Doppelsechs, Viererkette, Schnittstellenpass: Was vor Jahren noch böhmische Dörfer waren, ist heute längst Stammtischvokabular. Doch was waren die Taktiktrends der abgelaufenen Saison? Unser Experte Tobias Escher hat die zehn wichtigsten herausgearbeitet.
Doppelsechs, Viererkette, Schnittstellenpass: Was vor einigen Jahren noch böhmische Dörfer für viele Fußballfans waren, ist heute längst gängiges Stammtischvokabular und kann auf den Bolzplätzen unserer Republik niemanden mehr überraschen. Deswegen haben wir unseren Taktikexperten Tobias Escher vom hervorragenden Blog spielverlagerung.de gebeten, die neuesten taktischen Trends der abgelaufenen Bundesliga-Saison ausfindig zu machen. Also aufgepasst, ihr Hobby-Bundestrainer, das hier sind die Lehren der Saison 2011/12.
Bei seinem Amtsantritt nach der WM 2006 war es Jogi Löws wichtigstes Anliegen, dass der Fußball in der Bundesliga schneller wird. Da die hiesigen Trainer dem Bundestrainer nichts abschlagen können, haben sie seine Forderung flugs umgesetzt. In den letzten fünf Jahren verdoppelte sich hierzulande die Anzahl der Kontertore. In keiner der anderen Topligen Europas ist der Anteil an Toren unmittelbar nach Gegenstößen derart hoch wie in der Bundesliga (über 10 Prozent). Lucien Favre bewies mit seinen Gladbachern, dass Außenseiter mit schnellem Umschaltspiel auf der Höhe der Zeit sind und auch nominell bessere Mannschaften durchaus überrumpeln können.
Apropos Gladbach: Die Fohlen waren in einer weiteren Disziplin Ligaspitze, kein anderes Team verteidigte so stark wie die Favre-Elf. Dabei halfen alle Spieler kollektiv bei der Defensivarbeit mit. Die früher gängige Praxis, nach der Stürmer bei gegnerischem Ballbesitz den Sonnenuntergang betrachten und nicht nach hinten arbeiten, gibt es heute nicht mehr. Vor allem die beiden Angreifer Mike Hanke und Marco Reus waren in dieser Saison Gladbachs Speerspitze der eigenen Verteidigung. Wenn es nötig war, halfen sie auch weit in der eigenen Hälfte aus. Perfekt umgesetzt wurde dieses Defensivkonzept in den Spielen gegen den FC Bayern, als die Borussia ein schier undurchdringliches Abwehrbollwerk aufzog. Gerade bei individuell schwach besetzten Teams ist die Verteidigung im Kollektiv heute unverzichtbar, um eigene Feldvorteile zu sichern und ein schnelles Konterspiel zu forcieren.
Auch wenn mittlerweile vielerorts das 4 – 2‑3 – 1‑System noch als Standardformation gesehen wird, agieren die wenigsten Teams ausschließlich in dieser Formation. Diese Saison war zu beobachten, dass die meisten Teams immer öfter eine Mischvariante wählen: In der Defensive stehen sie in einem 4−4−1−1, bei eigenem Ballgewinn rücken die Außenstürmer schnell auf und der zentrale Spieler lässt sich tiefer fallen, die Mannschaft rückt also ins altbekannte 4 – 2‑3 – 1‑System. Dieses variable System wurde in dieser Saison vor allem von Borussia Dortmund, Bayern München und Borussia Mönchengladbach gespielt.
Nein, die 1 – 3 Stellung ist weder schlüpfrig, noch das Ergebnis unabhängiger Alkoholmessungen nach den Abschlussfeiern einiger Bundesligisten. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine variable Verteidigungsstrategie, die dann angewandt wird, wenn eine Mannschaft mit zwei defensiven Viererketten agiert. Hierbei lässt sich ein Sechser etwas fallen, um die Räume zwischen Abwehr und Mittelfeld zu schließen. Aus dem nominellen 4−4−2 wird so ein 4−1−3−2. Dieser tiefer stehende Sechser nimmt etwaige Gegenspieler auf, die im Raum zwischen den Ketten agieren. Hannover 96 machte in der letzten Saison vor, wie man mit dieser Strategie verhindert, dass der Gegner die Zwischenräume bespielt. In dieser Saison fand diese Strategie zum Beispiel in Nürnberg und Hoffenheim viele Nachahmer .
Auch wenn Robin Dutt bei seinem kurzen Engagement in Leverkusen nur wenig Nennenswertes hinterließ, bereicherte er doch das Vokabular der deutschen Fußballsprache: Vor allem sein „abkippender Sechser“ ist seitdem in aller Munde. So bezeichnet Dutt einen defensiven Mittelfeldspieler, der sich im Spielaufbau zwischen die Innenverteidiger fallen lässt. Aus der Tiefe heraus kann der betreffende Akteur unter geringerem Druck der Gegenspieler das eigene Spiel lenken. Tomas Rincon tat das in dieser Saison beim HSV, Jermaine Jones zuletzt bei Schalke 04 und auch Bastian Schweinsteiger wählte diese Interpretation seiner Rolle als er im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid keinen Zugriff auf das Spiel fand. Vor allem dieEin Trend für die Zukunft.
Andere Teams gehen da noch einen Schritt weiter: Warum einen Sechser nach hinten fallen lassen, wenn man doch über spielstarke Innenverteidiger verfügt? Gladbachs Dante, Bayerns Holger Badstuber und Dortmunds Mats Hummels sind nicht zufällig in der ligaweiten Top5 der Ballkontakte zu finden. Sie machen aus der Abwehr heraus das Spiel ihrer Mannschaft. Ein spielstarker Innenverteidiger bietet den enormen Vorteil, dass der Gegner ein hohes Pressing riskieren muss, wenn er den gegnerischen Aufbauspieler stoppen will – das wagen nur wenige Teams. Passstärke dürfte in Zukunft ein wichtiges Attribut bei der Verteidigersuche werden.
Das Wort „Konzepttrainer“ spaltet die Fußballergemeinde: Die eine Hälfte hält die Wortschöpfung für abstrusen Unsinn, die der moderne Fußball mit sich bringt, die andere fordert, dass selbst beim Außenanstrich der Geschäftsstelle ein klarer Plan erkennbar sein sollte. Dabei bewies der Absteiger 1. FC Köln, dass es nicht immer gut sein muss, stur einem bestimmten Konzept zu folgen. Im Zeitalter der Scouts und Videoanalysen können Gegner jede Schwäche offenlegen und eiskalt ausnutzen. Da ist es manchmal ganz hilfreich, nicht nur eindimensional auf das eigene Konzept zu vertrauen, sondern sich durchaus auch mit einem Plan B auseinander zu setzen. Solbakken schaffte das in Köln nicht – sein großer Traum von einer raumorientierten Defensive zerplatze auf Platz 17.
Wie man es richtig macht, bewiesen hingegen Underdogs wie Nürnberg, Freiburg und Augsburg: Allesamt guckten sich gezielt die Schwächen beim Gegner aus und nutzten diese bestmöglich aus. Nicht jeder Trainer geht dabei so weit wie Mainz-Coach Thomas Tuchel, der seine Formation gegnerabhängig wählt. Oftmals reicht es schlicht, einen bestimmten Gegenspieler besonders stark zu pressen oder den Spielaufbau der anderen Mannschaft in eine bestimmte Richtung zu lenken. Denn auch in der Bundesliga herrscht der Darwinismus: Nur wer sich an die äußeren Bedingungen anpassen kann, überlebt im Haifischbecken Bundesliga.
Vor ein bis zwei Jahren war es allgemeiner Konsens, dass old school Taktiken wie stumpfe Manndeckung oder die altbackene Dreierkette gar nicht gehen. Seltsamerweise sind viele dieser No-Gos längst wieder angesagt. Bei Barcelona und in Italien feiert die Dreierkette ein großes Comeback, in der Bundesliga war es Augsburg, die im Mittelfeld erfolgreich eine moderne Form der Manndeckung praktizierten. Mit solch einer Altherrentaktik schaffte der von vielen sicher geglaubte Abstiegskandidat den fulminanten Klassenerhalt. Es gilt eben immer noch das alte Otto-Rehhagel-Motto: Modern ist, was Erfolg hat. Auch wenn er selbst auf seinen heißgeliebten Libero verzichtete und komischerweise am Ende am wenigsten von seiner Weisheit profitierte.
Wer sich die Pressekonferenzen von Jürgen Klopp anschaut, entdeckt ein interessantes Phänomen: Er schafft es, jeden Gegner stark zu reden, egal wie groß dessen Krise ist. Kein Argument ist dabei zu abwegig für den Motivator (Sie sind seit zwei Spielen ungeschlagen / Sie haben uns vor drei Jahren klar besiegt / Der Anstrich ihrer Geschäftsstelle verfolgt ein klares Konzept). Was auf den ersten Blick seltsam wirkt, ist bei genauem Hinsehen taktisch wertvoll: Der Meistertrainer stellt so sicher, dass alle Spieler hundert Prozent fokussiert sind. Bei den komplexen taktischen Anweisungen, die Spieler heute befolgen müssen, ist Konzentration das höchste Gut. Nur wer demütig gegenüber seinem Gegner bleibt, kann auch taktische Höchstleistungen vollbringen. Glauben Sie nicht uns, glauben Sie Barcelonas Erfolgscoach Pep Guardiola – er predigte dies jahrelang seiner Mannschaft und wurde nicht umsonst einer der erfolgreichsten Coaches der vergangenen Jahre.