Der Text erschien erst­mals 2007, fünf Jahre nach dem ver­lo­renen Finale.

Eine Fuß­ball­saison ist ein kom­plexes Gebilde. Höhen und Tiefen, Phasen der Euphorie und der Krise wech­seln ein­ander im Laufe der Spiel­zeit ab. Mög­li­cher­weise kommt irgend­wann ein neuer Trainer, Teile des Per­so­nals ver­schwinden oder stoßen neu hinzu. Ist es also red­lich, die Dra­ma­turgie einer Saison auf fünf Minuten zu redu­zieren? Sicher nicht, und doch kommt jeder, wirk­lich jeder, mit dem man sich über Bayer Lever­kusen des Früh­jahrs 2002 unter­hält, auf bestimmte fünf Minuten zu spre­chen. Und es sind nicht etwa die letzten fünf Minuten des letzten Spiels der Saison, son­dern fünf ver­meint­lich unschein­bare Minuten ein paar Wochen zuvor.

Es ist der 20. April 2002, der 32. Spieltag, und Bayer spielt daheim gegen Werder Bremen. Fünf Punkte Vor­sprung haben die Lever­ku­sener zu diesem Zeit­punkt auf Borussia Dort­mund, das gegen den schon fast abge­stie­genen 1. FC Köln antreten muss. Die dunklen Regen­wolken, die seit Tagen über dem Rhein­land gelegen haben, sind auf einmal wie weg­ge­blasen, es ist der erste warme Früh­lingstag, ein guter Tag, um Deut­scher Meister zu werden“, wie die Süd­deut­sche Zei­tung“ später schreibt. Doch Bayer kommt schwer ins Spiel und gerät durch einen Sonn­tags­schuss von Lisztes, bei dem Tor­wart Hans-Jörg Butt keine beson­ders gute Figur abgibt, rasch in Rück­stand. Nach einer guten halben Stunde gelingt Zé Roberto der Aus­gleich, kurz darauf ver­schießt Butt einen Elf­meter, so geht es mit dem 1:1 in die Pause. Bald nach Wie­der­an­pfiff beginnen dann jene fünf Minuten, von denen noch Jahre später jeder spricht, der dabei war. Plötz­lich erscheint eine Ein­blen­dung auf der Anzei­ge­tafel der BayA­rena, Köln hat in Dort­mund den Aus­gleich geschossen. Das bedeutet: Wenn es dabei bleibt, braucht Bayer noch ein Tor, um auf sieben Punkte davon zu ziehen, dann wären sie vor­zeitig Meister. Ein Ruck geht durchs Sta­dion und auch durch die Mann­schaft, die bei­nahe wie von Sinnen alles nach vorne wirft, dabei ist doch noch mehr als eine halbe Stunde zu spielen. Am Ende der fünf Minuten schließt Ailton einen Bremer Konter zum 1:2 ab, und natür­lich gelingt Dort­mund durch einen unbe­rech­tigten Elf­meter in der Schluss­phase das 2:1. Danach hat Bayer Lever­kusen nur noch zwei Punkte Vor­sprung. Als Michael Bal­lack nach dem Duschen auf den Park­platz kommt, stemmt er sich trotzig den war­tenden Jour­na­listen ent­gegen: Was ist? Irgendwas pas­siert?“

In Wahr­heit war natür­lich eine Menge pas­siert. Bremen war der Knack­punkt für die Meis­ter­schaft“, sagt Reiner Cal­mund heute. Diese Ein­blen­dung hätte nicht kommen dürfen, und das Team hätte sich tak­tisch cle­verer ver­halten müssen.“ Cal­mund hat es sich mit belegten Bröt­chen und einem Milch­kaffee im Kamin­zimmer des Alten­burger Hofs“ gemüt­lich gemacht, einem Hotel in der Nähe seines Wohn­ortes im Ber­gi­schen Land. Wenn er von Bayer spricht, sagt er immer noch wir“, obwohl er dort 2004 als Manager aus­ge­schieden ist. Er bleibt vor­sichtig, wenn es darum geht, die aktu­elle Bayer-Füh­rung zu bewerten, doch die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Klub ist in jeder Sekunde zu spüren. Cal­mund redet gerne ohne Punkt und Komma, und jetzt, wo es um die Ereig­nisse des Früh­jahrs 2002 geht, kommt man als Gesprächs­partner höchs­tens ein Dut­zend Mal in drei Stunden zu Wort. Der Ex-Manager redet sich in einen Rausch, wie man ihn von seiner dama­ligen Mann­schaft auf dem Spiel­feld kannte, dabei wirft er sich auf dem Sofa hin- und her, soweit es der mas­sige Körper zulässt, und haut zur Beto­nung des Gesagten per­ma­nent mit der fla­chen Hand auf den Tisch.

Der Ruf als ewiger Zweiter“

Die Geschichte begann ja nicht erst 2002, sie begann spä­tes­tens im Sommer 2000. Da verlor Bayer Lever­kusen am letzten Spieltag mit 0:2 in Unter­ha­ching, ver­spielte die fast schon sichere Meis­ter­schaft und begrün­dete seinen Ruf als ewiger Zweiter“. Als Coach Chris­toph Daum wenig später wegen seiner Koka­in­af­färe zurück­treten musste, dachte man bei Bayer erst­mals über einen Trainer Klaus Topp­möller nach. Der stand beim Zweit­li­gisten 1.?FC Saar­brü­cken unter Ver­trag, ein Enga­ge­ment in Lever­kusen schei­terte damals an über­höhten Ablö­se­for­de­rungen der Saar­länder. Statt­dessen ver­pflich­tete Bayer 04 etwas über­ra­schend Berti Vogts. Weil der als Spaß­bremse galt, holte Cal­mund neben dem Co-Trainer Wolf­gang Rolff und Tor­wart-Coach Toni Schu­ma­cher den immer fröh­li­chen Ex-Natio­nal­spieler Pierre Litt­barski in den Trai­ner­stab, um die Profis bei Laune zu halten. Es war ein Schuss, der nach hinten los­ging. Litt­barski, der zuvor einige Jahre in Japan gelebt hatte, prä­sen­tierte sich als ord­nungs­lie­bender, prin­zi­pi­en­treuer Typ. Er war strenger als Berti, und Berti war fast der Stim­mungs­ma­cher“, sagt Cal­mund heute. Als Litt­barski im Trai­ning Michael Bal­lack umgrätschte, hatte er es sich mit dem Kader ver­dorben. Im Sommer hatte Bayer als Vierter zwar die Qua­li­fi­ka­ti­ons­runde für die Cham­pions League erreicht, doch die Atmo­sphäre war nach­haltig belastet.

So kam es, dass alle Trainer bis auf Schu­ma­cher am Sai­son­ende gehen mussten, und Klaus Topp­möller mit ein paar Monaten Ver­spä­tung doch noch Chef-Coach in Lever­kusen wurde. Für ihn, der allen­falls Anfang der 90er in Frank­furt mal ein ähn­lich starkes Team trai­niert hatte, ging mit dem Enga­ge­ment ein Traum in Erfül­lung. Wäh­rend der Som­mer­pause saß er in seinem Haus in Rive­nich an der Mosel und spielte an der Magnet­tafel tau­sende mög­liche Auf­stel­lungen durch. Was für Mög­lich­keiten: Allein das Mit­tel­feld mit Bal­lack, Zé Roberto, Bas­türk oder Schneider ließ Kenner mit der Zunge schnalzen. Als Topp­möller mit Cal­mund bald darauf zur U21-Welt­meis­ter­schaft flog und dabei die Mann­schafts­quar­tiere der Argen­ti­nier und Bra­si­lianer besuchte, konnte der Manager die unver­hoh­lene Begeis­te­rung des Trai­ners spüren. Er war ein Fuß­ball­kind mit rie­sigen Träumen“, sagt Cal­mund. Er hat mit dem argen­ti­ni­schen Natio­nal­trainer geredet, und dieser Moment war für ihn wie Ostern, Weih­nachten, Geburtstag und Kom­mu­nion zusammen. Er hätte sich wohl am liebsten noch ein weiß-blaues Trikot über­ge­zogen, mit­trai­niert und Auto­gramme geholt. Und diese Begeis­te­rung hat er später in Lever­kusen eins zu eins auf die Mann­schaft und das Umfeld über­tragen. Selbst mich hat er ange­steckt, und ich bin ja schon ein abge­brühter Hund.“

Andere waren da skep­ti­scher. Als die Experten ihre Pro­gnosen für die Saison 2001/02 abgaben, tauchte Bayer Lever­kusen kaum einmal im Vor­der­feld auf. Klaus Topp­möller nahm diese Ein­schät­zungen ver­wun­dert zur Kenntnis. Das Beste, was uns vor der Saison zuge­traut wurde, war Platz sieben. Udo Lattek pro­phe­zeite sogar den Absturz.“ Topp­möller gab die Pro­gnosen an seine Spieler weiter, nicht ohne hin­zu­zu­fügen, dass sie seiner Mei­nung nach den Tat­be­stand der Belei­di­gung erfüllten. Der Coach hatte zu Beginn seiner Tätig­keit mit vielen Bau­stellen zu tun. Michael Bal­lack war bei den Fans in Ungnade gefallen, als eine Aus­stiegs­klausel in seinem Ver­trag bekannt wurde. Zé Roberto wollte zu Depor­tivo La Coruña wech­seln und in der Cham­pions-League-Qua­li­fi­ka­tion gegen Roter Stern Bel­grad erst gar nicht antreten, weil ihn dies für die Euro­pa­po­kal­spiele anderer Ver­eine gesperrt hätte. Über­haupt war der Kader wäh­rend der wenig erbau­li­chen Ära Vogts in Grüpp­chen zer­fallen. Es ist Topp­möl­lers großes Ver­dienst, dass es ihm gelang, die diver­gie­renden Kräfte zu bün­deln und einem gemein­schaft­li­chen Ziel unter­zu­ordnen, das sich in einem ein­zigen Satz aus­drü­cken lässt: den schönsten Fuß­ball des Uni­ver­sums zu spielen.

Auf dem besten Weg, Everybody’s Dar­ling“ zu werden

Und sie legten gleich richtig los. In der Bun­des­liga mischte Bayer 04 von Anfang an in der Spitze mit, im DFB-Pokal mar­schierten sie durch bis ins Finale. Die Fest­tage aber waren die Abende in der Cham­pions League, wo sich das Team als die Mann­schaft des rotie­renden Kom­bi­na­ti­ons­fuß­balls, die Europas Fuß­bal­ladel die Scha­mes­röte ins Gesicht treibt“, prä­sen­tierte. So zumin­dest sah es die ita­lie­ni­sche Gaz­zetta dello Sport“. In der Vor­runde setzte sich Lever­kusen gegen den FC Bar­ce­lona, Olym­pique Lyon und Fener­bahçe Istanbul durch, in der damals noch gespielten Zwi­schen­runde gegen La Coruña, Arsenal und Juventus Turin. Dann kam das Vier­tel­fi­nale gegen den FC Liver­pool. An der Anfield Road, wo seit Men­schen­ge­denken keine deut­sche Elf mehr gewonnen hatte, unter­lagen die Lever­ku­sener 0:1, im Rück­spiel gewannen sie mit 4:2. Nach einem Spiel­ver­lauf, der nicht nur Cal­mund wieder mal an die Grenze seiner Belast­bar­keit geführt hatte, erlöste Lucio sechs Minuten vor dem Ende mit einem Gewalt­schuss ein ganzes Sta­dion, eine ganze Stadt, ach, mitt­ler­weile fast eine ganze Nation. Der Klub war auf dem besten Weg, Everybody’s Dar­ling“ zu werden.

Bayer Lever­kusen hatte es nie leicht gehabt mit den Sport­jour­na­listen. Als der Werks­klub 1979 in die Bun­des­liga auf­stieg, stand der 1.?FC Köln im Euro­pa­pokal-Halb­fi­nale und genoss noch die unge­teilte Auf­merk­sam­keit der Mei­nungs­ma­cher in der benach­barten Medi­en­stadt. Die Chefs der Sport­re­dak­tionen und die besten Reporter des Kölner Stadt-Anzeiger“, der Köl­ni­schen Rund­schau“, des Kölner Express“ und der Bild“ gingen lieber ins Mün­gers­dorfer Sta­dion, sin­nierten dann über die köl­sche Fuß­ball­seele und ver­gan­gene Fuß­ball­zeiten. Was auf der rechts­rhei­ni­schen Seite beim Bayer“ pas­sierte, inter­es­sierte nicht viele: Nach Lever­kusen wurden die Anfänger geschickt, die Volon­täre. Trotz des Nie­der­ganges des FC in den 90er Jahren hatte sich daran eigent­lich nie etwas geän­dert. Natür­lich hing das auch mit dem damals ver­brei­teten Res­sen­ti­ment zusammen: Wie viele Fans fanden auch die meisten Sport­jour­na­listen den Gedanken unsym­pa­thisch, dass ein Kon­zern wie Bayer viel Geld in die Hand nahm und so mit dem 1.?FC Köln oder anderen gewach­senen Bun­des­li­ga­klubs kon­kur­rierte – oder sie gar über­holte. Der spek­ta­ku­läre Fuß­ball, den Chris­toph Daum ab 1996 in Lever­kusen spielen ließ, änderte daran erstmal nichts Grund­sätz­li­ches.

Im Früh­jahr 2002 geschah nun auch hier eine Revo­lu­tion. Ange­lockt durch die Erfolge, beglei­teten plötz­lich Jour­na­listen die Mann­schaft, die sich sonst kaum in Lever­kusen hatten bli­cken lassen. Und auch sie ließen sich durch dieses atem­be­rau­bende Kom­bi­na­ti­ons­spiel betören. Hart­ge­sot­tene Kol­legen, die schon diverse Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaften und Olym­pi­sche Spiele hinter sich hatten, gerieten ins Schwärmen. Als Oliver Neu­ville später im Halb­fi­nale von Man­chester das 2:2 erzielte, sprang Hartmut Scherzer, mit 65 Jahren einer der Doyens der Szene, der schon 1974 in Kin­shasa über den legen­dären Box­kampf zwi­schen Muhammad Ali und George Foreman berichtet hatte, plötz­lich auf und jubelte. Selbst ihn, den Rou­ti­nier, hatte die schöne Spiel­weise der Lever­ku­sener mit­ge­rissen, er hatte die Distanz zum Objekt ver­loren. Das ist mir seit 20 Jahren nicht mehr pas­siert“, wun­derte er sich danach selbst über seinen Gefühls­aus­bruch.

Wenn nun bei den Kol­legen aus Köln, die lange Zeit so ungern nach Lever­kusen gefahren waren, die Anti­pa­thien gegen­über Bayer all­mäh­lich schwanden, lag das auch an Klaus Topp­möl­lers klarer, direkter, manchmal ent­waff­nend ein­fa­cher Art. Wie er es zum Bei­spiel schaffte, den schüch­ternen Bernd Schneider zu einem der besten Mit­tel­feld­spieler der Welt stark zur reden, das ver­blüffte und fas­zi­nierte nicht nur Ste­phan Klemm, Redak­teur beim Kölner Stadt-Anzeiger“. Der Topp­möller ging ein­fach im Trai­ning zum Schneider und sagte: ›Das kann doch gar nicht sein, dass du hier nur ein Mit­läufer bist, so wie du zockst im Trai­ning‹“, erzählt Klemm. Pro­bier diese Tricks doch auch mal im Spiel, dann hält dich keiner.“ Und dann gab er Schneider einen Stamm­platz: Du spielst immer.“ Derart gestärkt, zeigte der Schnix seine bis dahin spek­ta­ku­lärste Saison. Schnei­ders Ruf als weißer Bra­si­lianer“, als bester deut­scher Tech­niker, war begründet. Weil Topp­möller ihn gewis­ser­maßen mit Worten auf­ge­putscht hatte.

Spä­tes­tens nach dem Tri­umph gegen Liver­pool aber wurde klar, dass die vielen Spiele an der Mann­schaft nicht spurlos vor­bei­gingen. Das Team, das in der Hin­runde fast kom­plett von Ver­let­zungs­pech ver­schont geblieben war, beklagte immer mehr Weh­weh­chen und grö­ßere Bles­suren. Das Pro­blem ist ja nicht, dass du dich ver­letzt“, sagt Toni Schu­ma­cher. Das Pro­blem ist, dass du dich nicht aus­ku­rieren kannst. Das immer wieder mit ins nächste Spiel zu nehmen, das ist nicht gut.“ Einen Bal­lack oder Zé Roberto mal draußen zu lassen kam jedoch nicht in Frage, dazu war der Kader in der Breite zu schwach besetzt. Bayer ging also mehr und mehr auf dem Zahn­fleisch, und was die Über­be­las­tung nicht schaffte, das erle­digten sie selbst. Dass Stürmer Thomas Brdaric in den ent­schei­denden Wochen fehlte, hatte laut Zeit­zeugen weder mit Form­schwäche noch mit einer Ver­let­zung zu tun, son­dern allein damit, dass Brdaric von Phy­sio­the­ra­peut Dieter Trzolek ver­se­hent­lich ein All­er­gie­mittel ver­ab­reicht worden war, das auf der Doping­liste stand.

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