgegangen wäre, seit ich hier im Amt bin“, sagt Bradley. Am 1. Februar 2012 verloren 74 Fans beim Spiel Al Masrys gegen Al Ahly ihr Leben. Im ersten Moment schien es sich „nur“ um eine weitere verbitterte Rivalität zu handeln, die in eine tragische Richtung gekippt war. Im Laufe der folgenden Wochen aber trat eine weitaus düsterere Wahrheit zu Tage: Die Anhängerschaft von Al Masry war schwer bewaffnet gewesen: Mit Messern, Schlagstöcken, Schwertern und Steinen hatten sie dem Lager von Al Ahly zugesetzt. Die Polizei hatte nichts getan, sich sogar geweigert, die Tore zu öffnen, um die Flucht zu ermöglichen.
Die Vokabel „Massaker“ hätte er rückblickend lieber nicht verwendet
Zwischen unzähligen Versionen von Opfern und Tätern, Verschwörungstheorien und vermeintlichen Zeugenberichten hält sich ein Gerücht bis heute beharrlich: Das Massaker sei von der Politik angestiftet worden. Als eine Art Rachakt gegen die Ultras von Al Ahly, um sich für deren Beitrag zur Ägyptischen Revolution ein knappes Jahr zuvor zu revanchieren. Im Februar 2012 hatte der „Arabische Frühling“ Präsident Hosni Mubarak nach 30-jähriger Amtszeit zum Rücktritt bewogen.
„In den ersten Wochen habe ich so viele Spiele wie irgend möglich besucht, um ein Gefühl für die Liga und seine Akteure zu bekommen“, erzählt Bob Bradley heute. Beim Blick auf den Spielplan schien das Topspiel zwischen Al Ahly und Al Masry damals unabdingbar, der Besuch war fest eingeplant. Doch als sie von den Zwischenfällen aus der Hafenstadt hörten, blieb die ägyptische Trainerriege vor dem Fernseher. Was sie dort zu sehen bekam, schockierte alle. „Zuerst wussten wir nicht wie das überhaupt passieren konnte“, erinnert sich Bradley. Heute beschreibt er es als „Massaker“. Eine Vokabel, die er als bedeutende Person des öffentlichen Lebens lieber nicht genutzt hätte.
Die Begrifflichkeit impliziert, dass die Tragödie kein Unfall oder Schicksalschlag war. Womit Bradley richtig liegt, aber im gleichen Atemzug einen Schuldigen suchte. Man musste kein Genie sein, um festzustellen, dass Bradley die Überbleibsel des Mubarak-Regimes beschuldigte, die weiterhin die politische Macht des Staates innehaben. Der ägyptische Verband rief hastig eine Pressekonferenz ein – Bradley sollte die Vorwürfe dementieren. Von Reue war beim Trainer keine Spur – bis zum heutigen Tage. „Auf den TV-Bildern sieht man, dass die Polizei einfach nur herumstand“, prangert er an und beteuert, dass der Vorfall „bis zum heutigen Tag nicht richtig aufgearbeitet“ worden sei.
In dieser heiklen Situation hätten viele erwogen, dass Land zu verlassen. Das Port-Said-Massaker entzündete Unruhen in ganz Ägypten, die Gewalt bewegte sich jenseits kontrollierbarer Grenzen. Die US-Botschaft veröffentlichte eine Mitteilung, die allen Amerikanern die Ausreise empfahl – ihre Sicherheit könne nicht länger gewährleistet werden. Bob Bradley aber packte weder seine Taschen, noch buchte er einen Flug gen Heimat. Er blieb. Und zollte den Opfern seinen Respekt, indem er mitsamt seiner Ehefrau am Friedensmarsch rund um den zentralen „Sphinx Square“ in Kairo teilnahm. Am darauffolgenden Tag versammelte er erstmals seit dem Unglück wieder die Nationalmannschaft um sich. Die Spieler waren schwer mitgenommen. Bradley meinte, „die Angst immer noch in ihren Augen zu sehen“. Kein Wunder – vor manchen war eine Umkleide zur Intensivstation für verletzte Fans geworden, wieder andere hatten Verstorbene in ihren Armen gehalten. Ein gutes Dutzend der Spieler hätte die Karriere am liebsten aufgegeben.
Bradley und sein Team halfen den Spielern durch ihren Schmerz. Durch etliche Gespräche und zugestandene Zeit zum Trauern gelang es, die Spieler nach und nach wieder an ihren Alltag zu gewöhnen, den Fokus auf sportliche Belange zurückzuerlangen. „In diesen Wochen sind wir Freunde und Brüder geworden“, so Bradley heute, „und eigenartigerweise hat das Unglück uns alle stärker gemacht.“
Die Tragödie von Port Said sollte nicht das einzige Hindernis für Bradley bleiben. Denn wenig später wurde die nationale Liga Ägyptens komplett eingestellt. Ein schwerer Rückschlag für den Nationalcoach: Das Gros seines Teams spielt nach wie vor in der heimischen Liga und wurde ab sofort nicht mehr bezahlt. Bis zum ersten WM-Qualifikationsspiel blieben genau fünf Monate. Und mit sieben Kontinentaltiteln ist Ägypten zwar afrikanischer Champion, wartet aber seit nunmehr 24 Jahren auf die Teilnahme an den weltweiten Titelspielen – die Sehnsucht nach einer WM könnte selbst in diesen Tagen größer nicht sein. „Das ist hart“, bekannte Bradley, machte aber weiter. Er organisierte Trainingslager, so oft es möglich war. Die Mannschaft reiste zu Spielen ins sudanesische Khartoum, libysche Tripolis oder libanesische Beirut.
Sechs Spiele, sechs Siege. Doch es geht erst los
Die improvisierte Findungsphase brachte tatsächlich frühe Erfolge: Das erste Qualifikationsspiel gegen Mosambique gewann Ägypten im eigenen Land mit 2:0, bevor ein knapper Sieg in Guinea anderthalb Wochen später das Zutrauen weiter wachsen ließ. Am Ende der Kampagne stand Ägypten als erste afrikanische Mannschaft fest, die alle ihre Qualifikationsspiele gewinnen konnte. „Ich sage das ungern, aber ohne die Vorfälle in Port Said wäre es nie dazu gekommen“, sagte Bradley nach den Feierlichkeiten. Trotzdem sich unterschiedliche politische Gesinnungen in einer Kabine begegneten, wurden seine Spieler zu einer Mannschaft. Zu einer Mannschaft, für die es trotz ihres einzigartigen Erfolges in der Gruppenphase sportlich jetzt erst richtig losgeht. Denn nun treffen die zehn Gruppensieger Afrikas in fünf Play-off-Kombinationen aufeinander. Ägypten zog dabei ein alles andere als leichtes Los: Die Auswahl Ghanas.
Ghana gilt als Erzfeind Bradleys, nachdem die „Black Stars“ dessen US-Team im Achtelfinale der WM 2010 in Südafrika ein Bein gestellt hatten. „Dieses Spiel in Rustenburg wird mich für immer verfolgen“, sagt Bradley zur Schmach. Er beteuert aber, keine Angst zu haben. Schließlich verfüge der westafrikanische Staat zum einen nicht mehr über die damalige Qualität, zum anderen habe er „totales Vertrauen“ in seine eigene Mannschaft. Die größte Angst Ägptens galt ohnehin dem Aufeinandertreffen mit einem arabischen Team. „Im Gegensatz zu Duellen mit Algerien oder Tunesien wird es gegen Ghana ausschließlich um Fußball und nicht um Politik gehen“, sagt Bradley in Anspielung auf den Anschlag auf einen algerischen Bus vor einem Länderspiel in Ägypten, der 2009 sechs Fans das Leben kostete. Einen weiteren Grund zur Freude lieferte die Fifa mit ihrer Ansetzung: Das Rückspiel wird Ägypten im „30 June Stadium“ von Kairo austragen. Als Heimspiel vor 30 000 Zuschauern – und somit erstmals seit der Katastrophe von Port Said überhaupt vor vollen Rängen.
Was auch immer an jenem 19. November 2013 passiert – die vergangenen zwei Jahre wird Bob Bradley sein Leben lang nicht vergessen. Das vereinte Ägypten hinter seinem Team zu wissen, muss sich wie ein Traum anfühlen. „Dieses Kapitel ist eine unglaubliche Erfahrung für uns“, stimmt Bradley ein. „Letzten Endes kanalisiert sich aber alles in der Frage, ob wir uns für die WM 2014 qualifizieren können.“ Das wichtigste Kapitel ist noch zu schreiben.