Heute vor 20 Jahren vergeigte Bayer Leverkusen auch die dritte von drei Titelchancen und unterlag im Champions-League-Finale mit 1:2 gegen Real Madrid. Wir erinnern an die endgültige Vizekusen-Stigmatisierung.
Das aber meint Schumacher wohl nicht, wenn er sagt, das Trzolek „seine ganze Hexenküche auffahren“ musste, um die Spieler bei Kräften zu halten. Wie auch immer, die Mannschaft musste noch einen ganzen Monat durchhalten, und immer weiter ging es im Rhythmus der englischen Wochen. Unmittelbar nach dem bitteren 1:2 gegen Bremen zeigten die Leverkusener beim 2:2 in Manchester eines ihrer besten Spiele der gesamten Saison. Drei Tage später verloren sie in Nürnberg mit 0:1 und hatten die Meisterschaft fast verspielt. „Wenn 2002 überhaupt etwas an Unterhaching erinnerte, dann dieses Spiel“, sagt Reiner Calmund. Bayer war entkräftet, kam mit dem Druck nicht klar oder beides. Für Trauerarbeit blieb freilich keine Zeit, denn schon weitere vier Tage danach stand das Halbfinalrückspiel gegen Manchester United auf dem Programm. Dass sich die Mannschaft hier durch ein 1:1 ins Endspiel kämpfte, ist nach Calmunds Meinung hauptsächlich einem Mann zu verdanken: „Danach habe ich Ballack zum Ritter geschlagen. Es war klar, dass er zu Bayern München wechseln würde und noch die WM vor der Brust hatte. Aber was er in dem Spiel abgegrätscht und weggeputzt hat, war einfach unglaublich.“
Sie hatten es also tatsächlich geschafft, und sie hatten immer noch die Chance auf das Triple, die heilige Dreifaltigkeit aus Meisterschaft, DFB-Pokalsieg und dem Triumph in der Champions League. Der Traum von der Meisterschaft platzte zuerst. Zwar gewann Bayer am letzten Spieltag gegen Hertha BSC 2:1, doch die Dortmunder gaben sich keine Blöße und bezwangen ihrerseits Bremen mit dem gleichen Ergebnis. Die Bilder von Manager Calmund, wie er nach dem Abpfiff weinend zur Fankurve spricht, haben sich bis heute ins Gedächtnis gebrannt. „Das war Enttäuschung, aber auch Erleichterung“, beteuert das Schwergewicht heute. „Wir hätten an dem Tag ja auch noch die direkte Qualifikation für die Champions League verspielen können.“ Nach dem Match gegen Manchester war Calmund in der Kabine gewesen, hatte in die müden Gesichter der Spieler geblickt und gedacht, „wie kriegen wir die müden Kaulquappen bis Samstag wieder zum Laufen“. Jetzt, nach dem Sieg, sei die ganze Anspannung von ihm abgefallen. Die Meisterschaft war dennoch verloren, und eine Woche später auch der Pokal. Die Geschichte des Berliner Finales gegen Schalke ist schnell erzählt. Leverkusen ging durch den jungen Dimitar Berbatov nach einer halben Stunde in Führung. Nachdem Berbatov eine weitere Großchance vergeben hatte, gelang Jörg Böhme unmittelbar vor der Pause mit einem nicht unhaltbaren Freistoß das 1:1. Nach Victor Agalis 1:2 brach Bayer auseinander und verlor schließlich 2:4. Und wieder konnten die Spieler das Geschehen kaum verarbeiten: Sie hatten ja noch ein letztes Finale zu spielen.
Am Tag vor dem Endspiel der Champions League in Glasgow war ein Bankett anberaumt. Viele Prominente des Fußballs waren in das noble Fünf-Sterne-Hotel gekommen, Sepp Blatter zum Beispiel, als FIFA-Präsident der oberste Fußballfunktionär, UEFA-Chef Lennart Johansson, der ehemalige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch, aber auch schottische Nationalheroen wie Sean Connery. „Eine ganze Galerie von Persönlichkeiten“, erinnert sich Meinolf Sprink. Sprink war damals Sportbeauftragter der Bayer AG, gewissermaßen der Herrscher über die vielen Weltklassesportler, die unter dem Bayer-Logo Medaillen und Meisterschaften sammeln: die Leichtathleten in Leverkusen, die Handballer in Dormagen, die Volleyballer in Wuppertal. Sprink hat die Statur eines Zehnkämpfers: breite Schultern, gut zwei Meter groß, dazu diese riesigen Hände, die bei der Begrüßung den Druck eines Schraubstocks entwickeln. Ausgestattet mit der Jovialität und Eloquenz eines Rheinländers, strahlt sein ganzer Auftritt Selbstbewusstsein aus. „Damals“, erzählt er, „sollte ich für Bayer die Tischrede halten“, denn das Englisch von Calmund und Holzhäuser „war für solche offiziellen Anlässe eher ein bisschen peinlich“. Sprachlich war das für Sprink kein Problem, weil er einige Jahre in den USA gearbeitet hatte. Als er aber die vielen Prominenten sah, die er sonst nur aus dem Fernsehen oder James-Bond-Filmen kannte, schlotterten ihm die Knie in dieser „Traumwelt“, wie er sie nennt: „Ich dachte: Was machst du jetzt hier? Ich kleines Licht von Bayer 04?“
Zunächst erhob sich Florentino Pérez, der Präsident von Real Madrid, und untermauerte mit kühler Rhetorik die Ambitionen des Klubs, der in jenen Tagen 100 Jahre alt wurde. Durch dieses Jubiläum, diese ruhmreiche Geschichte, schwang in der ganzen Ansprache mit, habe Real gewissermaßen das Recht auf den Pokal. „Der kam dabei schon als arroganter Geldsack rüber“, erzählt Sprink, was freilich für ihn eine Steilvorlage war. Als er selbst an der Reihe war, sprach er von einer langen märchenhaften Reise, an deren Ende Bayer Leverkusen nun stand. Davon, dass sie der Underdog seien, der krasse Außenseiter, der mit großen Augen auf die Großen der Fußballwelt schaute, der froh sei, Teil eines solchen Spiels sein zu dürfen. Und davon, dass sie nun, wenn es gut laufen würde im Hampden Park, sich vielleicht sogar den ganz großen Traum verwirklichen konnten. Es war eine romantische Geschichte, die Sprink erzählte, er war in diesem Moment sozusagen der Klaus Toppmöller der Fußballfunktionäre. Den meisten gefiel es. „Danach kam Blatter zu mir und bedankte sich“, sagt Sprink. Und womöglich erinnerte die Rede auch seinen berühmten Tischnachbarn an die Geschichte Schottlands, das Jahrhunderte lang gegen die Macht und Arroganz Englands gekämpft hatte. Die beiden Worte, die Sean Connery sagte, der im schottischen Kilt neben ihm saß, hat Sprink noch im Ohr: „Very remarkable.“ Bemerkenswert. Außergewöhnlich. So wie die Geschichte des Klubs in diesem Jahr.
Die Eigendynamik, die sich damals um die Bayer-Fußballer entwickelte, nennt Sprink heute „eine Art Tsunami, es wurde immer größer, wir sind von all dem überrollt worden“ – eine Erfolgswelle, welche die PR-Strategen des Konzern ironischerweise in die Bredouille brachte. Erst ein gutes halbes Jahr zuvor nämlich hatte die Bayer AG das Cholesterin-Präparat Lipobay vom Markt nehmen müssen, da es angeblich für 100 Todesfälle in den USA verantwortlich gewesen war. Der Kurs der Aktie fiel um fast 25 Prozent, der Marktwert Bayers schrumpfte um über fünf Milliarden Euro, für kurze Zeit drohte sogar die Zerschlagung des Weltunternehmens. Auch wurden Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut, alles wegen Lipobay. Die Stimmung war am Boden in der Region, die, wie es heißt, Fieber bekommt, wenn Bayer nur hustet. „Alle sind doch nur mit dem Kopf unterm Arm durch die Gegend gelaufen“, erinnert sich Sprink. Nun, im Frühjahr, standen die Prozesse in den USA an, mit ungewissem Ausgang.
Als im April und Mai 2002 die Ballacks, Schneiders und Bastürks ihr Kurzpass-Festival feierten und wenigstens im Sportteil positive Schlagzeilen schrieben, wussten die verunsicherten Marketing-Chefs damit nicht umzugehen. „Es gab eine endlose Debatte im Haus über die Frage, ob wir eine Anzeige schalten oder nicht“, rekapituliert Sprink. Der Konflikt war der: „Hier sind angeblich Menschen gestorben, auf der anderen Seite schreien wir Hurra.“ Das Ergebnis: Bayer schaltete keine Anzeige. Die Werbeeffekte durch die Tore der Fußball-GmbH waren auch so gigantisch, wie Sprink schon damals wusste. Rund 100 Millionen Euro hätte es die Bayer AG gekostet, auf anderem Wege so viel Aufmerksamkeit zu erregen, propagierte er, noch bevor das letzte Finale gespielt war. „Und damals musste ich mich noch belehren lassen, dass das zu bescheiden gerechnet war.“ Der Geschäftsführer von TEAM, dem Vermarkter der Champions League, sprach von 250 Millionen Euro – wegen der starken Marken FC Liverpool, Manchester United und Real Madrid, gegen die Leverkusen anzutreten hatte.
Am Ende dieser Saison hatte das ungeliebte Bayer, das jahrzehntelang als Werksklub verspottet und verhöhnt worden war, unglaublich große Sympathien gewonnen. Sprink packt es in einen Satz: „Die Leute hatten mit Bayer 04 ihren Frieden geschlossen.“ Lipobay ist längst nur eine Fußnote in der Geschichte des Konzerns, kaum jemand kann noch die näheren Umstände zu referieren. Die Siege der Werkself aber sind zu veritablen Mythen geronnen, fast jeder vermag die einzelnen Stationen noch nachzuerzählen. Auch Sprink wirkt in diesen Momenten nicht wie ein grauer Konzernbeauftragter, nicht wie ein Zahlenhuber, der nur schaut, ob sich das Investment lohnt, ob die Wertschöpfung stimmt. Auch er schwärmt wie ein Fußballfan. Nichts hat er vergessen: nicht die Szene, in der die Zuschauer in Old Trafford die Bayer-Elf mit Standing Ovations aus dem Theater der Träume verabschiedeten. Nicht den Freistoß im Pokalfinale, den sich Jörg Böhme zurechtlegte und „jeder im Stadion wusste, wo der ihn hinhaut, nur der Torwart nicht“. Nicht den Satz, den Calmund ihm nach dem Sieg gegen Liverpool sagte: „Wir können diesen Zug nicht mehr stoppen, und wir werden dafür einen hohen Preis bezahlen.“ Und nicht die Opferbereitschaft Michael Ballacks: „Der hat sich zum Schluss nur noch auf dem Fahrrad warm gemacht, wegen der Schmerzen, die er hatte.“
Aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Es ging ja nur noch um dieses eine Spiel. Als sie schon in Schottland waren, zeigten die Trainer dem Team ein Video mit einem Zusammenschnitt der schönsten Szenen der langen Saison in der Champions League: Tore, Jubelbilder, Traumkombinationen. Bloß nicht mehr an Bremen, an Nürnberg, an Schalke denken, und die Müdigkeit in den Knochen vergessen. „Wir waren überzeugt, dass wir das gewinnen“, sagt Toni Schumacher. Das Spiel wurde letztlich zu einem Spiegelbild dieses ganzen schönen, schrecklichen Jahres. Bayer war Real nicht nur ebenbürtig, Bayer war über weite Strecken die bessere Mannschaft. Und es war ja nicht das Real von heute, die Karikatur einer Fußballmannschaft, sondern eines mit Stars wie Figo, Roberto Carlos, Raúl und Zidane, als „sie noch kein Moos auf dem Rücken hatten“ (Calmund), sondern auf dem Zenit ihres Schaffens waren. Nach dem frühen Rückstand durch einen Kullerball von Raúl hatte Leverkusen durch Lucio bald ausgeglichen, dann aber gelang Zidane kurz vor der Halbzeit mit einem echten Traumtor, einem technisch perfekten Volleyschuss, das 2:1. Je mehr das Spiel dem Ende zuging, desto größer wurde der Druck, den Bayer auf das Tor von Real ausübte, doch immer scheiterten sie am Mann mit den 1000 Armen, dem erst während der zweiten Hälfte eingewechselten jungen Schlussmann Iker Casillas. Alleine in der Nachspielzeit hatten die Leverkusener drei erstklassige Möglichkeiten, darunter eine für den nach vorne gestürmten Torhüter Butt, aber es sollte nicht sein. „Wir hatten gedacht, der liebe Gott hätte Großes mit uns vorgehabt“, sagt Toni Schumacher, „aber nun mussten wir einsehen, dass es doch nicht so war.“
Welche Auswirkungen solch eine emotionale Achterbahnfahrt auf die Psyche eines Fußballers hat, kann man noch immer bei Thomas Brdaric heraushören, der im Champions League Finale wieder dabei sein durfte. „Wir waren nach dem Spiel wie in Trance“, erzählt Brdaric. „Was danach auf uns einstürzte, haben wir gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Beim Bankett erinnere ich mich an Sponsoren, Frauen und Tische, aber eigentlich kann ich mich kaum erinnern.“ Das Bankett fand im vornehmen Landhotel MacDonald Crutherland außerhalb von Glasgow statt. Während Trainer Klaus Toppmöller noch nachts um zwei mit seiner Gattin tapfer auf der Tanzfläche seine Runden drehte, lümmelten sich die meisten Spieler draußen in der Lobby und gaben sich Tabak und Alkohol hin.
Einer, der noch geknickter war als die anderen, war der Torwart. Das 1:0 für Madrid, so sahen es die meisten, war ein Torwartfehler gewesen, auch das 2:1 schien, bei aller Brillanz des Schusses, nicht völlig unhaltbar. „Ich habe das Spiel verloren“, sagte Butt nachher zu Schumacher. „Jetzt ist doch eh vorbei, lass erstmal sacken“, antwortete der Torwarttrainer. Doch selbst fünf Jahre danach wird Jörg Butt nicht von allen Seiten Absolution erteilt. Dass der selten überragende, aber meist solide Keeper in jenen Wochen seine Form verloren hatte, ist den meisten Gesprächspartnern im Gedächtnis geblieben. Es ist zu spüren, dass niemand Butt, der erst jüngst in Leverkusen seinen Stammplatz an den jungen René Adler verloren hat, zu nahe treten will, und dennoch: Dass Bayer mit einem überragenden Torwart die Saison nicht ohne Titel beendet hätte, ist nahezu Konsens, wenn man Schumacher mal außen vor lässt. Aber der hat ihn ja auch trainiert.
Dennoch war Butt einer von fünf Bayer-Profis, die für Deutschland zur Weltmeisterschaft nach Japan und Südkorea flogen. Dort wurden sie, wie um die Ironie des Schicksals perfekt zu machen, Vize-Weltmeister. Die anderen Leverkusener WM-Teilnehmer waren Carsten Ramelow, Michael Ballack, Bernd Schneider und Oliver Neuville. Auch Reiner Calmund war vor Ort, und noch heute witzelt mancher beim DFB, dass man ihn wohl besser nicht zum Finale nach Yokohama eingeladen hätte. Calmund selbst nimmt die Sache mit dem ihm eigenen Humor. „Ich war wenigstens froh, dass ich nach dem WM-Finale nicht auf den Rasen und mir das Konfetti um die Ohren hauen lassen musste. Aber dann kam es plötzlich vom Dach der Tribüne.“
Eine zentrale Korsettstange von Bayer fehlte bei der WM, jemand, der sonst in jedem Fall dabei gewesen wäre. Jens Nowotny ist kein Schwärmer, in seinem Fall bestätigt sich das Gesetz, dass die Fußballer das Geschehen auf dem Rasen zumeist viel rationaler und nüchterner betrachten als die Zuschauer. Dabei war er vielleicht der größte Verlierer jener legendären Spielzeit, denn er wurde im Rückspiel des Champions-League-Halbfinales gegen Manchester United mit einem Kreuzbandriss vom Platz getragen. Das war tragisch, hatte Nowotny doch bis dahin eine überragende Saison gespielt, und nun war in diesem einen Moment in der 10. Minute, als er einen harmlosen Zweikampf mit Ruud van Nistelrooy ausfocht, alles vorbei. Auch die Teilnahme an der Weltmeisterschaft.
In dieser Saison habe in Leverkusen vieles gepasst, findet Nowotny. „Sechs Jahre lang hat Christoph Daum die Arbeit vorgeleistet, er hat die Mannschaft vorbereitet auf traumhaften Fußball – aber immer irgendwo mit angezogener Handbremse, mit kontrollierter Offensive, das war unter Daum perfekt.“ Nowotny verweist darauf, dass sieben Spieler bereits unter Daum gespielt hätten, sozusagen das Gerüst der Elf aus dem Jahr 2002 bildeten. Die folgenden Monate unter Vogts, nun ja, da habe es Spannungen gegeben. Aber dann vervollständigte Toppmöller das „Gemeinschaftsprodukt“, wie es Nowotny nennt. „Toppmöller hat die Handbremse gelöst und gesagt: ›Lasst den Ball laufen, ihr könnt ja spielen.‹ Im Prinzip haben wir unter Toppmöller nichts Systematisches trainiert, keine große Taktik, jeder wusste, was wir zu machen hatten. Das hat sich perfekt ergänzt.“ Als perfekt bezeichnet Nowotny auch die „erfrischende Mischung“ im Team. Da waren auf der einen Seite die „Schachspieler“, also Spieler wie Butt, Ramelow oder er selbst, die das Spielfeld rasterten und eine große taktische Reife besaßen. Auf der anderen Seite die „Instinktfußballer“ wie Zé Roberto, Bastürk oder Schneider, technisch brillante Straßenkicker. „Denen wirft man einen Ball vor die Füße, dann spielen sie los, dann vergessen sie alles“, sagt Nowotny und lächelt.
Womöglich hatten sie einen oder zwei Schachspieler zu wenig dabei, auch Nowotnys Nebenmann Lucio war ja bekanntlich jemand, der plötzlich mit dem Ball durchbrannte und alle Systeme über den Haufen warf. „Letztlich hat die Cleverness gefehlt, die Coolness“, findet Nowotny, „wir haben zwar auf höchstem Niveau nach vorne gespielt, aber wir hätten auch mal ein Spiel mit wenigen Chancen 1:0 gewinnen müssen.“ Vielleicht war es genau das: Dass ein Champions-League-Sieger und Deutscher Meister manchmal auch einen unattraktiven Ball spielen muss, fiesen Ergebnisfußball, der auf der kalten Vernunft eines Mathematikers basiert und Kräfte spart. Nowotny will Klaus Toppmöller nicht zu stark kritisieren, aber: „Nicht wenige sagen, wenn der Daum geblieben wäre, hätten wir alle drei Titel gewonnen.“
Verbittert über die Fortsetzung der Serie als „ewiger Zweiter“ ist er dennoch nicht. „Der schöne Fußball hätte belohnt werden müssen, aber gut“, sagt er lakonisch. Vielmehr sei ihm die Tragik seines Kollegen Zoltan Sebescen nahe gegangen, der damals mit einem Meniskusriss spielte, sich durchquälte bis zum Champions-League-Finale. „Vier Wochen später war er operiert und hat geheiratet, und dann ging es nicht mehr, er konnte sich nicht mehr herankämpfen. Was ihm letztlich geblieben ist, war ein feuchter Händedruck.“ Dieses persönliche Schicksal, sagt Nowotny heute, „bleibt mir eher in Erinnerung als die vielen verpassten Gelegenheiten.“
Die meisten Beteiligten von damals haben mit jenen Wochen indes ihren Frieden gemacht. Selbst Thomas Brdaric, obwohl er meint: „Ich hätte lieber durch Glück oder Zufall einen Titel gewonnen, als tollen Fußball gespielt zu haben und unter dem Strich nichts dafür rauszukriegen.“ Dennoch überwiegt bei den meisten der Stolz, zu dieser Gruppe dazugehört zu haben. „Wir haben alles an die Wand gespielt, alles und jeden“, sagt Schumacher. „Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kommt das erst wieder richtig hoch. Es war so geil, dieser Mannschaft zuzuschauen.“ Das ging vielen so, die vorher mit Bayer 04 Leverkusen herzlich wenig anzufangen wussten. „Selbst jemand wie der Sänger Campino hat mich damals angerufen und zu diesem Wahnsinn gratuliert“, erzählt Reiner Calmund.
Und der Coach? Klaus Toppmöller hat bei Bayer Leverkusen vermutlich die schönste Zeit seiner Trainerkarriere erlebt. Beim Hamburger SV ist er danach nicht richtig glücklich geworden, mittlerweile trainiert er die georgische Nationalelf. Damals wurde er zum zweitbesten Trainer Europas gewählt. „Wir haben für unsere Arbeit im Ausland eine größere Anerkennung erfahren als in Deutschland“, sagt Toppmöller. „Wenn ich heute nach Schottland komme, sprechen mich die Leute noch immer auf das Finale gegen Real Madrid an. Und der Präsident von Girondins Bordeaux meinte erst kürzlich zu mir, er habe noch nie eine deutsche Mannschaft so Fußball spielen sehen.“ Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Anregung zu dieser Geschichte aus Schweden gekommen ist, vielleicht sind wir in Deutschland tatsächlich zu sehr auf Titel und Trophäen fixiert. Aber muss Toppmöller nicht trotzdem ein wenig traurig ums Herz werden, wenn er an das denkt, was möglich war, und an das, was am Ende übrig blieb? Toppmöller wird energisch: „Ich konnte die Kritiker nicht verstehen, die uns als Loser abgestempelt haben. Ich bin keiner, der unbedingt einen Titel will, ich finde das lächerlich. Wo soll ich mit dem ganzen Silberkrempel denn hin?“ Kann sein, dass sich da einer seine Biographie schön redet. Kann aber auch sein, dass Klaus Toppmöller, der bodenständige Junge von der Mosel, tatsächlich genau so gestrickt ist.
Wenn man Toppmöller glauben darf, hat ihm in Leverkusen nur eines richtig zugesetzt: dass er mit dieser Mannschaft, seinen Jungs, nicht weitermachen durfte. Der Abgang von Michael Ballack und Zé Roberto zum FC Bayern im Sommer 2002 war schon der Anfang vom Ende. Das Ende der von Pleiten und Pech geprägten folgenden Spielzeit sollte Toppmöller nicht mehr als Coach von Bayer 04 erleben. „Man hat solch eine tolle Mannschaft, die gut spielt und dazu auch vollkommen intakt ist“, sagt Klaus Toppmöller, “aber dann werden jedes Jahr wieder drei Spieler verkauft.“ Doch das Schicksal war schon besiegelt, bevor sein Team nach den Sternen griff. Am 13. Mai 2002, zwei Tage vor dem Champions-League-Finale, beschloss die Bayer AG die finanzielle Konsolidierung der Fußballabteilung. Danach war klar: Eine solche Elf würde es in Leverkusen nie wieder geben.
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