Er spielte für Bergmann-Borsig in der Kreisklasse und zirkelte später in der Champions League Freistöße in den Winkel: Heute hat Stefan „Paule“ Beinlich Geburtstag. Wir sprachen mit ihm über seine Karriere.
Das Interview erschien erstmals im März 2018 in 11FREUNDE #196. Das Heft findet ihr hier.
Stefan Beinlich, wie schießt man das perfekte Freistoßtor?
Natürlich mit ordentlich Schnitt über die Mauer in den Winkel. Bestenfalls aus 22 Metern, damit der Ball genug Platz zum Fallen hat, und so, dass es ordentlich am Pfosten scheppert. Innenpfosten, rein – diese Tore liebe ich noch heute.
Welches Freistoßtor war das schönste Ihrer Karriere?
Gegen Schalke habe ich mal einen in die Torwartecke gesetzt. Da hatte Oli Reck falsch spekuliert, der Ball landete wunderbar im Winkel. Oder 1997 in Dortmund. Wir bekamen fast an der Strafraumkante einen Freistoß zugesprochen. Ich flankte den Ball ins Getümmel und Erik Meijer nickte ein – aber der Schiedsrichter pfiff uns zurück, weil ich den Freistoß zu früh ausgeführt hatte. Bei der Wiederholung dachte ich: „Dann schweiße ich den halt direkt ein.“ Also lud ich ab, Stefan Klos sah den Ball zu spät, und der schlug volle Möhre ein.
Wo haben Sie das gelernt?
Bevor ich nach Leverkusen kam, galt ich nie als Experte, weder in Rostock noch bei Aston Villa. Erst bei Bayer 04 habe ich angefangen, nach dem Training Freistöße zu üben. Mein Vorteil war, dass ich als Knirps technisch sehr gut ausgebildet wurde.
Sie kickten zehn Jahre lang in der Jugend des BFC Dynamo.
Die Ausbildung war großartig für mich, aber sie war auch knallhart. Schon als Jugendliche sind wir jeden Sommer für zwei Wochen ins Trainingslager gefahren. Dort hatten wie vier Einheiten am Tag und haben gegessen wie ausgewachsene Gewichtheber. Schon zum Frühstück gab es Puddingsuppe oder Steak mit Ei. Nachmittags mussten wir eine Stunde schlafen, abends ging es zur Regeneration in die Sauna – als 13-Jährige. Das war nicht ohne.
Wer war damals Ihr Idol?
Litti (Pierre Littbarski, d. Red.)! Ich wusste nicht mal, dass er ein Berliner Junge ist, er spielte ja in Köln. Aber ich fand die Art, wie er Fußball spielte, geil. Und die O‑Beine haben mich fasziniert. Als Kind habe ich mir oft vor dem Schlafen einen Ball zwischen die Beine geklemmt, weil ich unbedingt auch solche O‑Beine bekommen wollte.
Als 16-Jähriger ging es für Sie aus gesundheitlichen Gründen beim BFC nicht weiter.
Die Ärzte erzählten mir, dass ich tot umfallen würde, wenn ich im falschen Moment einen Ball auf die Brust geschossen bekäme.
Glücklicherweise leben Sie noch.
Die Herzrhythmusstörungen, die im Januar 1988 bei mir festgestellt wurden, waren nicht erfunden. Die hatte ich wirklich. Allerdings haben 60 Prozent der Leistungssportler diese Störungen, die unter Belastung aber in der Regel verschwinden. Mein Problem war meine Tante im Westen. Für unsere Oberen war es scheinbar nicht in Ordnung, eine Verwandte in Hamburg zu haben. Doch statt das offen zu formulieren, wurde mein Herz als Grund vorgeschoben. Allerdings nicht ohne den grandiosen Nachsatz, dass Fußball zwar lebensgefährlich für mich sei, ich aber Volleyball problemlos spielen könne.
Warum sind Sie trotzdem Fußballer geworden?
Meine Mutter ist Ärztin, sie hatte von Anfang an Zweifel an der Diagnose. Also machte sie sich bei Kollegen schlau, und Ärzte, die nichts mit dem BFC zu tun hatten, gaben mir ein Jahr später Entwarnung. Als ich im März 1989 erfuhr, dass ich wieder kicken dürfte, meldete ich mich bei Bergmann-Borsig an. Ich machte in dem Betrieb schon eine Ausbildung zum Elektriker und spielte dann parallel in der A‑Jugend-Kreisklasse.
Ein halbes Jahr später fiel die Mauer. Wie haben Sie den Abend der Abende erlebt?
Im Bett. Den Mauerfall habe ich verpennt. In der Lehre musste ich sehr früh aufstehen, dementsprechend zeitig bin ich ins Bett gegangen. Als ich morgens pünktlich um 6.15 Uhr auf Arbeit aufkreuzte, war quasi keine Sau da. Ich habe mich natürlich gewundert und irgendwann mal rumgefragt, was denn los sei. Also erklärte mir ein Kollege: „Du, Stefan: Da ist so ein bisschen die Mauer aufgegangen.“
Wie viel DDR steckt denn heute noch in Ihnen?
Ich sage immer noch „fetzig“! Ansonsten kann ich mich noch gut an „Mondos“ erinnern, die Ost-Kondome. Allerdings nur, weil ich damit zu DDR-Zeiten nix zu tun hatte. Ich war ein Spät-Entwickler. (Lacht.)
Trotzdem wagten Sie mit 19 Jahren zusammen mit Matthias Breitkreuz den Schritt nach England. Wie kam Aston Villa darauf, zwei Drittligaspieler aus Berlin zu verpflichten?
Unser Glück war ein Scout, der uns im Trainingslager in Holland beobachtet hatte. In den Testspielen waren Matze und ich sehr treffsicher, danach funkte der englische Scout nach Birmingham, dass man auf diese zwei Jungs von Bergmann-Borsig mal ein Auge haben sollte. Irgendwann kamen die Verantwortlichen von Villa tatsächlich in die Nordendarena nach Berlin-Wilhelmsruh – und müssen sich vorgekommen sein wie im falschen Film.
Warum?
Weil die Nordendarena eine Gartenanlage mit zwei Traversen zum Stehen ist. Und wir vor höchstens 200 Zuschauern gegen Spandau spielten. Aber Matze machte zwei Tore, ich spielte auch gut und nach dem Spiel luden uns die Männer beim Gespräch in der kleinen Gartenkneipe nach England ein.
Klingt nach einem Fußballmärchen.
Das war es auch. Ich war zuvor noch nie geflogen, plötzlich saß ich in der ersten Klasse Richtung Birmingham. Am Flughafen holte uns der Fahrer des Präsidenten mit einem Rolls-Royce ab, gepennt haben wir im 17. Stock des Hyatt-Hotels mit Blick über die ganze Stadt. Ein paar Tage später war die Sache fix.
Ging Ihnen das nicht ein bisschen zu schnell?
Ich hatte in Berlin eine Woche Zeit, alles zu regeln. Da ich offiziell arbeitslos gemeldet war, musste ich erstmal zum Amt dackeln. Am Schalter traf ich auf einen ehemaligen Klassenkameraden aus der Grundschule. Ich sagte: „Du, ich bin nicht mehr arbeitslos. Ich habe vorgestern bei Aston Villa einen Profivertrag unterschrieben.“ Der hat mich angeguckt wie ein Auto.
Auch Ihre Wohnsituation änderte sich drastisch.
In England hatten meine Freundin und ich plötzlich ein eigenes Haus. Mit Gästezimmer, großer Küche, zwei Badezimmern, einem Garten und Dwight Yorke als Nachbarn. In Berlin hatte ich mir bis dahin in der Dreiraumwohnung meiner Eltern ein Zimmer mit meinem jüngeren Bruder geteilt. Das war so klein, dass einer auf einem Rollbett schlief, welches wir immer nachts ins Zimmer schieben mussten.
Sportlich lief es für Sie bei Villa nicht immer nach Plan. In drei Jahren machten Sie für die erste Mannschaft nur 17 Spiele.
Ich war einfach noch nicht so weit, vor allem körperlich. In meinem ersten Einsatz, gegen Nottingham Forest, traf ich in einem Zweikampf direkt auf Stuart Pearce. Als ich den Ball annehmen wollte, flog ich im nächsten Moment auch schon über die Bande und bis in die dritte Reihe. Es war nicht mal ein Foul, der Mann hatte einfach nur seinen Körper reingestellt. Er guckte mich an und sagte: „German? What do you want?“
Welche berüchtigten Spieler sind Ihnen noch über den Weg gelaufen?
Vor einem Spiel gegen Wimbledon stapfte Vinnie Jones mit Turban auf dem Kopf durch die Katakomben und brüllte rum. Dabei war er gar nicht verletzt. Er wollte uns bloß einschüchtern. Ehrlicherweise muss ich zugeben: Das hat er ganz gut hinbekommen. Auch John Fashanu war übel. Der hat hier mal einen Ellenbogen verteilt, dort mal einen Ellenbogen verteilt, das volle Programm eben.
Schwer verletzt haben Sie sich allerdings nur in der Bundesliga.
Meine Karriere endete nach einer Grätsche von Duisburgs Tararache, weil sich dabei Stücke vom Knorpel in meinem Knie lösten. Zehn Jahre zuvor hatte mir Thomas Gravesen vom HSV per Ellbogen das Jochbein und den Kiefer zertrümmert. Auf den Fernsehbildern sieht es so aus, als hätte er es mit Absicht getan. Entschuldigt hat er sich dafür leider nie.
Wahrscheinlich hatte er die Faxen dicke, weil Sie mit Leverkusen so haushoch überlegen waren.
Vielleicht. Wir hatten damals eine phantastische Mannschaft: Zé Roberto, Kirsten, Emerson, Ballack, Neuville, Schneider. Dazu mit Christoph Daum einen sehr guten Trainer.
In der Öffentlichkeit galt Daum als schriller Vogel. Nach einem 0:4 in Monaco ließ er die Mannschaft nach der Ankunft in Leverkusen direkt zum Auslaufen im Stadion antanzen. Um vier Uhr morgens.
Allerdings war das keine Schikane, sondern nett gemeint. Statt nach der Ankunft nach Hause zu gehen, ein paar Stunden zu pennen und sich dann morgens wieder zu treffen, fuhren wir ins Stadion, machten die Flutlichter an und liefen direkt aus. So hatten wir den nächsten Tag frei. Sauer war Daum eher nach dem Rückspiel.
Das Spiel endete 2:2, beide Mannschaften erreichten in der Champions League das Viertelfinale.
Trotzdem pfiff uns das gesamte Stadion aus. Als Thierry Henry in der 80. Minute den Ausgleich erzielte, war klar, das dieses Ergebnis beiden Teams zum Weiterkommen reichen würde. Also ließ ich mich zwischen Christian Wörns und Jens Nowotny in die Innenverteidigung fallen und wir schoben uns eine Viertelstunde lang die Bälle zu. Auf der anderen Seite setzte sich Fabien Barthez an den Pfosten. Die Zuschauer wurden richtig wütend.
Unter Daum spielte sich die Mannschaft regelmäßig in einen Rausch, gewann etwa in Ulm mit 9:1 oder in Gladbach mit 8:2. Doch als es im Sommer 2000 um die Wurst ging, wirkte die Mannschaft in Unterhaching komplett gehemmt. Wie oft denken Sie an die verspielte Meisterschaft?
Manchmal reicht ein bestimmter Song, und die Gefühle kommen hoch. In dem Sommer sangen unsere Fans ein Lied rauf und runter: „Und dann die Hände zum Himmel.“ Wenn ich davon einen Takt aufschnappe, fühle ich mich zurückversetzt in diese Wochen und an diesen Nachmittag in Unterhaching. Damals hätte uns am letzten Spieltag ein Punkt gereicht, die Schale war schon im Stadion. Es war für uns alle die große Chance, diese großartigen Jahre zu krönen. Wir haben es leider nicht geschafft.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Michael Ballack das Eigentor erzielte?
Auf den Fernsehbildern sieht man, wie ich zu ihm gehe und ihm aufhelfe. Ich sagte: „Kein Thema, ist doch gerade mal eine halbe Stunde gespielt!“ Zu dem Zeitpunkt habe ich das auch tatsächlich geglaubt. Aber an dem Tag hätten wir noch 20 Stunden spielen können, wir hätten kein Tor geschossen. Spätestens nach dem 0:2 war der Ofen aus, da hätte der Schiedsrichter auch abpfeifen können.
Kurz danach erwischte es Sie persönlich gleich noch ein zweites Mal.
Drei Tage nach dem Spiel rief mich Erich Ribbeck an und sagte: „Du bist leider nicht bei der EM dabei.“ Dabei war ich der torgefährlichste Mittelfeldspieler der Liga und die Spiele davor stets im Kader gewesen. Er konnte es mir nicht erklären, vielleicht war die verlorene Meisterschaft der Auslöser. Wir Leverkusener galten danach ja nicht gerade als Siegertypen. Für mich war das sehr bitter. Ich wäre gerne mal bei einem Turnier dabei gewesen.
Im gleichen Sommer wollten die Bayern Sie verpflichten.
Ich führte gleichzeitig Gespräche mit Uli und Dieter Hoeneß. Aber auch heute habe ich noch so ein komisches Gefühl, wenn ich in München bin. Ich glaube, ich gehöre einfach nicht in diese Stadt. Damals entschied ich mich für Hertha, auch weil ich unbedingt endlich in meiner Heimatstadt Bundesliga spielen wollte. Außerdem war ich fest davon überzeugt, dass wir mit Hertha Meister werden könnten.
Stattdessen waren Sie oft verletzt, und in Berlin drehte sich fast alles um die Skandale der Brasilianer Alves und Marcelinho.
Donnerstags hatten wir stets eine Mannschaftsbesprechung, in der wir mit Dieter Hoeneß zusammensaßen. Am Anfang sagte er immer den gleichen Satz: „Aber wir reden nicht wieder über die Brasilianer!“. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt und ich fragte: „Worüber sollen wir denn sonst reden?“
Aus dem großen Wurf mit Hertha wurde nichts, dafür hatten Sie in Ihrer Karriere genügend andere Dinge zu feiern. Zum Beispiel gleich zwei Aufstiege mit Hansa Rostock in die Bundesliga. Welcher war schöner: 1995 oder 2007?
1995. Damals kam es überraschender, nicht mal die Rostocker selbst hatten uns auf dem Zettel. Jeden Dienstag machten wir einen Mannschaftsabend und zogen zusammen durch die Kneipen, uns erkannte in der Stadt einfach keiner. Als der Aufstieg dann perfekt war, spielten wir zum Abschluss in Nürnberg. Vor dem Spiel rasierten wir uns im Hotel alle den Vokuhila ab, im Spiel machten wir Nummernsalat mit den Trikots, ein Horror für den Kommentator vom NDR. Später ging es mit einer Charter-Maschine zurück nach Rostock, wir fuhren mit Cabrios durch die Innenstadt und feierten die ganze Nacht. Aber ich bin nicht nur zweimal aufgestiegen, ich bin auch Meister geworden.
Ist das so?
Ganz spät habe ich doch noch meine Deutschen Meisterschaften eingefahren – mit der Rostocker Ü40-Truppe! Und wissen Sie was: Wir holten sogar drei Titel am Stück!