Während der EM gibt Holger Stanislawski den ZDF-Experten. Ohne Sprechtraining, dafür mit drei Kannen Kaffee am Tag.
Spricht da schon der Sportreporter, der sich mehr Offenheit von Interviewpartnern wünscht?
Heutzutage ist es ja kaum möglich, am Mittwoch noch Interviews mit Profis zu bekommen. Es heißt dann, die Spieler müssten sich auf die anstehende Partie fokussieren. Zum Vergleich: Bei der Formel1 stehen noch fünf Minuten vor Start Hunderte Menschen auf der Fahrbahn, schießen Fotos oder halten Lewis Hamilton das Mikrofon unter die Nase. Neulich habe ich ein Interview mit Dirk Nowitzki gesehen, das er nach dem Duschen oberkörperfrei und nur mit einem Handtuch um die Hüften gab. Im Fußball wäre das undenkbar.
Die Vereine machen sich Sorge, das Image der Spieler könnte Schaden nehmen könnte.
Vielleicht auch zu Recht. Gerade in Zeiten der sozialen Medien verbreiten sich Bilder rasant. Jeder kann seine Meinung sagen. Und wenn ein Fußballer nur mit Handtuch bekleidet ein Interview geben würde, diskutiert der Boulevard nicht nur über seine Aussagen, sondern auch darüber, wo er rasiert ist und wo nicht.
Die Kabine war auch zu Ihrer aktiven Zeit ein Tabu für die Presse.
Gewisse Bereiche sollten auch intern bleiben. Selbst gelegentliche Trainingseinheiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit finde ich okay – so lange wir keine englischen Verhältnisse haben. Aber dieses hermetische Abschotten finde ich fragwürdig. Wir konnten uns als Spieler beim FC St. Pauli auch auf das Spiel fokussieren, obwohl wir von der Kabine direkt durch das Vereinsheim gehen mussten, vorbei an Journalisten und Fans, die schon vor dem Spiel fünf Bier getrunken hatten. So eine Stimmung motivierte uns manchmal auch. Fußball ist emotional.
Kritiker behaupten, der Fußballjournalismus sei zu hysterisch geworden.
Früher trauten sich die Reporter tatsächlich wenig, sie blieben sachlich und neutral…
…selbst wenn Deutschland in einem wichtigen WM-Spiel ein Tor schoss, sagte Rolf Kramer nur: „Tor für Deutschland.“
Die Zeiten haben sich geändert. Können Sie sich das heute noch vorstellen? Mario Götze schießt in der Verlängerung das 1:0 gegen Argentinien und der Kommentator sagt nur: „Deutschland ist Weltmeister. Ich wünschen Ihnen einen angenehmen Abend.“ Etwas Emotionalität tut jedem Reporter gut, man muss es ja nicht übertreiben.
Welche aktuellen Kommentatoren machen ihre Sache gut?
Das ist Geschmackssache. Viel hängt mit der Stimme zusammen, einige mögen ein eher rauchiges Timbre, andere hohe Stimmen. Ich finde Wolff Fuss gut, auch wenn er es manchmal mit den Metaphern übertreibt. Beim ZDF gefällt mir Bela Rethy, der hat so eine markante und dumpfe Stimme.
Haben Sie vor dem ZDF-Engagement noch mal speziell auf die Arbeit anderer TV-Experten geschaut?
Nein. Aber ich finde, Mehmet Scholl und Oliver Kahn machen ihre Sache gut. Das Problem ist, dass man die Teams Kahn/Welke oder Scholl/Opdenhövel oft mit dem Duo Günter Netzer und Gerhard Delling vergleicht. Zumal ich beide anfangs auch sehr gewöhnungsbedürftig fand, später passten sie zusammen wie Deckel auf Topf.
Mehmet Scholl sagte bei der EM 2012, nach dem Spiel gegen Portugal, Mario Gomez habe sich wundgelegen. Das Wort hängt Gomez heute noch nach. Wie hart darf ein TV-Experte kritisieren?
Man muss natürlich immer aufpassen, wie die Dinge rüberkommen. Mehmet meinte das nicht so, und vermutlich hätte er das schnell in einem Gespräch mit Gomez klären können. Vielleicht hat er das sogar. Allerdings ist die Dynamik des Boulevards nicht zu unterschätzen. Plötzlich hieß es: Scholl vs. Gomez. Krieg in München. Danach war die Sache nicht mehr aufzuhalten.
Werden Sie hart kritisieren?
Wenn Mesut Özil schlecht spielt, werde ich das ansprechen – ohne persönlich zu werden. Ich kann Ihnen jetzt auch sagen: Thomas Müller hat im Champions-League-Rückspiel gegen Atletico eines seiner schlechteren Spiele gemacht.
Haben Sie Sprechtraining genommen?
Nein. Ich habe vor 4000 Leuten auf Mitgliederversammlungen gesprochen, vor meinen Mannschaften, in Interviews. Nun spreche ich vor der Kamera.
Aber die Kamerasituation ist eine andere.
Das empfinde ich nicht so. Was nicht heißt, dass ich an diese Aufgabe nicht mit Demut und Dankbarkeit herangehe.
Früher hat Ernst Huberty seinen Reporterschülern eine Liste mit No-Go-Phrasen gegeben. Wie ist es heute?
Es gibt natürlich Feedback nach den Sendungen. Da wird einem auch gesagt: „Nicht so viel gestikulieren!“ Oder die Kollegen erklären, welche Redundanzen man vermeiden kann. Die Kunst bei der EM wird sein, komplexe Inhalte attraktiv zu transportieren.
Was meinen Sie damit?
Ich bin ja der dritte Mann neben den beiden Olivers (Kahn und Welke, d. Red.) und werde vor allem bei taktischen Fragen hinzugezogen. Bei einer WM oder EM schauen zahlreiche Gelegenheitsfans Fußball. Da kann ich mich nicht vor eine Videowand stellen, lauter Pfeile und Punkte von A nach B ziehen und was von einer diametral abkippenden Sechs erzählen. Ich muss mein Wissen runterbrechen und in populäre Sprache verpacken.
Trotzdem: Fußballtaktik ist so populär wie noch nie. Woran liegt das?
Vielleicht an den Begrifflichkeiten. Früher haftete vielen Wörtern ein wissenschaftlicher Rattenschwanz und der Duft von Turnhallen an. Man sprach von Deuserbänder oder Entmüdungsbecken. Heute gibt es Leute wie Mark Verstegen, die Fitnesskonzepte entwickeln und populär präsentieren. Die Leute haben einen größeren Wissendurst, was Fragen aus diesen Bereichen angeht.