95 Prozent Hass stehen zwischen Schalke 04 und Rot-Weiss Essen. Behaupten wir jedenfalls in unseren neuen 11FREUNDE-Spezial „Rivalen an der Ruhr“. Doch es gibt einen Mann, der die großen Rivalen versöhnt. Sein Name: Oppa Pritschikowski, pardon: Oppa Luscheskowski.
Das Ruhrgebiet – das ist Maloche, Currywurst und wenig Platz. Fünf Millionen Menschen leben hier auf nur 4500 Quadratkilometern, in Städten, die zu einer einzigen Riesenstadt zusammengewachsen scheinen. Doch innerhalb seiner Grenzen gibt es etliche Demarkationslinien: Hinterm Gartenzaun ist Feindesland. Fußball ist Religion im Pott, und Religion führt zu Konflikten.
Die Rivalität zwischen Schalkern und Dortmundern gehört längst zur Bundesligafolklore. In Gelsenkirchen verscheucht man gern mal eine Biene vom Butterkuchen, weil sie ja schwarz-gelb ist. Aber zwischen diesen Städten liegen immerhin 40 Kilometer, genug Raum, um sich aus dem Wege zu gehen. Gelsenkirchen und Essen jedoch gehen direkt ineinander über – da kann man froh sein, wenn einen überhaupt noch ein Zaun vom verhassten Nachbarn trennt.
Sogar eine Ikone teilt man sich
Die Stimmung an der A 40 war nicht immer feindselig. Im Gegenteil. Früher ging man samstags in die Schalker Glückauf-Kampfbahn und am Sonntag an die Hafenstraße zu Rot-Weiss, schiedlich-friedlich. Sogar eine Ikone teilte man sich: Der inzwischen wegen seiner nationalsozialistisch belasteten Vita in Misskredit geratene Fritz Szepan gründete in den dreißiger Jahren den Schalker Kreisel, 1955 führte er RWE als Trainer zur Deutschen Meisterschaft.
Doch 1971 zerriss das Band der Freundschaft, es war das Jahr des Bundesligaskandals. Spiele waren verschoben worden, auch Profis des FC Schalke gehörten zu den Tätern. Während ihr Verein aber im Oberhaus blieb, stiegen die unschuldigen Essener ab. Noch 40 Jahre danach halten sie die Tatsache, dass sie vier Ligen unter dem Erzrivalen spielen müssen, für eine historische Ungerechtigkeit.
Zerkratzter Lack in Essen
Der Schalker Klaus Fichtel wurde damals wegen Manipulation verurteilt. In den letzten Jahren arbeitete er als Scout für seinen alten Klub, auch auf den Tribünen an der Hafenstraße. Im Feindesland. „Das war für mich nie angenehm“, sagt er. „Als ich einmal das Stadion mit meinem Auto verließ, kamen RWE-Fans vorbei und zogen einen Schlüssel an der Wagentür entlang.“ Essen gegen Schalke – für Liebhaber von Krawall und Remmidemmi das einzig wahre Revierderby. Die Sicherheitsexperten des DFB verfolgen jede Pokalauslosung mit Angstschweiß auf der Stirn – im Falle eines Aufeinandertreffens dürfte mehr zu Schaden kommen als nur Fichtels Lack.
Tatsächlich hat es ein offizielles Spiel seit der zweiten DFB-Pokalrunde 1992 (2:0 für Essen) nicht mehr gegeben. Der Hass schwelte, verwandelte sich und wurde in der Essener Viertliga-Tristesse zur Missgunst und in den Schalker VIP-Lounges zur Hybris. „Du hast dich verändert“, würden die Klubs wohl sagen, wenn sie ein im Schlechten getrenntes Liebespaar wären, das sich nach einer Ewigkeit wieder sieht.
Im Grunde sind sie das ja auch. Und wie immer in solchen Beziehungsdramen ist da etwas, das beide noch immer verbindet: In all den Jahren der Trennung haben Essener und Schalker in ihren Hymnen den gleichen alten Mann besungen. Der Greis ist eine Symbolfigur für rückhaltlose Fußballbegeisterung: Mit weißem Rauschebart und Prinz-Heinrich-Mütze sitzt er der Legende nach bei Wind und Wetter am Spielfeldrand und läutet die Zechenglocke, wenn sein Verein ein Tor schießt. Gütig lächelt er durch die Jahrzehnte seinen Enkeln zu. Er ist ihr Opa – oder um in der Sprache des Ruhrgebiets zu bleiben: „Dat is unsa Oppa!“
„Wir werden Essen nie vergessen, wir sind die Fans von Rot-Weiss Essen!“
In Essen heißt er Oppa Luscheskowski. Er kennt RWE seit 1907, dem Gründungsjahr, so heißt es in der Fanhymne, und ist der erste staatlich beurkundete Allesfahrer der Geschichte. Seine Frau treibt er zur Weißglut, weil selbst die goldene Hochzeit und ein Urlaub in den Bergen ihn nicht davon abhalten, zu Spielen von RWE auszubüchsen. Selbst dem Herrgott ruft er nach übereinstimmenden Berichten noch entgegen: „Wir werden Essen nie vergessen, wir sind die Fans von Rot-Weiss Essen!“
Im nahen Gelsenkirchen verhält sich die Sache verblüffend ähnlich. Auch in der Arena huldigt man dem Oppa, der hier Pritschikowski heißt und nicht einfach nur die Omma quält, sondern „quälen tut“. Natürlich hat er kein Spiel seit der Vereinsgründung 1904 verpasst, und stets skandiert er seinen Schlachtruf: „Ob ich verroste und verkalke, ich gehe immer noch auf Schalke!“
So erklang das Lied von Oppa Pritschikowski auch im Berliner Olympiastadion 2002, als Schalke gegen Leverkusen den DFB-Pokal gewann. Zu diesem Zeitpunkt wartete der Musiker Hans von der Forst in der Garderobe der Bochumer Jahrhunderthalle auf einen Auftritt und musste eine Träne der Rührung verdrücken. Nicht nur, weil sein Verein gerade den Pokal gewonnen hatte – 500 Kilometer entfernt sang die Schalker Fangemeinde das Lied, das er einst komponiert hatte. Das Lied vom Oppa.
Wahnwitz im Proberaum
1969. So lange ist es her, dass der Gesang entstand, den heute in Gelsenkirchen und auch in Essen jedes Kind auswendig kennt. Hans von der Forst erfand ihn zum 65-jährigen Jubiläum der Knappen und brachte ihn als Schallplatte unter dem Titel „Immer auf Schalke“ heraus – „weil ich bekloppt bin“, lacht er. Schon immer ein „kreativer Eumel“ und seit 1962 Schlagzeuger bei den German Blue Flames, der deutschen Antwort auf die Beatles, wollte von der Forst diesem Oppa Pritschikowski ein musikalisches Denkmal setzen, jener literarischen Gestalt, von der ihm selbst schon als kleinem Jungen erzählt worden war. So wie Aloisius, der Dienstmann vom Münchner Hauptbahnhof, der auch im Himmel sein Bier trinken will, war der Oppa schon damals ein fester Bestandteil der mündlichen Überlieferung.
Um seine Liedidee ins Werk zu setzen, ging von der Forst ins Tonstudio seines Kumpels, des Unternehmers Hans Beukenberg. Der hatte viel Geld in seine Musikleidenschaft gesteckt und verfügte über das zur damaligen Zeit beste Equipment. Noch heute bescheinigen ihm seine Mitstreiter ein „absolutes Gehör“. Alsbald stieß der Sänger Rudi Tadday zur Gruppe, der in späteren Jahren als Tex Rogers durch Deutschland und Amerika touren sollte. Winfried Szodruch, Reporter-Urgestein aus Gelsenkirchen, schwärmt noch immer: „Rudi Tadday hatte eine Stimme, dagegen war Johnny Cash ein Windei.“ Die Produktionsbedingungen waren unkonventionell, oft wurden Nächte durchgemacht und wahnwitzige Ideen zu Tage gefördert. So wurde neben einer irrsinnig psychedelischen Fußballplatte namens „Lederball“ auch das Lied von Oppa Pritschikowski geboren. Von der Forst erinnert sich: „Bei den Aufnahmen haben wir uns teilweise die Buchsen voll gemacht vor Lachen. Oppa Pritschikowski war doch der erste Rap der Geschichte.“ Aus den Untiefen des Studios schwappte der Sprechgesang in die Glückauf-Kampfbahn. Und von dort – es waren die letzten Jahre, in denen die Schalkefans am Sonntag noch Ausflüge nach Essen machten – auch an die Hafenstraße. Diese Ecke des Ruhrgebiets hatte seinerzeit einiges mit Liverpool gemein, der Industrie- und Musikstadt am Mersey River, und Hans von der Forsts Werk wurde im Nu zur Pott-Variante von „She loves you“, inbrünstig geschmettert von Zehntausenden.
„Das Lied ist nicht einfach so daher gesungen. Der Oppa ist hier eine Identifikationsfigur, die die Treue und Verbundenheit der Fans symbolisiert“, erklärt Georg Schrepper, Autor der „Geschichte von RW Essen“. Ein Satz, wie er auch in Gelsenkirchen fallen könnte, bloß entschieden die Essener sich nach 1971 im Zorn, den alten Mann umzutaufen – aus Pritschikowski wurde Luscheskowski, entlang der Klingelschilder, auf denen im Ruhrgebiet viele masurische Namen prangen, die auf ‑ski enden.
Und doch bleibt es die gleiche mythologische Figur, die Hardy Hausberg 2007 in seinem Film „100 Jahre RW Essen“ auf die Leinwand brachte. Zenop Tschakarjan spielte darin den Oppa Luscheskowski. 1954 studierte der gebürtige Bulgare in Wien Medizin. Als er und seine Kommilitonen sich das Endspiel der WM im Radio anhören wollten, gerieten sie an einen Gärtner, der als einziger einen Fernseher besaß. „Der hatte überhaupt keine Ahnung vom Fußball und tippte, dass die Deutschen gewinnen“, erinnert sich Tschakarjan. „Da haben wir nur gelacht, weil die Ungarn zwei Jahre ungeschlagen waren. Wir haben 3000 Schilling gegen ihn gewettet.“
„Egal, was kommt, die Leute gehen zum Fußball“
Wie wir wissen, gewann der Gärtner, weil in Bern der Essener Helmut Rahn aufdrehte. Seitdem bekam Tschakarjan Essen nicht mehr aus dem Kopf.
Ende der Sechziger zog er sogar dorthin, um eine Praxis zu eröffnen. Natürlich pilgerte er auch ins Stadion. Noch immer erzählt er mit leuchtenden Augen: „Hier gab es viele harte Zeiten. Doch egal, was kommt, die Leute gehen zum Fußball, es ist für sie eine Erleichterung. Genauso wie im alten Rom, dort hatten sie auch nicht viel, aber zu den Gladiatorenkämpfen sind sie gegangen.“ Ein Stück Rom liegt also im Revier, zwischen Gelsenkirchen und Essen. Und wie in der antiken Metropole die Alten wegen ihrer Weisheit geachtet wurden, verehren die Schalker und Essener ihren Oppa.
Tscharkajan wird auf den Straßen von Essen noch immer als Oppa erkannt. Sein Pendant aus Gelsenkirchen lebt nicht mehr. Für das Plattencover von „Immer auf Schalke“ hatten sich von der Forst, Beukenberg und Tadday 1969 einen Mann ausgeguckt, der zu dieser Zeit in der Glückauf-Kampfbahn Berühmtheit erlangt hatte: Paul Schwarz saß mit Bart und Mütze am Spielfeldrand, früher war er selbst unter Tage gefahren. Die drei Liedermacher besorgten sich aus einer nahegelegenen Kneipe eine Glocke, die Schalkefans in den dreißiger Jahren zu den Spielen mitgenommen hatten. So wurde Paul Schwarz zur Inkarnation des fiktiven Oppa Pritschikowski. 1983 starb er, die Legende aber behielt sein Gesicht.
Der dazugehörige Chant wurde zum Kulthit. Von der Forst, Beukenberg, Tadday und Journalist Szodruch sitzen in der ehemaligen Vereinskneipe nahe der Glückauf-Kampfbahn an dem Platz, wo Ernst Kuzorra bis zu seinem Tod 1990 seine Zigarren genoss.
Ein Karaoke-Abend mit dem Oppa
Jeder weiß eine Geschichte zu erzählen, wie das Lied ihn immer wieder eingeholt hat. Von der Forst wurde einmal berichtet, dass Bauarbeiter aus Bottrop es sangen, als sie in Neapel eine Brücke errichteten. Rudi Tadday alias Tex Rogers verschlug es in seiner Zeit in den USA einmal nach Hawaii, wo er bei einem Karaoke-Abend Oppa Pritschikowski intonierte. Er hielt inne, als er bemerkte, dass ein Amerikaner mitsang.
Der Streit zwischen Essenern und Schalkern mag weitergehen. Auch darum, wem die Hymne denn nun gehört. Doch das Lied vom Oppa, der seine Omma am goldenen Hochzeitstag versetzt, um zum Endspiel zu kommen, ist letztlich nur eines: eine Hommage an die Menschen im Ruhrgebiet. An die Essener. Und an die Schalker.