Chelsea plant ein Super-Stadion mit 60.000 Plätzen. Doch kurz vor Baubeginn stellt sich eine benachbarte Familie quer – und stößt bei vielen Fans auf Verständnis.
Seit der Übernahme durch Roman Abramovich gibt es beim FC Chelsea nur noch eine Devise: Klotzen statt kleckern. Wann immer sich ein Hindernis zwischen dem Klub und seinen Zielen auftat, wurde es beiseite geräumt – mit Beharrlichkeit, Entschlossenheit und mit viel, viel Geld. Doch nun könnten der Oligarch und die „Blues“ an ihre Grenzen stoßen. Denn sie treffen auf einen Gegner, der viel entschlossener ist als ManUnited, wesentlich furchtloser als der FC Liverpool und dreimal so hartnäckig wie das Financial Fairplay der UEFA. Die Rede ist von der Familie Crosthwaite, die nur einen Steinwurf von der Stamford Bridge entfernt wohnt. Lediglich eine schmale Bahnstrecke trennt das kleine Anwesen der Crosthwaites von der bisherigen Spielstätte des FC Chelsea. Und genau diese Nähe sorgt nun für Entzweiung.
Man kennt das ja: nörgelnde Anwohner, die sich über das Stadion in ihrem Stadtteil mokieren, obwohl das schon viel länger dort steht als ihr eigenes Haus. Doch dieser Fall ist anders, ganz anders: Lucinda und Nicolas Crosthwaite sowie die Kinder Louis und Rose lebten jahrzehntelang in bester Eintracht mit dem FC Chelsea. Tapfer ertrugen die Crosthwaites die Hooligan-Straßenschlachten in den 1980ern und 90ern, den schrillen Chelsea-Boom seit dem Abramovich-Einstieg 2003 und die vielen rauschenden Europapokal-Nächte an der Stamford Bridge. Nie, wirklich nie haben sie sich beschwert – bis der Klub größenwahnsinnig wurde. Das geplante neue Chelsea-Stadion für 60.000 Zuschauer soll nämlich an gleicher Stätte entstehen wie das alte. Das Problem: Es soll so groß und so hoch werden, dass Haus und Garten der Crosthwaites von morgens bis abends im Schatten lägen. Das, findet die Familie, sei nun wirklich des Guten zu viel.
„My home is my castle“
Getreu dem englischen Motto „My home is my castle“ erwirkten die Crosthwaites eine einstweilige Verfügung gegen den Monster-Bau, der bereits vor einem Jahr genehmigt worden war. Damit bringt die Familie den FC Chelsea und den erfolgsverwöhnten Roman Abramovich an den Rand der Verzweiflung. Der russische Milliardär ließ den Crosthwaites zuletzt beinahe im Wochentakt neue Kompensationsangebote zukommen, angeblich bot er eine deutlich sechsstellige Summe plus rund 50.000 Euro zur Begleichung aller Anwaltskosten. Doch mit jedem Nein verfestigt sich der Eindruck: Diese nervigen Nachbarn wollen gar kein Geld, sondern einfach nur die Sonne in ihrem Garten genießen. Die ersten Bau-Investoren werden bereits nervös. Droht der mit einer Milliarde Pfund (1,1 Milliarden Euro) veranschlagte Stadionneubau gar zu platzen?
Rose, die Tochter aus dem Hause Crosthwaite, erklärte unlängst, das neue Stadion würde „Sonnenlicht- und Tageslichteinfall massiv beeinträchtigen“. Gleichzeitig betonte die Familie, man sei nicht grundsätzlich gegen einen Neu- bzw. Ausbau der Stamford Bridge. Allerdings verlange man eine Schrumpfung der gigantischen Osttribüne, die laut bisheriger Planung zwischen der Sonne und den Crosthwaites emporragen soll.
Auch in der Fangemeinde des FC Chelsea wird natürlich diskutiert über die aufmüpfigen Nachbarn, die den Klub-Oberen auf der Nase herumtanzen. Die Internetforen laufen heiß. Ein Spaßvogel prophezeite den Crosthwaites sogar einen Besuch der „Chelsea Headhunters“ – so nannte sich die Hooligan-Firma von der Stamford Bridge, die in früheren Jahrzehnten mehr Schlagzeilen lieferte als Chelseas Fußballmannschaft. Doch nichts dergleichen ist bislang passiert. Vielleicht weil heutzutage nur noch Investmentbanker ins Stadion gehen?
„Unverhältnismäßige Anzahl von Hospitality-Sitzen“
Viele alteingesessene Chelsea-Fans haben sogar Verständnis für die Crosthwaites, denn auch den Anhängern ist die Gigantomanie des Vereins eher fremd. Sie fürchten eine weitere Explosion der Ticketpreise in der neuen Super-Spielstätte. Zumal die Familie Crosthwaite öffentlich auf eine „unverhältnismäßige Anzahl von Hospitality-Sitzen“ hinwies. Diese würden viel mehr Platz fressen als normale Sitze und so dafür sorgen, dass die Tribünen in den Himmel wüchsen. Angeblich sollen 17.000 der 60.000 Plätze in Zukunft so genannten Business-Kunden vorbehalten sein.
Der FC Chelsea drängt derweil auf einen baldigen Baubeginn und hat die Regierenden der unmittelbar involvierten Londoner Bezirke Fulham und Hammersmith auf seiner Seite. Doch das Haus der Crosthwaites liegt jenseits der Grenze, im Bezirk Kensington. Und dort sieht man das Vorhaben eher skeptisch – auch wenn der Klub auf eine angeblich 97-prozentige Zustimmungsquote unter den Anwohnern verweist.
Zurzeit läuft es auf eine gerichtliche Auseinandersetzung hinaus
Zurzeit läuft alles auf eine gerichtliche Auseinandersetzung hinaus. Die kann sich theoretisch über fünf oder zehn Jahre erstrecken. Chelsea aber will spätestens 2019 mit dem Neubau beginnen. Die Anwälte des Vereins verweisen darauf, dass eine Bezirksregierung das Recht habe, sich ein Grundstück – gegen eine entsprechende Entschädigung – anzueignen, wenn dies im allgemeinen Interesse liege. Gleichzeitig rechnet der FC Chelsea vor, wie viele Millionen man jährlich in Sozialprogramme und in Infrastrukturmaßnahmen investiere – und wie viele Millionen Besucher der Klub pro Jahr anlocke.
Doch die Crosthwaites, die schon seit über 50 Jahren in ihrem schmucken Häuschen jenseits der Bahnlinie wohnen, sind durch große Zahlen kaum einzuschüchtern. In englischen Medien lassen sie immer wieder durchklingen, dass sie notfalls bis zur allerletzten Instanz kämpfen wollen. Auch wenn es ein Kampf „David gegen Goliath“ ist.