In den vergangenen Monaten teilte Lothar Matthäus mal wieder aus. Erst Per Mertesacker, jetzt Mesut Özil. Das wirklich Traurige daran ist: Wir hatten es von ihm nicht anders erwartet.
Es ist schon ein paar Jahre her, da attackierte Lothar Matthäus seinen Nationalmannschaftskollegen Jürgen Klinsmann scharf: „Er denkt zu viel!“ Ein Vorwurf, den man Matthäus schon damals nicht machen konnte und heute auch nicht. Sonst hätte er sich wohl seine bizarre Ferndiagnose zu Mesut Özil verkniffen. Nach der 0:1‑Auftaktniederlage konstatierte Matthäus nämlich: „Özil fühlt sich nicht wohl im DFB-Trikot.“ Es war dieses noch ein „tieferer Tiefpunkt“ (Rudi Völler) einer ohnehin an Abgründen nicht armen Debatte darüber, wie ein anständiger Nationalspieler im Jahre 2018 auszusehen und wie er sich zu betragen hat.
Die tobt in beeindruckender Intensität seit jenem Abend, an dem die Nationalspieler Özil und Gündogan auf die Idee kamen, sich lächelnd mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan ablichten zu lassen, einem Autokraten, der Journalisten und Oppositionelle einsperren lässt. Was die beiden Kicker entweder als naiv oder berechnend dastehen lässt, zugleich aber eine Debatte hervorrief, in der sehr schnell klar wurde, dass den meisten Diskutanten nicht an der türkischen Demokratie gelegen ist. Stattdessen wurde offenbar, dass vielen Fans Nationalspieler mit Migrationshintergrund immer noch höchst suspekt sind – zumal dann, wenn sie sich erdreisten, ihre familiären Ursprünge und Prägungen nicht zu verleugnen.
Debile Diskussionsbeiträge
Denn das unterscheidet Özil und Gündogan von anderen Kickern mit Wurzeln im Ausland. Lukas Podolski etwa, der mit seinen Eltern aus Polen nach Deutschland kam, gab stets den Bergheimer Jungen mit kölschem Blut, so vorbildlich assimiliert, dass sie ihn in Köln gleich zum Prinz Poldi kürten. Die Rolle des vorbildlich integrierten türkischen Jungen, der es in Deutschland so gut hat, dass er gar nicht mehr an die Heimat seiner Eltern denkt – dieser Rolle hat sich Özil stets mit Recht verweigert. Da konnte die Kanzlerin noch so oft in die deutsche Kabine stürmen und ihn als Integrationswunder feiern.
Vielleicht hätte sich Özil im Laufe der letzten Wochen mal erklären sollen. Angesichts der bisweilen arg ins Debile lappenden Diskussionsbeiträge war es aber wahrscheinlich auch keine schlechte Idee, die Klappe zu halten. Manches an der Debatte wirkt dabei im Jahr 2018 besonders befremdlich, etwa die Erregung darüber, dass Mesut Özil auch vor dem Anpfiff gegen die Mexikaner nicht das „deutsche Vaterland“ besingen wollte.
Verantwortungslos und chauvinistisch
Es gibt offenbar wirklich Leute, die Nationalspielern grundsätzlich die Eignung für die Auswahl absprechen, wenn sie nicht inbrünstig und mit Hand auf dem Wappen die Nationalhymne schmettern. Erstaunlich, dass die deutsche Elf 1974 Weltmeister werden konnte, ohne zuvor kollektiv das „deutsche Vaterland“ zu preisen. Und wie es Toni Schumacher 1986 ins Finale geschafft hat, wo er doch während der Hymne nur stoisch Kaugummi kaute?
Leute wie Lothar Matthäus haben sich von schlüssigen Argumentationsketten längst verabschiedet. Es gab am Sonntag eine ganze Menge Spieler, die sich im Nationaltrikot nicht wohlzufühlen schienen. Müller, Khedira, Kroos und viele andere. Sich Özil herauszupicken, ist verantwortungslos und chauvinistisch. Aber was will man schon erwarten von Lothar Matthäus, dem Mann, der Denken als Schwäche sieht.