Ist Joshua Kimmich ein kommendes Jahrhunderttalent – oder nur übertrieben gehyped? Unter Pep Guardiola gab es viele Kritiker, seit dieser Saison ist er torgefährlicher Leistungsträger. Zum Leidwesen unseres Autors.
Der Anstoß zu diesem Text? – Erst kürzlich saß ich im Urlaub in einem brasilianischen Restaurant bei einem fabelhaften Steak neben zwei Ecuadorianern und wir kamen – wie in Südamerika nun einmal nicht unüblich – zu der emotional geführten Diskussion: Maradona oder Pele. Wer war der bessere Fußballer? Ein einziges Fantasiegespräch, das auch durch meinen spontanen Einwand, ob man denn nicht einen Spieler wie Zinedine Zidane in diese Auswahl einbinden müsste, nur unwesentlich aufgelockert werden konnte.
So ging es dann Kopf über Stein, in Sekundenbruchteilen kamen wir von einer Weltmeisterschaft auf die nächste Copa Libertadores, europäischen und speziell deutschen Fußball ehe einer der beiden Tischnachbarn laut rief: „Gimmick. Kennt ihr Gimmick?“ Man mag es dem zweiten Ecuadorianer verdenken, dass er von „Gimmick“ bisher kein Wort gehört hatte, denn auch ich kannte diesen Spieler nicht. Als dann aber zur weiteren Beschreibung von einem deutschen Rechtsverteidiger, Talent und Europameisterschaft gesprochen wurde, dämmerte es mir: Waren wir so eben von Pele, Maradona und Zidane auf Joshua Kimmich gestoßen? Das durfte doch nicht wahr sein.
Ausgerechnet aus Leipzig
Zugegeben: Als schreibender Fußballfan, als Sportjournalist, sollte man möglichst objektiv sein. Aber auch der Sportjournalist ist nur Mensch und hat deshalb Vereine, zu denen er heimlich hält und Spieler, die er nicht mag. Eine vergiftete Beziehung, die ich aus einem inneren Gefühl und polemischen Beobachtungen mit Joshua Kimmich führe. Sitze auf dem Sofa, schaue Fernsehen im Öffentlich-Rechtlichen und entscheide: „Den mag ich nicht.“ So muss sich mancher AfD-Wähler wohl fühlen.
Denn auch Joshua Kimmich kommt bekanntlich aus Leipzig. Ein erster Umstand, weshalb ich eine gewisse Skepsis hegte, bin ich doch der drängenden Meinung, dass sich alle 17 Bundesligavereine zusammenschließen sollten, um zu entscheiden, dass man fortan keine Spieler mehr von RB Leipzig verpflichten wird. Hat jemand RB im Lebenslauf, wird er nicht mehr gekauft. Eine Grundlagenentscheidung wäre das, die den Leipzigern zumindest vor einigen Jahren noch erheblich wehgetan hätte in Verhandlungen mit Talenten, aber mich hat ja mal wieder niemand gehört.
Vom späteren Zweitligisten zum Meister
Es hätte zumindest dafür gesorgt, dass der Rekordmeister FC Bayern nicht ausgerechnet sieben Millionen für einen 20-Jährigen aus Rottweil gezahlt hätte. Nun könnte man Joshua Kimmich zugutehalten, dass er nur nach Leipzig – mittlerweile Erstligist – ging, weil der VfB Stuttgart – mittlerweile Zweitligist – ihn nicht einmal gut genug für die U23 hielt. Aber darüber wollen wir besser schnell hinwegsehen.
Der VfB Stuttgart hatte Kimmich per Vertragsoption zurückgeholt und direkt an den FC Bayern abgegeben. Für gutes Geld, aber selbst der damalige Trainer Alexander Zorniger urteilte: „Eine fatale Fehlentscheidung.“ Er könnte jeden erschlagen, der an dieser Entscheidung beteiligt war. Die Zukunft mochte ihm Recht geben.
Guardiolas Lieblingsschüler
War es sein Gang oder sein Blick? Dass Kimmich auf jeder zweiten Pressekonferenz darauf beharrte, man möge ihn bitte „Josua“ und nicht „Joschua“ nennen? Oder weil er mit seinem ständig erwähnten Abi-Schnitt von 1,7 auch in dieser Kategorie natürlich besser war: Ich jedenfalls mochte ihn nicht.
Unter Pep Guardiola musste ich mir mit ansehen wie Kimmich als sein Lieblingsschüler aufgrund seiner Flexibilität und viel Verletzungspech in der Innenverteidigung erste Einsätze in der letzten Saison bekam. Natürlich freute ich mich innerlich über die ersten Patzer in Turin und schämte mich sogar ein wenig einem 20-Jährigen so viel Dreck unter den Fingernägeln zu wünschen.
Der schlechteste Elfmeter im Pokal
Erst im DFB-Pokalfinale schien mein anfängliches Ressentiment endlich auf festen Grundpfeilern gestellt zu werden. Von Kimmich selbst. Im Elfmeterschießen nahm er selbstbewusst einen Ball, verzögerte lange im Anlauf, probierte einen halb-selbstwussten und halb-angelupften Panenkaelfmeter und schoss Torwart Roman Bürki auf die Knie. Einer der schlechtesten Elfmeter, die dieser Wettbewerb je gesehen hatte. Auf der anschließenden Siegesfeier hielt sich Kimmich, meinte ich auf dem Sofa zu erkennen, trotzdem nicht anstandshalber zurück – ganz im Gegenteil.
Und dennoch musste ich während der Europameisterschaft mitansehen, wie Joshua Kimmich aus der Not eines Trainers, also wie schon in der Bundesliga, seinen Stammplatz auf der Position des Rechtsverteidigers gewann. Und seine Sache ziemlich gut machte. Musste Hermann Gerland hören, der ihn mit Philipp Lahm verglich. Und Joshua Kimmich hören, der das natürlich ablehnte. Trotzdem wurde er wohl nicht grundlos in das All-Star-Team der UEFA aufgenommen.
Zucker für die Medien
Er war schlichtweg einer der Besten im deutschen Team und hatte mit seinem Offensivdrang für ungeahnten Schub nach vorne gesorgt. Konnte nicht nur flanken, sondern auch für Torgefahr sorgen. Sorgte für Spielfluss. Und er verzauberte bei der EM neben dem Platz auch noch die Medien. Die Welt schrieb gleich: „Das Leise aber hat auf andere Art Gewicht, denn Kimmich ist nicht nur ein lockerer Typ, sondern auch ein kluger Kopf. 2013 schaffte er sein Abi mit einem Notendurchschnitt von 1,7 – fast so gut wie seine Fußballnoten.“ – Ich hingegen hätte fast kotzen können.
Und deshalb wartete ich auf die neue Saison beim FC Bayern. Hier, unter dem neuen Trainer Carlo Ancelotti würde eine neue Aufgabe warten. Kimmich könnte nicht erneut der Lehrerliebling wie noch unter Guardiola werden, dachte ich – und wurde erneut eines Besseren belehrt.
Zu Saisonbeginn rückte Kimmich sogar eine Position weiter und spielt im zentralen Mittelfeld die entscheidenden Pässe in die Spitze. Seit dem 5:0 gegen FC Rostov, als Kimmich gleich doppelt traf, nachdem er Tage zuvor gegen Schalke sein erstes Bundesligator geschossen hatte, gehört er wieder zum festen Aufgebot der Bayern. Spielt neben Arturo Vidal, Xabi Alonso, Thiago Alcantara oder Renato Sanchez – der Junge aus Rottweil scheint gesetzt.
Einsatz aus freien Stücken
Auch aufgrund einer überragenden Form. Fünf Tore in den letzten sechs Spielen, u.a. beim 1:0 gegen den Hamburger SV und beim 1:1 gegen den 1. FC Köln. Gehört nebenbei mit einer Passquote von 88,2 Prozent zur Ligaspitze. Während Guardiola ihn noch aus der Not heraus einsetzte und sein späteres Scheitern in der Champions League unter anderem daran festmachte, setzt sein Nachfolger Ancelotti den Nationalspieler aus freien Stücken ein. Mit Erfolg. Denn Kimmich hat mittlerweile eben nicht nur Flexibilität anzubieten, sondern auch guten Fußball.
Auf dem Sofa muss auch ich mir mittlerweile neue Gründe suchen, um diesen Spieler nicht zu mögen. Muss immer genauer hinsehen, Fehler in Nebensächlichkeiten finden und habe langsam den Verdacht, dass ich mich bei einer weiteren Schlechtmacherei nur noch lächerlich mache. Immerhin: In der brasilianischen Bar reichte ein schnelles „Ronaldinho“ um einer weiteren Lobeshymne auf Kimmich zu entgehen.