Frankreich zeigt gegen Belgien eine weltmeisterliche Leistung und zieht ins Finale ein. Fünf Gründe, wieso sie jetzt der Favorit auf den Titel sind.
Es gibt Weisheiten im Fußball, die sind so abgenutzt, das sie eigentlich in ein Altenheim für Fußballphrasen gehören. „Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive Meisterschaften“ ist eine solche völlig abgenudelte Phrase.
Das Schlimme: Auch bei dieser Weltmeisterschaft scheint sie wieder zuzutreffen. Neuester Beweis: Das Halbfinale Frankreich gegen Belgien. Die bisher so offensivstarken Belgier hatten nie eine echte Chance gegen die geballte Defensivpower der Franzosen. Fünf Gründe, warum die Franzosen das Halbfinale für sich entschieden – und warum sie im Finale der Favorit sein werden.
1. Ein eingespieltes Team
„Never change a winning system“ – noch so eine Weisheit aus dem Phrasen-Altenheim. Frankreichs Trainer Didier Deschamps verzichtet in diesem Turnier gänzlich auf taktische oder personelle Experimente. Seit dem zweiten Spiel gegen Peru (1:0‑Sieg) steht seine Stammformation; allenfalls Sperren und Verletzungen zwingen ihn, diese Elf umzubauen.
Frankreichs System besticht durch defensive Stabilität. Innerhalb des 4 – 2‑3 – 1‑Systems übernimmt Linksaußen Blaise Matuidi eine absichernde Rolle: Er verbleibt als dritter Sechser im Mittelfeld, damit Rechtsaußen Kylian Mbappe offensiver agieren kann. Auch die Außenverteidiger halten sich eher zurück. Frankreich sichert mit sechs Mann ab und will mit Kontern den Gegner knacken. Das ist nicht immer schön anzusehen für den neutralen Zuschauer; es passt allerdings zu einer WM, bei der viele Teilnehmer die Defensive in den Vordergrund stellen.
2. Frankreich kann auf Schwierigkeiten reagieren
Deschamps feste Taktik hat ein Manko: Sie ist für den Gegner leicht ausrechenbar. Schon Argentinien (4:3) brachte Frankreich an den Rande einer Niederlage mit einer gut auf die französischen Stärken abgestimmten Taktik. Belgiens Trainer Roberto Martinez ging noch einen Schritt weiter und richtete sein gesamtes System auf die französischen Stärken ab.
Martinez setzte auf ein asymmetrisches Spielsystem, das Mbappes offensive Rolle neutralisieren sollte: Jan Vertonghen nahm als Linksverteidiger Mbappe in Manndeckung, Rechtsverteidiger Nacer Chadli wiederum rückte offensiv nach vorne. Belgien leitete das Spiel über die rechte Seite ein. Von dort versuchten sie, das Spiel nach Linksaußen zu leiten. Hier lauerte Eden Hazard an der linken Seitenauslinie. Er wollte die offensive Rolle Mbappes ausnutzen.
Der belgische Plan war clever. Doch gerade als er zu funktionieren begann, stellte Deschamps um. Der erste Kniff: Paul Pogba agierte nach der Pause merklich defensiver, ließ sich auch mal in die Abwehrkette fallen. Zusammen mit Rechtsverteidiger Benjamin Pavard doppelte er Hazard, nahm ihn aus dem Spiel.
Der zweite Kniff: Frankreich lockte Belgien auf die andere Seite, verhinderte aber, dass sie das Spiel verlagern konnten. Belgien spielte sich fest an der französischen Defensive. Es scheint so, dass Frankreich auf jede Situation in diesem Turnier die passende Antwort hat – und dazu müssen sie nicht mal ihr Personal oder das taktische System wechseln.
3. Standards
Es ist der absolute Trend dieser Weltmeisterschaft: Standardsituationen. Vierzig Prozent aller Treffer fielen nach ruhenden Bällen. Bereits gegen Uruguay ging Frankreich über eine Standard-Situation in Führung. Auch gegen Belgien fiel das entscheidende Tor (51.) nach einem Eckball.
Anders als England hat Frankreich vor dem Turnier nicht zig verschiedene Standardvarianten eingeübt. Ihre Varianten sind simpler, aber nicht weniger effektiv als jene der Engländer. Die Spieler bewegen sich viel im Strafraum, starten nacheinander zum Sprint an den Fünf-Meter-Raum und entledigen sich so ihrer Gegenspieler. Frankreich kann sich auf die eigene individuelle Klasse bei Kopfbällen verlassen.
4. Die richtige Mischung I: Spektakuläre Einzelspieler
Die eher defensive Herangehensweise der Franzosen sorgt dafür, dass die Offensivspieler viele Situationen im Alleingang lösen müssen. Tatsächlich geht dieser Plan auf, was nicht zuletzt an der Klasse der Einzelspieler liegt.
Vor allem über die rechte Seite kann Frankreich mit enormen Offensivpotential punkten. Über Mbappes rechte Seite laufen 42% aller französischen Angriffe, auch weil Griezmann und Pogba sich häufig zu ihm gesellen. Selbst als Belgien Pogba per Manndeckung durch Marouane Fellaini aus dem Spiel nahm, tat dies Frankreichs Offensivbemühungen keinen Abbruch. Mbappe mit seinen Sprints und Griezmann mit seinem Auge für den Raum kreierten Situationen aus dem Nichts.
5. Die richtige Mischung II: Mannschaftsdienliche Strategen
Trotz der tollen Einzelleistungen der Invididualisten: Es sind die unauffälligen Zuarbeiter, die der französischen Mannschaft ihre Stärke verleihen. Blaise Matuidi arbeitet als Linksaußen permanent nach hinten mit. Gegen Belgien sorgte er dafür, dass Kevin de Bruyne kaum zur Entfaltung kam. Im Zusammenspiel mit dem ebenso unermüdlichen Sechser N’Golo Kante nahm er die rechte belgische Seite aus dem Spiel.
Selbst wenn der Gegner in der Schlussphase über Flanken vor das Tor zu gelangen versucht, fangen die Franzosen nicht an zu schwimmen. Ihre bärenstarke Innenverteidigung klärt jeden Ball. Kein Innenverteidiger-Pärchen bei dieser WM klärte statistisch gesehen mehr Bälle als Frankreichs Verteidiger – Raphael Varane hat den zweithöchsten Wert aller WM-Spieler (39), Samuel Umtiti den siebthöchsten Wert (27). (Den höchsten Wert hat der Russe Sergei Ignashevich mit 44 geklärten Bällen).
Da wären wir wieder bei der Altenheim-Phrase: Die Offensive mag Spiele gewinnen. Die Defensive gewinnt Meisterschaften. Vielleicht ja auch Weltmeisterschaften.