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Der Text erschien erst­mals 2007, fünf Jahre nach dem ver­lo­renen Finale.

Eine Fuß­ball­saison ist ein kom­plexes Gebilde. Höhen und Tiefen, Phasen der Euphorie und der Krise wech­seln ein­ander im Laufe der Spiel­zeit ab. Mög­li­cher­weise kommt irgend­wann ein neuer Trainer, Teile des Per­so­nals ver­schwinden oder stoßen neu hinzu. Ist es also red­lich, die Dra­ma­turgie einer Saison auf fünf Minuten zu redu­zieren? Sicher nicht, und doch kommt jeder, wirk­lich jeder, mit dem man sich über Bayer Lever­kusen des Früh­jahrs 2002 unter­hält, auf bestimmte fünf Minuten zu spre­chen. Und es sind nicht etwa die letzten fünf Minuten des letzten Spiels der Saison, son­dern fünf ver­meint­lich unschein­bare Minuten ein paar Wochen zuvor.

Es ist der 20. April 2002, der 32. Spieltag, und Bayer spielt daheim gegen Werder Bremen. Fünf Punkte Vor­sprung haben die Lever­ku­sener zu diesem Zeit­punkt auf Borussia Dort­mund, das gegen den schon fast abge­stie­genen 1. FC Köln antreten muss. Die dunklen Regen­wolken, die seit Tagen über dem Rhein­land gelegen haben, sind auf einmal wie weg­ge­blasen, es ist der erste warme Früh­lingstag, ein guter Tag, um Deut­scher Meister zu werden“, wie die Süd­deut­sche Zei­tung“ später schreibt. Doch Bayer kommt schwer ins Spiel und gerät durch einen Sonn­tags­schuss von Lisztes, bei dem Tor­wart Hans-Jörg Butt keine beson­ders gute Figur abgibt, rasch in Rück­stand. Nach einer guten halben Stunde gelingt Zé Roberto der Aus­gleich, kurz darauf ver­schießt Butt einen Elf­meter, so geht es mit dem 1:1 in die Pause. Bald nach Wie­der­an­pfiff beginnen dann jene fünf Minuten, von denen noch Jahre später jeder spricht, der dabei war. Plötz­lich erscheint eine Ein­blen­dung auf der Anzei­ge­tafel der BayA­rena, Köln hat in Dort­mund den Aus­gleich geschossen. Das bedeutet: Wenn es dabei bleibt, braucht Bayer noch ein Tor, um auf sieben Punkte davon zu ziehen, dann wären sie vor­zeitig Meister. Ein Ruck geht durchs Sta­dion und auch durch die Mann­schaft, die bei­nahe wie von Sinnen alles nach vorne wirft, dabei ist doch noch mehr als eine halbe Stunde zu spielen. Am Ende der fünf Minuten schließt Ailton einen Bremer Konter zum 1:2 ab, und natür­lich gelingt Dort­mund durch einen unbe­rech­tigten Elf­meter in der Schluss­phase das 2:1. Danach hat Bayer Lever­kusen nur noch zwei Punkte Vor­sprung. Als Michael Bal­lack nach dem Duschen auf den Park­platz kommt, stemmt er sich trotzig den war­tenden Jour­na­listen ent­gegen: Was ist? Irgendwas pas­siert?“

In Wahr­heit war natür­lich eine Menge pas­siert. Bremen war der Knack­punkt für die Meis­ter­schaft“, sagt Reiner Cal­mund heute. Diese Ein­blen­dung hätte nicht kommen dürfen, und das Team hätte sich tak­tisch cle­verer ver­halten müssen.“ Cal­mund hat es sich mit belegten Bröt­chen und einem Milch­kaffee im Kamin­zimmer des Alten­burger Hofs“ gemüt­lich gemacht, einem Hotel in der Nähe seines Wohn­ortes im Ber­gi­schen Land. Wenn er von Bayer spricht, sagt er immer noch wir“, obwohl er dort 2004 als Manager aus­ge­schieden ist. Er bleibt vor­sichtig, wenn es darum geht, die aktu­elle Bayer-Füh­rung zu bewerten, doch die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Klub ist in jeder Sekunde zu spüren. Cal­mund redet gerne ohne Punkt und Komma, und jetzt, wo es um die Ereig­nisse des Früh­jahrs 2002 geht, kommt man als Gesprächs­partner höchs­tens ein Dut­zend Mal in drei Stunden zu Wort. Der Ex-Manager redet sich in einen Rausch, wie man ihn von seiner dama­ligen Mann­schaft auf dem Spiel­feld kannte, dabei wirft er sich auf dem Sofa hin- und her, soweit es der mas­sige Körper zulässt, und haut zur Beto­nung des Gesagten per­ma­nent mit der fla­chen Hand auf den Tisch.

Der Ruf als ewiger Zweiter“

Die Geschichte begann ja nicht erst 2002, sie begann spä­tes­tens im Sommer 2000. Da verlor Bayer Lever­kusen am letzten Spieltag mit 0:2 in Unter­ha­ching, ver­spielte die fast schon sichere Meis­ter­schaft und begrün­dete seinen Ruf als ewiger Zweiter“. Als Coach Chris­toph Daum wenig später wegen seiner Koka­in­af­färe zurück­treten musste, dachte man bei Bayer erst­mals über einen Trainer Klaus Topp­möller nach. Der stand beim Zweit­li­gisten 1.?FC Saar­brü­cken unter Ver­trag, ein Enga­ge­ment in Lever­kusen schei­terte damals an über­höhten Ablö­se­for­de­rungen der Saar­länder. Statt­dessen ver­pflich­tete Bayer 04 etwas über­ra­schend Berti Vogts. Weil der als Spaß­bremse galt, holte Cal­mund neben dem Co-Trainer Wolf­gang Rolff und Tor­wart-Coach Toni Schu­ma­cher den immer fröh­li­chen Ex-Natio­nal­spieler Pierre Litt­barski in den Trai­ner­stab, um die Profis bei Laune zu halten. Es war ein Schuss, der nach hinten los­ging. Litt­barski, der zuvor einige Jahre in Japan gelebt hatte, prä­sen­tierte sich als ord­nungs­lie­bender, prin­zi­pi­en­treuer Typ. Er war strenger als Berti, und Berti war fast der Stim­mungs­ma­cher“, sagt Cal­mund heute. Als Litt­barski im Trai­ning Michael Bal­lack umgrätschte, hatte er es sich mit dem Kader ver­dorben. Im Sommer hatte Bayer als Vierter zwar die Qua­li­fi­ka­ti­ons­runde für die Cham­pions League erreicht, doch die Atmo­sphäre war nach­haltig belastet.

So kam es, dass alle Trainer bis auf Schu­ma­cher am Sai­son­ende gehen mussten, und Klaus Topp­möller mit ein paar Monaten Ver­spä­tung doch noch Chef-Coach in Lever­kusen wurde. Für ihn, der allen­falls Anfang der 90er in Frank­furt mal ein ähn­lich starkes Team trai­niert hatte, ging mit dem Enga­ge­ment ein Traum in Erfül­lung. Wäh­rend der Som­mer­pause saß er in seinem Haus in Rive­nich an der Mosel und spielte an der Magnet­tafel tau­sende mög­liche Auf­stel­lungen durch. Was für Mög­lich­keiten: Allein das Mit­tel­feld mit Bal­lack, Zé Roberto, Bas­türk oder Schneider ließ Kenner mit der Zunge schnalzen. Als Topp­möller mit Cal­mund bald darauf zur U21-Welt­meis­ter­schaft flog und dabei die Mann­schafts­quar­tiere der Argen­ti­nier und Bra­si­lianer besuchte, konnte der Manager die unver­hoh­lene Begeis­te­rung des Trai­ners spüren. Er war ein Fuß­ball­kind mit rie­sigen Träumen“, sagt Cal­mund. Er hat mit dem argen­ti­ni­schen Natio­nal­trainer geredet, und dieser Moment war für ihn wie Ostern, Weih­nachten, Geburtstag und Kom­mu­nion zusammen. Er hätte sich wohl am liebsten noch ein weiß-blaues Trikot über­ge­zogen, mit­trai­niert und Auto­gramme geholt. Und diese Begeis­te­rung hat er später in Lever­kusen eins zu eins auf die Mann­schaft und das Umfeld über­tragen. Selbst mich hat er ange­steckt, und ich bin ja schon ein abge­brühter Hund.“

Andere waren da skep­ti­scher. Als die Experten ihre Pro­gnosen für die Saison 2001/02 abgaben, tauchte Bayer Lever­kusen kaum einmal im Vor­der­feld auf. Klaus Topp­möller nahm diese Ein­schät­zungen ver­wun­dert zur Kenntnis. Das Beste, was uns vor der Saison zuge­traut wurde, war Platz sieben. Udo Lattek pro­phe­zeite sogar den Absturz.“ Topp­möller gab die Pro­gnosen an seine Spieler weiter, nicht ohne hin­zu­zu­fügen, dass sie seiner Mei­nung nach den Tat­be­stand der Belei­di­gung erfüllten. Der Coach hatte zu Beginn seiner Tätig­keit mit vielen Bau­stellen zu tun. Michael Bal­lack war bei den Fans in Ungnade gefallen, als eine Aus­stiegs­klausel in seinem Ver­trag bekannt wurde. Zé Roberto wollte zu Depor­tivo La Coruña wech­seln und in der Cham­pions-League-Qua­li­fi­ka­tion gegen Roter Stern Bel­grad erst gar nicht antreten, weil ihn dies für die Euro­pa­po­kal­spiele anderer Ver­eine gesperrt hätte. Über­haupt war der Kader wäh­rend der wenig erbau­li­chen Ära Vogts in Grüpp­chen zer­fallen. Es ist Topp­möl­lers großes Ver­dienst, dass es ihm gelang, die diver­gie­renden Kräfte zu bün­deln und einem gemein­schaft­li­chen Ziel unter­zu­ordnen, das sich in einem ein­zigen Satz aus­drü­cken lässt: den schönsten Fuß­ball des Uni­ver­sums zu spielen.

Auf dem besten Weg, Everybody’s Dar­ling“ zu werden

Und sie legten gleich richtig los. In der Bun­des­liga mischte Bayer 04 von Anfang an in der Spitze mit, im DFB-Pokal mar­schierten sie durch bis ins Finale. Die Fest­tage aber waren die Abende in der Cham­pions League, wo sich das Team als die Mann­schaft des rotie­renden Kom­bi­na­ti­ons­fuß­balls, die Europas Fuß­bal­ladel die Scha­mes­röte ins Gesicht treibt“, prä­sen­tierte. So zumin­dest sah es die ita­lie­ni­sche Gaz­zetta dello Sport“. In der Vor­runde setzte sich Lever­kusen gegen den FC Bar­ce­lona, Olym­pique Lyon und Fener­bahçe Istanbul durch, in der damals noch gespielten Zwi­schen­runde gegen La Coruña, Arsenal und Juventus Turin. Dann kam das Vier­tel­fi­nale gegen den FC Liver­pool. An der Anfield Road, wo seit Men­schen­ge­denken keine deut­sche Elf mehr gewonnen hatte, unter­lagen die Lever­ku­sener 0:1, im Rück­spiel gewannen sie mit 4:2. Nach einem Spiel­ver­lauf, der nicht nur Cal­mund wieder mal an die Grenze seiner Belast­bar­keit geführt hatte, erlöste Lucio sechs Minuten vor dem Ende mit einem Gewalt­schuss ein ganzes Sta­dion, eine ganze Stadt, ach, mitt­ler­weile fast eine ganze Nation. Der Klub war auf dem besten Weg, Everybody’s Dar­ling“ zu werden.

Bayer Lever­kusen hatte es nie leicht gehabt mit den Sport­jour­na­listen. Als der Werks­klub 1979 in die Bun­des­liga auf­stieg, stand der 1.?FC Köln im Euro­pa­pokal-Halb­fi­nale und genoss noch die unge­teilte Auf­merk­sam­keit der Mei­nungs­ma­cher in der benach­barten Medi­en­stadt. Die Chefs der Sport­re­dak­tionen und die besten Reporter des Kölner Stadt-Anzeiger“, der Köl­ni­schen Rund­schau“, des Kölner Express“ und der Bild“ gingen lieber ins Mün­gers­dorfer Sta­dion, sin­nierten dann über die köl­sche Fuß­ball­seele und ver­gan­gene Fuß­ball­zeiten. Was auf der rechts­rhei­ni­schen Seite beim Bayer“ pas­sierte, inter­es­sierte nicht viele: Nach Lever­kusen wurden die Anfänger geschickt, die Volon­täre. Trotz des Nie­der­ganges des FC in den 90er Jahren hatte sich daran eigent­lich nie etwas geän­dert. Natür­lich hing das auch mit dem damals ver­brei­teten Res­sen­ti­ment zusammen: Wie viele Fans fanden auch die meisten Sport­jour­na­listen den Gedanken unsym­pa­thisch, dass ein Kon­zern wie Bayer viel Geld in die Hand nahm und so mit dem 1.?FC Köln oder anderen gewach­senen Bun­des­li­ga­klubs kon­kur­rierte – oder sie gar über­holte. Der spek­ta­ku­läre Fuß­ball, den Chris­toph Daum ab 1996 in Lever­kusen spielen ließ, änderte daran erstmal nichts Grund­sätz­li­ches.

Im Früh­jahr 2002 geschah nun auch hier eine Revo­lu­tion. Ange­lockt durch die Erfolge, beglei­teten plötz­lich Jour­na­listen die Mann­schaft, die sich sonst kaum in Lever­kusen hatten bli­cken lassen. Und auch sie ließen sich durch dieses atem­be­rau­bende Kom­bi­na­ti­ons­spiel betören. Hart­ge­sot­tene Kol­legen, die schon diverse Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaften und Olym­pi­sche Spiele hinter sich hatten, gerieten ins Schwärmen. Als Oliver Neu­ville später im Halb­fi­nale von Man­chester das 2:2 erzielte, sprang Hartmut Scherzer, mit 65 Jahren einer der Doyens der Szene, der schon 1974 in Kin­shasa über den legen­dären Box­kampf zwi­schen Muhammad Ali und George Foreman berichtet hatte, plötz­lich auf und jubelte. Selbst ihn, den Rou­ti­nier, hatte die schöne Spiel­weise der Lever­ku­sener mit­ge­rissen, er hatte die Distanz zum Objekt ver­loren. Das ist mir seit 20 Jahren nicht mehr pas­siert“, wun­derte er sich danach selbst über seinen Gefühls­aus­bruch.

Wenn nun bei den Kol­legen aus Köln, die lange Zeit so ungern nach Lever­kusen gefahren waren, die Anti­pa­thien gegen­über Bayer all­mäh­lich schwanden, lag das auch an Klaus Topp­möl­lers klarer, direkter, manchmal ent­waff­nend ein­fa­cher Art. Wie er es zum Bei­spiel schaffte, den schüch­ternen Bernd Schneider zu einem der besten Mit­tel­feld­spieler der Welt stark zur reden, das ver­blüffte und fas­zi­nierte nicht nur Ste­phan Klemm, Redak­teur beim Kölner Stadt-Anzeiger“. Der Topp­möller ging ein­fach im Trai­ning zum Schneider und sagte: ›Das kann doch gar nicht sein, dass du hier nur ein Mit­läufer bist, so wie du zockst im Trai­ning‹“, erzählt Klemm. Pro­bier diese Tricks doch auch mal im Spiel, dann hält dich keiner.“ Und dann gab er Schneider einen Stamm­platz: Du spielst immer.“ Derart gestärkt, zeigte der Schnix seine bis dahin spek­ta­ku­lärste Saison. Schnei­ders Ruf als weißer Bra­si­lianer“, als bester deut­scher Tech­niker, war begründet. Weil Topp­möller ihn gewis­ser­maßen mit Worten auf­ge­putscht hatte.

Spä­tes­tens nach dem Tri­umph gegen Liver­pool aber wurde klar, dass die vielen Spiele an der Mann­schaft nicht spurlos vor­bei­gingen. Das Team, das in der Hin­runde fast kom­plett von Ver­let­zungs­pech ver­schont geblieben war, beklagte immer mehr Weh­weh­chen und grö­ßere Bles­suren. Das Pro­blem ist ja nicht, dass du dich ver­letzt“, sagt Toni Schu­ma­cher. Das Pro­blem ist, dass du dich nicht aus­ku­rieren kannst. Das immer wieder mit ins nächste Spiel zu nehmen, das ist nicht gut.“ Einen Bal­lack oder Zé Roberto mal draußen zu lassen kam jedoch nicht in Frage, dazu war der Kader in der Breite zu schwach besetzt. Bayer ging also mehr und mehr auf dem Zahn­fleisch, und was die Über­be­las­tung nicht schaffte, das erle­digten sie selbst. Dass Stürmer Thomas Brdaric in den ent­schei­denden Wochen fehlte, hatte laut Zeit­zeugen weder mit Form­schwäche noch mit einer Ver­let­zung zu tun, son­dern allein damit, dass Brdaric von Phy­sio­the­ra­peut Dieter Trzolek ver­se­hent­lich ein All­er­gie­mittel ver­ab­reicht worden war, das auf der Doping­liste stand.

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Das aber meint Schu­ma­cher wohl nicht, wenn er sagt, das Trzolek seine ganze Hexen­küche auf­fahren“ musste, um die Spieler bei Kräften zu halten. Wie auch immer, die Mann­schaft musste noch einen ganzen Monat durch­halten, und immer weiter ging es im Rhythmus der eng­li­schen Wochen. Unmit­telbar nach dem bit­teren 1:2 gegen Bremen zeigten die Lever­ku­sener beim 2:2 in Man­chester eines ihrer besten Spiele der gesamten Saison. Drei Tage später ver­loren sie in Nürn­berg mit 0:1 und hatten die Meis­ter­schaft fast ver­spielt. Wenn 2002 über­haupt etwas an Unter­ha­ching erin­nerte, dann dieses Spiel“, sagt Reiner Cal­mund. Bayer war ent­kräftet, kam mit dem Druck nicht klar oder beides. Für Trau­er­ar­beit blieb frei­lich keine Zeit, denn schon wei­tere vier Tage danach stand das Halb­fi­nal­rück­spiel gegen Man­chester United auf dem Pro­gramm. Dass sich die Mann­schaft hier durch ein 1:1 ins End­spiel kämpfte, ist nach Cal­munds Mei­nung haupt­säch­lich einem Mann zu ver­danken: Danach habe ich Bal­lack zum Ritter geschlagen. Es war klar, dass er zu Bayern Mün­chen wech­seln würde und noch die WM vor der Brust hatte. Aber was er in dem Spiel abge­grätscht und weg­ge­putzt hat, war ein­fach unglaub­lich.“

Sie hatten es also tat­säch­lich geschafft, und sie hatten immer noch die Chance auf das Triple, die hei­lige Drei­fal­tig­keit aus Meis­ter­schaft, DFB-Pokal­sieg und dem Tri­umph in der Cham­pions League. Der Traum von der Meis­ter­schaft platzte zuerst. Zwar gewann Bayer am letzten Spieltag gegen Hertha BSC 2:1, doch die Dort­munder gaben sich keine Blöße und bezwangen ihrer­seits Bremen mit dem glei­chen Ergebnis. Die Bilder von Manager Cal­mund, wie er nach dem Abpfiff wei­nend zur Fan­kurve spricht, haben sich bis heute ins Gedächtnis gebrannt. Das war Ent­täu­schung, aber auch Erleich­te­rung“, beteuert das Schwer­ge­wicht heute. Wir hätten an dem Tag ja auch noch die direkte Qua­li­fi­ka­tion für die Cham­pions League ver­spielen können.“ Nach dem Match gegen Man­chester war Cal­mund in der Kabine gewesen, hatte in die müden Gesichter der Spieler geblickt und gedacht, wie kriegen wir die müden Kaul­quappen bis Samstag wieder zum Laufen“. Jetzt, nach dem Sieg, sei die ganze Anspan­nung von ihm abge­fallen. Die Meis­ter­schaft war den­noch ver­loren, und eine Woche später auch der Pokal. Die Geschichte des Ber­liner Finales gegen Schalke ist schnell erzählt. Lever­kusen ging durch den jungen Dimitar Ber­batov nach einer halben Stunde in Füh­rung. Nachdem Ber­batov eine wei­tere Groß­chance ver­geben hatte, gelang Jörg Böhme unmit­telbar vor der Pause mit einem nicht unhalt­baren Frei­stoß das 1:1. Nach Victor Agalis 1:2 brach Bayer aus­ein­ander und verlor schließ­lich 2:4. Und wieder konnten die Spieler das Geschehen kaum ver­ar­beiten: Sie hatten ja noch ein letztes Finale zu spielen.

Am Tag vor dem End­spiel der Cham­pions League in Glasgow war ein Ban­kett anbe­raumt. Viele Pro­mi­nente des Fuß­balls waren in das noble Fünf-Sterne-Hotel gekommen, Sepp Blatter zum Bei­spiel, als FIFA-Prä­si­dent der oberste Fuß­ball­funk­tionär, UEFA-Chef Lennart Johansson, der ehe­ma­lige IOC-Prä­si­dent Juan Antonio Sama­ranch, aber auch schot­ti­sche Natio­nal­he­roen wie Sean Con­nery. Eine ganze Galerie von Per­sön­lich­keiten“, erin­nert sich Meinolf Sprink. Sprink war damals Sport­be­auf­tragter der Bayer AG, gewis­ser­maßen der Herr­scher über die vielen Welt­klas­se­sportler, die unter dem Bayer-Logo Medaillen und Meis­ter­schaften sam­meln: die Leicht­ath­leten in Lever­kusen, die Hand­baller in Dor­magen, die Vol­ley­baller in Wup­pertal. Sprink hat die Statur eines Zehn­kämp­fers: breite Schul­tern, gut zwei Meter groß, dazu diese rie­sigen Hände, die bei der Begrü­ßung den Druck eines Schraub­stocks ent­wi­ckeln. Aus­ge­stattet mit der Jovia­lität und Elo­quenz eines Rhein­län­ders, strahlt sein ganzer Auf­tritt Selbst­be­wusst­sein aus. Damals“, erzählt er, sollte ich für Bayer die Tisch­rede halten“, denn das Eng­lisch von Cal­mund und Holz­häuser war für solche offi­zi­ellen Anlässe eher ein biss­chen pein­lich“. Sprach­lich war das für Sprink kein Pro­blem, weil er einige Jahre in den USA gear­beitet hatte. Als er aber die vielen Pro­mi­nenten sah, die er sonst nur aus dem Fern­sehen oder James-Bond-Filmen kannte, schlot­terten ihm die Knie in dieser Traum­welt“, wie er sie nennt: Ich dachte: Was machst du jetzt hier? Ich kleines Licht von Bayer 04?“

Zunächst erhob sich Flo­ren­tino Pérez, der Prä­si­dent von Real Madrid, und unter­mau­erte mit kühler Rhe­torik die Ambi­tionen des Klubs, der in jenen Tagen 100 Jahre alt wurde. Durch dieses Jubi­läum, diese ruhm­reiche Geschichte, schwang in der ganzen Ansprache mit, habe Real gewis­ser­maßen das Recht auf den Pokal. Der kam dabei schon als arro­ganter Geld­sack rüber“, erzählt Sprink, was frei­lich für ihn eine Steil­vor­lage war. Als er selbst an der Reihe war, sprach er von einer langen mär­chen­haften Reise, an deren Ende Bayer Lever­kusen nun stand. Davon, dass sie der Underdog seien, der krasse Außen­seiter, der mit großen Augen auf die Großen der Fuß­ball­welt schaute, der froh sei, Teil eines sol­chen Spiels sein zu dürfen. Und davon, dass sie nun, wenn es gut laufen würde im Hampden Park, sich viel­leicht sogar den ganz großen Traum ver­wirk­li­chen konnten. Es war eine roman­ti­sche Geschichte, die Sprink erzählte, er war in diesem Moment sozu­sagen der Klaus Topp­möller der Fuß­ball­funk­tio­näre. Den meisten gefiel es. Danach kam Blatter zu mir und bedankte sich“, sagt Sprink. Und womög­lich erin­nerte die Rede auch seinen berühmten Tisch­nach­barn an die Geschichte Schott­lands, das Jahr­hun­derte lang gegen die Macht und Arro­ganz Eng­lands gekämpft hatte. Die beiden Worte, die Sean Con­nery sagte, der im schot­ti­schen Kilt neben ihm saß, hat Sprink noch im Ohr: Very remar­kable.“ Bemer­kens­wert. Außer­ge­wöhn­lich. So wie die Geschichte des Klubs in diesem Jahr.

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Die Eigen­dy­namik, die sich damals um die Bayer-Fuß­baller ent­wi­ckelte, nennt Sprink heute eine Art Tsu­nami, es wurde immer größer, wir sind von all dem über­rollt worden“ – eine Erfolgs­welle, welche die PR-Stra­tegen des Kon­zern iro­ni­scher­weise in die Bre­douille brachte. Erst ein gutes halbes Jahr zuvor näm­lich hatte die Bayer AG das Cho­le­sterin-Prä­parat Lipobay vom Markt nehmen müssen, da es angeb­lich für 100 Todes­fälle in den USA ver­ant­wort­lich gewesen war. Der Kurs der Aktie fiel um fast 25 Pro­zent, der Markt­wert Bayers schrumpfte um über fünf Mil­li­arden Euro, für kurze Zeit drohte sogar die Zer­schla­gung des Welt­un­ter­neh­mens. Auch wurden Tau­sende von Arbeits­plätzen abge­baut, alles wegen Lipobay. Die Stim­mung war am Boden in der Region, die, wie es heißt, Fieber bekommt, wenn Bayer nur hustet. Alle sind doch nur mit dem Kopf unterm Arm durch die Gegend gelaufen“, erin­nert sich Sprink. Nun, im Früh­jahr, standen die Pro­zesse in den USA an, mit unge­wissem Aus­gang.

Als im April und Mai 2002 die Bal­lacks, Schnei­ders und Bas­türks ihr Kurz­pass-Fes­tival fei­erten und wenigs­tens im Sport­teil posi­tive Schlag­zeilen schrieben, wussten die ver­un­si­cherten Mar­ke­ting-Chefs damit nicht umzu­gehen. Es gab eine end­lose Debatte im Haus über die Frage, ob wir eine Anzeige schalten oder nicht“, reka­pi­tu­liert Sprink. Der Kon­flikt war der: Hier sind angeb­lich Men­schen gestorben, auf der anderen Seite schreien wir Hurra.“ Das Ergebnis: Bayer schal­tete keine Anzeige. Die Wer­be­ef­fekte durch die Tore der Fuß­ball-GmbH waren auch so gigan­tisch, wie Sprink schon damals wusste. Rund 100 Mil­lionen Euro hätte es die Bayer AG gekostet, auf anderem Wege so viel Auf­merk­sam­keit zu erregen, pro­pa­gierte er, noch bevor das letzte Finale gespielt war. Und damals musste ich mich noch belehren lassen, dass das zu bescheiden gerechnet war.“ Der Geschäfts­führer von TEAM, dem Ver­markter der Cham­pions League, sprach von 250 Mil­lionen Euro – wegen der starken Marken FC Liver­pool, Man­chester United und Real Madrid, gegen die Lever­kusen anzu­treten hatte.

Die Leute hatten mit Bayer 04 ihren Frieden geschlossen“

Am Ende dieser Saison hatte das unge­liebte Bayer, das jahr­zehn­te­lang als Werks­klub ver­spottet und ver­höhnt worden war, unglaub­lich große Sym­pa­thien gewonnen. Sprink packt es in einen Satz: Die Leute hatten mit Bayer 04 ihren Frieden geschlossen.“ Lipobay ist längst nur eine Fuß­note in der Geschichte des Kon­zerns, kaum jemand kann noch die näheren Umstände zu refe­rieren. Die Siege der Werkself aber sind zu veri­ta­blen Mythen geronnen, fast jeder vermag die ein­zelnen Sta­tionen noch nach­zu­er­zählen. Auch Sprink wirkt in diesen Momenten nicht wie ein grauer Kon­zern­be­auf­tragter, nicht wie ein Zah­len­huber, der nur schaut, ob sich das Invest­ment lohnt, ob die Wert­schöp­fung stimmt. Auch er schwärmt wie ein Fuß­ballfan. Nichts hat er ver­gessen: nicht die Szene, in der die Zuschauer in Old Traf­ford die Bayer-Elf mit Stan­ding Ova­tions aus dem Theater der Träume ver­ab­schie­deten. Nicht den Frei­stoß im Pokal­fi­nale, den sich Jörg Böhme zurecht­legte und jeder im Sta­dion wusste, wo der ihn hin­haut, nur der Tor­wart nicht“. Nicht den Satz, den Cal­mund ihm nach dem Sieg gegen Liver­pool sagte: Wir können diesen Zug nicht mehr stoppen, und wir werden dafür einen hohen Preis bezahlen.“ Und nicht die Opfer­be­reit­schaft Michael Bal­lacks: Der hat sich zum Schluss nur noch auf dem Fahrrad warm gemacht, wegen der Schmerzen, die er hatte.“

Aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Es ging ja nur noch um dieses eine Spiel. Als sie schon in Schott­land waren, zeigten die Trainer dem Team ein Video mit einem Zusam­men­schnitt der schönsten Szenen der langen Saison in der Cham­pions League: Tore, Jubel­bilder, Traum­kom­bi­na­tionen. Bloß nicht mehr an Bremen, an Nürn­berg, an Schalke denken, und die Müdig­keit in den Kno­chen ver­gessen. Wir waren über­zeugt, dass wir das gewinnen“, sagt Toni Schu­ma­cher. Das Spiel wurde letzt­lich zu einem Spie­gel­bild dieses ganzen schönen, schreck­li­chen Jahres. Bayer war Real nicht nur eben­bürtig, Bayer war über weite Stre­cken die bes­sere Mann­schaft. Und es war ja nicht das Real von heute, die Kari­katur einer Fuß­ball­mann­schaft, son­dern eines mit Stars wie Figo, Roberto Carlos, Raúl und Zidane, als sie noch kein Moos auf dem Rücken hatten“ (Cal­mund), son­dern auf dem Zenit ihres Schaf­fens waren. Nach dem frühen Rück­stand durch einen Kul­ler­ball von Raúl hatte Lever­kusen durch Lucio bald aus­ge­gli­chen, dann aber gelang Zidane kurz vor der Halb­zeit mit einem echten Traumtor, einem tech­nisch per­fekten Vol­ley­schuss, das 2:1. Je mehr das Spiel dem Ende zuging, desto größer wurde der Druck, den Bayer auf das Tor von Real aus­übte, doch immer schei­terten sie am Mann mit den 1000 Armen, dem erst wäh­rend der zweiten Hälfte ein­ge­wech­selten jungen Schluss­mann Iker Cas­illas. Alleine in der Nach­spiel­zeit hatten die Lever­ku­sener drei erst­klas­sige Mög­lich­keiten, dar­unter eine für den nach vorne gestürmten Tor­hüter Butt, aber es sollte nicht sein. Wir hatten gedacht, der liebe Gott hätte Großes mit uns vor­ge­habt“, sagt Toni Schu­ma­cher, aber nun mussten wir ein­sehen, dass es doch nicht so war.“

Welche Aus­wir­kungen solch eine emo­tio­nale Ach­ter­bahn­fahrt auf die Psyche eines Fuß­bal­lers hat, kann man noch immer bei Thomas Brdaric her­aus­hören, der im Cham­pions League Finale wieder dabei sein durfte. Wir waren nach dem Spiel wie in Trance“, erzählt Brdaric. Was danach auf uns ein­stürzte, haben wir gar nicht mehr richtig wahr­ge­nommen. Beim Ban­kett erin­nere ich mich an Spon­soren, Frauen und Tische, aber eigent­lich kann ich mich kaum erin­nern.“ Das Ban­kett fand im vor­nehmen Land­hotel Mac­Do­nald Cru­t­her­land außer­halb von Glasgow statt. Wäh­rend Trainer Klaus Topp­möller noch nachts um zwei mit seiner Gattin tapfer auf der Tanz­fläche seine Runden drehte, lüm­melten sich die meisten Spieler draußen in der Lobby und gaben sich Tabak und Alkohol hin.

Einer, der noch geknickter war als die anderen, war der Tor­wart. Das 1:0 für Madrid, so sahen es die meisten, war ein Tor­wart­fehler gewesen, auch das 2:1 schien, bei aller Bril­lanz des Schusses, nicht völlig unhaltbar. Ich habe das Spiel ver­loren“, sagte Butt nachher zu Schu­ma­cher. Jetzt ist doch eh vorbei, lass erstmal sacken“, ant­wor­tete der Tor­wart­trainer. Doch selbst fünf Jahre danach wird Jörg Butt nicht von allen Seiten Abso­lu­tion erteilt. Dass der selten über­ra­gende, aber meist solide Keeper in jenen Wochen seine Form ver­loren hatte, ist den meisten Gesprächs­part­nern im Gedächtnis geblieben. Es ist zu spüren, dass nie­mand Butt, der erst jüngst in Lever­kusen seinen Stamm­platz an den jungen René Adler ver­loren hat, zu nahe treten will, und den­noch: Dass Bayer mit einem über­ra­genden Tor­wart die Saison nicht ohne Titel beendet hätte, ist nahezu Kon­sens, wenn man Schu­ma­cher mal außen vor lässt. Aber der hat ihn ja auch trai­niert.

Den­noch war Butt einer von fünf Bayer-Profis, die für Deutsch­land zur Welt­meis­ter­schaft nach Japan und Süd­korea flogen. Dort wurden sie, wie um die Ironie des Schick­sals per­fekt zu machen, Vize-Welt­meister. Die anderen Lever­ku­sener WM-Teil­nehmer waren Carsten Ramelow, Michael Bal­lack, Bernd Schneider und Oliver Neu­ville. Auch Reiner Cal­mund war vor Ort, und noch heute wit­zelt man­cher beim DFB, dass man ihn wohl besser nicht zum Finale nach Yoko­hama ein­ge­laden hätte. Cal­mund selbst nimmt die Sache mit dem ihm eigenen Humor. Ich war wenigs­tens froh, dass ich nach dem WM-Finale nicht auf den Rasen und mir das Kon­fetti um die Ohren hauen lassen musste. Aber dann kam es plötz­lich vom Dach der Tri­büne.“

Eine zen­trale Kor­sett­stange von Bayer fehlte bei der WM, jemand, der sonst in jedem Fall dabei gewesen wäre. Jens Nowotny ist kein Schwärmer, in seinem Fall bestä­tigt sich das Gesetz, dass die Fuß­baller das Geschehen auf dem Rasen zumeist viel ratio­naler und nüch­terner betrachten als die Zuschauer. Dabei war er viel­leicht der größte Ver­lierer jener legen­dären Spiel­zeit, denn er wurde im Rück­spiel des Cham­pions-League-Halb­fi­nales gegen Man­chester United mit einem Kreuz­band­riss vom Platz getragen. Das war tra­gisch, hatte Nowotny doch bis dahin eine über­ra­gende Saison gespielt, und nun war in diesem einen Moment in der 10. Minute, als er einen harm­losen Zwei­kampf mit Ruud van Nis­tel­rooy aus­focht, alles vorbei. Auch die Teil­nahme an der Welt­meis­ter­schaft.

In dieser Saison habe in Lever­kusen vieles gepasst, findet Nowotny. Sechs Jahre lang hat Chris­toph Daum die Arbeit vor­ge­leistet, er hat die Mann­schaft vor­be­reitet auf traum­haften Fuß­ball – aber immer irgendwo mit ange­zo­gener Hand­bremse, mit kon­trol­lierter Offen­sive, das war unter Daum per­fekt.“ Nowotny ver­weist darauf, dass sieben Spieler bereits unter Daum gespielt hätten, sozu­sagen das Gerüst der Elf aus dem Jahr 2002 bil­deten. Die fol­genden Monate unter Vogts, nun ja, da habe es Span­nungen gegeben. Aber dann ver­voll­stän­digte Topp­möller das Gemein­schafts­pro­dukt“, wie es Nowotny nennt. Topp­möller hat die Hand­bremse gelöst und gesagt: ›Lasst den Ball laufen, ihr könnt ja spielen.‹ Im Prinzip haben wir unter Topp­möller nichts Sys­te­ma­ti­sches trai­niert, keine große Taktik, jeder wusste, was wir zu machen hatten. Das hat sich per­fekt ergänzt.“ Als per­fekt bezeichnet Nowotny auch die erfri­schende Mischung“ im Team. Da waren auf der einen Seite die Schach­spieler“, also Spieler wie Butt, Ramelow oder er selbst, die das Spiel­feld ras­terten und eine große tak­ti­sche Reife besaßen. Auf der anderen Seite die Instinkt­fuß­baller“ wie Zé Roberto, Bas­türk oder Schneider, tech­nisch bril­lante Stra­ßen­ki­cker. Denen wirft man einen Ball vor die Füße, dann spielen sie los, dann ver­gessen sie alles“, sagt Nowotny und lächelt.

Der schöne Fuß­ball hätte belohnt werden müssen“

Womög­lich hatten sie einen oder zwei Schach­spieler zu wenig dabei, auch Nowotnys Neben­mann Lucio war ja bekannt­lich jemand, der plötz­lich mit dem Ball durch­brannte und alle Sys­teme über den Haufen warf. Letzt­lich hat die Cle­ver­ness gefehlt, die Cool­ness“, findet Nowotny, wir haben zwar auf höchstem Niveau nach vorne gespielt, aber wir hätten auch mal ein Spiel mit wenigen Chancen 1:0 gewinnen müssen.“ Viel­leicht war es genau das: Dass ein Cham­pions-League-Sieger und Deut­scher Meister manchmal auch einen unat­trak­tiven Ball spielen muss, fiesen Ergeb­nis­fuß­ball, der auf der kalten Ver­nunft eines Mathe­ma­ti­kers basiert und Kräfte spart. Nowotny will Klaus Topp­möller nicht zu stark kri­ti­sieren, aber: Nicht wenige sagen, wenn der Daum geblieben wäre, hätten wir alle drei Titel gewonnen.“

Ver­bit­tert über die Fort­set­zung der Serie als ewiger Zweiter“ ist er den­noch nicht. Der schöne Fuß­ball hätte belohnt werden müssen, aber gut“, sagt er lako­nisch. Viel­mehr sei ihm die Tragik seines Kol­legen Zoltan Sebe­scen nahe gegangen, der damals mit einem Menis­kus­riss spielte, sich durch­quälte bis zum Cham­pions-League-Finale. Vier Wochen später war er ope­riert und hat gehei­ratet, und dann ging es nicht mehr, er konnte sich nicht mehr her­an­kämpfen. Was ihm letzt­lich geblieben ist, war ein feuchter Hän­de­druck.“ Dieses per­sön­liche Schicksal, sagt Nowotny heute, bleibt mir eher in Erin­ne­rung als die vielen ver­passten Gele­gen­heiten.“

Die meisten Betei­ligten von damals haben mit jenen Wochen indes ihren Frieden gemacht. Selbst Thomas Brdaric, obwohl er meint: Ich hätte lieber durch Glück oder Zufall einen Titel gewonnen, als tollen Fuß­ball gespielt zu haben und unter dem Strich nichts dafür raus­zu­kriegen.“ Den­noch über­wiegt bei den meisten der Stolz, zu dieser Gruppe dazu­ge­hört zu haben. Wir haben alles an die Wand gespielt, alles und jeden“, sagt Schu­ma­cher. Wenn ich jetzt dar­über nach­denke, kommt das erst wieder richtig hoch. Es war so geil, dieser Mann­schaft zuzu­schauen.“ Das ging vielen so, die vorher mit Bayer 04 Lever­kusen herz­lich wenig anzu­fangen wussten. Selbst jemand wie der Sänger Cam­pino hat mich damals ange­rufen und zu diesem Wahn­sinn gra­tu­liert“, erzählt Reiner Cal­mund.

Und der Coach? Klaus Topp­möller hat bei Bayer Lever­kusen ver­mut­lich die schönste Zeit seiner Trai­ner­kar­riere erlebt. Beim Ham­burger SV ist er danach nicht richtig glück­lich geworden, mitt­ler­weile trai­niert er die geor­gi­sche Natio­nalelf. Damals wurde er zum zweit­besten Trainer Europas gewählt. Wir haben für unsere Arbeit im Aus­land eine grö­ßere Aner­ken­nung erfahren als in Deutsch­land“, sagt Topp­möller. Wenn ich heute nach Schott­land komme, spre­chen mich die Leute noch immer auf das Finale gegen Real Madrid an. Und der Prä­si­dent von Giron­dins Bor­deaux meinte erst kürz­lich zu mir, er habe noch nie eine deut­sche Mann­schaft so Fuß­ball spielen sehen.“ Viel­leicht ist es kein Zufall, dass die Anre­gung zu dieser Geschichte aus Schweden gekommen ist, viel­leicht sind wir in Deutsch­land tat­säch­lich zu sehr auf Titel und Tro­phäen fixiert. Aber muss Topp­möller nicht trotzdem ein wenig traurig ums Herz werden, wenn er an das denkt, was mög­lich war, und an das, was am Ende übrig blieb? Topp­möller wird ener­gisch: Ich konnte die Kri­tiker nicht ver­stehen, die uns als Loser abge­stem­pelt haben. Ich bin keiner, der unbe­dingt einen Titel will, ich finde das lächer­lich. Wo soll ich mit dem ganzen Sil­ber­krempel denn hin?“ Kann sein, dass sich da einer seine Bio­gra­phie schön redet. Kann aber auch sein, dass Klaus Topp­möller, der boden­stän­dige Junge von der Mosel, tat­säch­lich genau so gestrickt ist.

Wenn man Topp­möller glauben darf, hat ihm in Lever­kusen nur eines richtig zuge­setzt: dass er mit dieser Mann­schaft, seinen Jungs, nicht wei­ter­ma­chen durfte. Der Abgang von Michael Bal­lack und Zé Roberto zum FC Bayern im Sommer 2002 war schon der Anfang vom Ende. Das Ende der von Pleiten und Pech geprägten fol­genden Spiel­zeit sollte Topp­möller nicht mehr als Coach von Bayer 04 erleben. Man hat solch eine tolle Mann­schaft, die gut spielt und dazu auch voll­kommen intakt ist“, sagt Klaus Topp­möller, aber dann werden jedes Jahr wieder drei Spieler ver­kauft.“ Doch das Schicksal war schon besie­gelt, bevor sein Team nach den Sternen griff. Am 13. Mai 2002, zwei Tage vor dem Cham­pions-League-Finale, beschloss die Bayer AG die finan­zi­elle Kon­so­li­die­rung der Fuß­ball­ab­tei­lung. Danach war klar: Eine solche Elf würde es in Lever­kusen nie wieder geben.

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