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Uru­guays Natio­nal­trainer ist nicht für sein auf­brau­sendes Gemüt bekannt. Auf Pres­se­kon­fe­renzen doziert der ehe­ma­lige Geschichts­lehrer mit ruhiger Stimme und phi­lo­so­phi­schem Ein­schlag über die Fein­heiten des Fuß­balls. Doch einmal wurde Oscar Tabarez laut. Nichts ändert sich für meinen Job oder im Umgang mit den Spie­lern! Ich werde wei­ter­ma­chen, solange die Ergeb­nisse stimmen“, fuhr er vor zwei Jahren einen Medi­en­ver­treter an. Der hatte den mitt­ler­weile 71-Jäh­rigen gefragt, ob er dar­über nach­denken würde, sein Amt nie­der­zu­legen.

Tabarez hatte damals der Öffent­lich­keit mit­ge­teilt, am Guil­lain-Barré-Syn­drom erkrankt zu sein. Eine Schä­di­gung des Ner­ven­sys­tems, die unter anderem Mus­kel­schwäche zur Folge hat. Nur wider­willig redet der Coach der Süd­ame­ri­kaner über seine Krank­heit. Ein Geheimnis macht der (dienst)älteste Übungs­leiter dieser Welt­meis­ter­schaft aber nicht daraus. Wie sollte er auch?

Die Haare dünner, das Gesicht aus­ge­mer­gelt

Zum Trai­nings­ge­lände lässt sich El Maestro“ – so nennen ihn seine Spieler ehr­fürchtig – mit einem Golf­wagen fahren. Steht Tabarez von seiner Trai­ner­bank auf, um von der Sei­ten­linie Anwei­sungen zu erteilen, nutzt er einen Arm zum Ges­ti­ku­lieren. Den anderen stützt er auf einen Krück­stock.

Seiner Auto­rität tut das keinen Abbruch. Suarez, Cavani & Co. folgen ihrem Trainer aufs Wort. Sie kennen es nicht anders. Seit zwölf Jahren ist Tabarez für die Celeste“ ver­ant­wort­lich. 20 Spieler aus dem aktu­ellen Kader fei­erten unter ihm ihr Natio­nal­mann­schafts­debüt. Die Haare des Maes­tros“ sind inzwi­schen dünner geworden. Das früher wohl­ge­nährte Gesicht sieht fast ein wenig aus­ge­mer­gelt aus. Bloß seine Lehren zeigen kei­nerlei Abnut­zungs­er­schei­nungen. Im Gegen­teil. Sie sind es, die Uru­guay wieder zu einem fuß­bal­le­risch gefürch­teten Gegner machen.

Gefürchtet war Uru­guay auch früher. Aller­dings aus den fal­schen Gründen. In den 80er Jahren waren die Him­mel­blauen als Tre­ter­truppe ver­schrien. Die Sym­bol­szene des schlechten Rufs: José Batistas Platz­ver­weis im Vor­run­den­duell mit Schott­land bei der WM 1986. Nach gerade mal 52 Sekunden wurde der Ver­tei­diger für eine üble Grät­sche gegen Gordan Stra­chan vom Feld geschickt. Nie sah ein Spieler bei einer WM-End­runde schneller die Rote Karte.

Schuld an der über­harten Gangart war garra charrua“. Sozu­sagen die fuß­bal­le­ri­sche DNA Uru­guays, die in Anleh­nung an das indi­gene Volk der Charrua diesen Namen trägt. Die im 19. Jahr­hun­dert aus­ge­rot­teten Charrua galten als gefürch­tete Krieger.

Wir fangen mit elf Mann an und mit elf Mann hören wir auch wieder auf“ 

Was jedoch einst für den unbän­digen Sie­ges­willen stand, der Uru­guay zwei WM-Titel in der Früh­phase des Fuß­balls beschert hatte – 1930 und 1950 –, per­ver­tierte zuneh­mend zu einer Lizenz zum Treten. Dafür waren die Auf­tritte der Süd­ame­ri­kaner an spie­le­ri­scher Armut kaum zu über­bieten. Bis Tabarez kam, der seinen Schütz­lingen immer noch uner­müd­lich vor­betet: Wir fangen mit elf Mann an und mit elf Mann hören wir auch wieder auf.“ 

Als Natio­nal­trainer ist es bereits seine zweite Amts­zeit. Von 1988 bis 1990 lei­tete er schon einmal die Geschicke der Celeste“. Bei der Welt­meis­ter­schaft in Ita­lien führte er sie bis ins Ach­tel­fi­nale, dann ver­suchte Tabarez sein Glück auf Ver­eins­ebene. Uru­guay war nach seinem ersten Inter­mezzo zwar nicht mehr der rüpel­hafte Haufen ver­gan­gener Tage. Aller­dings verkam die Natio­nal­mann­schaft in seiner Abwe­sen­heit zu einem zahn­losen Tiger.

Ledig­lich eine von vier mög­li­chen WM-Teil­nahmen stand zu Buche. 2002 schied Uru­guay bereits in der Vor­runde aus. Das kleine Land mit drei­ein­halb Mil­lionen Ein­woh­nern, das schon immer mehr als andere süd­ame­ri­ka­ni­sche Schwer­ge­wichte um seinen Platz im Welt­fuß­ball kämpfen musste, hatte den Anschluss ver­loren.

Wir konnten gar nicht spielen. Meine Vor­gänger haben ja nicht einmal Freund­schafts­spiele aus­tragen lassen“, erin­nert sich Tabarez an seine Rück­kehr ins Trai­neramt im Februar 2006. Der 71-Jäh­rige gestal­tete den Nach­wuchs­be­reich neu und instal­lierte ein Scou­ting-Netz­werk, um sich einen bes­seren Über­blick über die Talente des Landes zu ver­schaffen.

Viel­ver­spre­chenden Nach­wuchs­leuten legte er einen Wechsel nach Europa nahe, weil er die hei­mi­sche Liga für zu schwach befand. Eine gute Jugend­ar­beit war für Tabarez schon immer unab­ding­lich: Für jeden großen Spieler, den Uru­guay raus­bringt, bringt Bra­si­lien 20 raus und Argen­ti­nien zehn.“

Wir lernen jeden Tag von ihm“

Einer dieser großen Spieler könnte José Maria Gimenez werden. Der Innen­ver­tei­diger von Atle­tico Madrid wurde 2013 Vize­welt­meister mit Uru­guays U20 und debü­tierte noch im glei­chen Jahr für die Celeste“. Im Sommer darauf stand er als 19-Jäh­riger bei der WM in Bra­si­lien in drei von vier Spielen über die volle Distanz auf dem Platz. Nun erzielte der Abwehr­partner von Diego Godin gleich im ersten Vor­run­den­spiel gegen Ägypten den 1:0‑Siegtreffer per Kopf.

Ihren Kopf sollen Tabarez Schüler auch außer­halb des Platzes benutzen. Seine Arbeits­weise ist stark von seiner päd­ago­gi­schen Aus­bil­dung geprägt. Lesen statt Han­dy­spiele. Im Trai­nings­zen­trum außer­halb von Mon­te­video ließ er sogar eine Bücherei ein­richten. Wir haben großen Respekt vor El Maestro‘ und wir lernen jeden Tag von ihm“, ver­si­chert Kapitän Godin. Wir sind nun schon so lange zusammen. Zwi­schen uns besteht eine beson­dere Ver­bin­dung.“ Fast scheint es, als ob die gemein­same Bewun­de­rung für ihren Trainer Uru­guays Natio­nal­mann­schaft zusam­men­schweißt.

Wir müssen stark werden, ohne je unsere Zärt­lich­keit zu ver­lieren“

Denn bisher prä­sen­tieren sich die Him­mel­blauen als wür­diger Ver­treter des zwi­schen­zeit­lich ver­lo­ren­ge­gan­genen garra charrua“. Uru­guay ver­tei­digt als Kol­lektiv kom­pakt und unnach­giebig. Wenn es sein muss, stehen bei geg­ne­ri­schen Eck­bällen alle zehn Feld­spieler im eigenen Straf­raum. Die Süd­ame­ri­kaner spielen lei­den­schaft­lich, aber nicht unfair. Rodrigo Ben­tancur hat die bisher ein­zige Gelbe Karte für Uru­guay gesehen. Vorne ver­fügt die Celeste“ über das viel­leicht beste Sturmduo dieses Tur­niers, in Szene gesetzt von viel­ver­spre­chenden Mit­tel­feld­ta­lenten wie Lucas Tor­reira (Sampdoria Genua) und dem oben genannten Ben­tancur (Juventus Turin).

Und an der Sei­ten­linie? Dort ist Frank­reichs Vier­tel­fi­nal­gegner gesegnet mit einem Trainer, der eine Mann­schaft geformt hat, die aus dem Stoff der größten Erfolgs­ge­schichten des uru­gu­ay­ischen Fuß­balls gemacht ist. Hart zum Gegner und herz­lich zuein­ander. Frei nach den Worten Che Gue­varas, die eine Wand in Tabarez Eigen­heim in Mon­te­video zieren: Wir müssen stark werden, ohne je unsere Zärt­lich­keit zu ver­lieren.“