Im Sommer wechselt Christian Bölker nach Kaan-Marienborn, ein paar Wochen später wird er zum Stammkeeper des Regionalligisten. Dabei kann Bölker nicht hören.
Hinweis: Statt von außen auf das Jahr 2018 zurückzublicken, haben wir in unserer Titelgeschichte der Ausgabe #206 Spieler und Trainer selbst zu Wort kommen lassen. Ante Rebic, Simon Terodde, Kevin-Prince Boateng, Pierre-Michel Lasogga, Horst Hrubesch, Rurik Gislason und viele weiter erzählen von ihrem Fußballjahr 2018. „Mein verrücktes Fußballjahr 2018“ in 11FREUNDE#206: Ab morgen überall im Kiosk oder direkt bei uns im Shop. Außerdem im Heft: Hans-Joachim Watzke, Pascal Groß, Jupp Kapellmann, der FC Carl Zeiss Jena und alles zum Skandalfinale der Copa Libertadores.
Ich dachte nur: Geil, Regionalliga! Es war ein Mittwoch im September und gerade hatte mir mein Trainer Thorsten Nehrbauer mitgeteilt, dass er mich am Samstag erstmals in der Liga spielen lassen würde. In der Woche zuvor hatte er mir zwar schon eine Chance im Pokal gegeben, ich hatte einen Elfmeter gehalten und wir gingen als Sieger vom Platz, aber eigentlich hatte ich die Hoffnung längst aufgegeben. Denn hinter mir lagen harte Wochen.
Im Sommer war ich mit Olpe aus der Westfalenliga abgestiegen. Ich wollte nie weg aus Olpe und wäre auch geblieben, hätten wir die Klasse gehalten. Aber wir mussten nach einer sehr bitteren Saison runter – und dann kam das Angebot aus der Regionalliga. Damit hatte ich nicht gerechnet, diese riesige Möglichkeit musste ich nutzen. Hoch motiviert stieß ich im Sommer dazu – und fiel kurz hintereinander erst mit einer Magenverstimmung, dann mit einer fiebrigen Mandelentzündung und zu guter Letzt mit einem Pferdekuss aus. Ich verpasste das Trainingslager, danach war ich plötzlich dritter Torwart. Und jetzt erzählte mir der Trainer, dass ich gegen Dortmund II im Tor stehen würde. Gegen den BVB, meinen Lieblingsverein! Geil, dachte ich, Regionalliga.
Ich bin auf meine Instinkte angewiesen
Ich spiele Fußball, seit ich denken kann. Schon mit vier Jahren bin ich über den Platz bei mir im Dorf getobt, zunächst als Feldspieler, bis mich mein Vater, der selbst Keeper und später mein Trainer war, ins Tor stellte. Mit anderen Kindern oder Jugendlichen gab es wegen meiner Behinderung nie Probleme. Ich brachte ja auch stets meine Leistung. Außerdem weiß ich bis heute nicht, ob es als Torwart wirklich ein Nachteil ist, nichts zu hören. Ich kenne es ja nicht anders.
Fest steht: Wo hörenden Torhütern etwas zugerufen werden kann, muss ich die Situationen schon erfasst haben. Im Spiel bin ich auf meine Instinkte angewiesen. Auf der anderen Seite bekomme ich als Gehörloser von Kommentaren und Beleidigungen nichts mit. Deshalb kommt auch Hektik, die beispielsweise von Zuschauern ins Spiel gebracht wird, nicht an mich heran. Bei großen Kulissen merkt man die Lautstärke nur als eine Art von Strömung am Körper.
Im Alltag trage ich ein Cochlea-Implantat, mit diesem Gerät kann ich Gesprächen zum Teil folgen. Das klappt allerdings nur, wenn es wirklich ruhig ist. An Mannschaftsabenden, wenn alle durcheinander sprechen, hilft es also nicht. Auch im Spiel kann ich es nicht tragen. Dennoch waren die einzigen Situationen, die mich als Gehörloser wirklich gestresst haben – und das wünsche ich niemanden – , die permanenten Absagen auf meine Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz.
Deshalb bin ich meinem heutigen Arbeitgeber, wo ich als Zerspanungsmechaniker tätig bin, auch sehr dankbar. Dort wurde mir endlich die Möglichkeit gegeben, meine Fähigkeiten einzubringen. Auch als ich meinen Vertrag bei Kaan-Marienborn unterschrieben hatte, bin ich am Abend ganz normal zur Nachtschicht erschienen. Andere wären vielleicht feiern gegangen oder gleich nach Mallorca geflogen, ich bin dagegen nicht unbedingt als „Feierbiest“ bekannt.
Hinterher ist man immer schlauer
In den Tagen vor dem Dortmund-Spiel war ich natürlich nervös, es ging ja um meinen ersten Viertliga-Einsatz. Aber am Samstag war ich plötzlich ganz ruhig. Es ist ja auch nicht so, dass ich unerfahren bin. Ich habe bei Welt- und Europameisterschaften der Gehörlosen sowie den Deaflympics gespielt. Ich war sogar schon, wenn auch nur als zweiter Keeper, Weltmeister.
Andererseits kenne ich keinen anderen Gehörlosen, der es in die Regionalliga geschafft hat. Unter Jürgen Klopp spielte in Mainz zu Zweitligazeiten mal Stefan Markolf, der war allerdings „nur“ schwerhörig. Trotzdem konnte ich mit dem Druck gut umgehen. Auch wenn ich im Spiel gegen den BVB am Ende zwei Tore fressen musste. Wir verloren mit 0:2. Das erste Ding war unhaltbar, beim zweiten Tor hätte ich im Nachgang gerne anders reagiert, auch wenn ich keinen Fehler gemacht habe. Dortmunds Stürmer Joesph Boyamba tauchte komplett frei vor mir auf und lupfte den Ball über mich hinweg ins Netz. Naja, hinterher ist man immer schlauer.
Gegen einen anderen großen Klub konnte ich mich dafür besonders auszeichnen. Beim 1:1 gegen Wuppertal lenkte ich einen Elfer an den Pfosten, das hat uns im Spiel gehalten und am Ende den Punkt gerettet. Ein Punkt, der im Abstiegskampf noch wichtig sein könnte. Ich würde sagen: Meine beste Parade in diesem Jahr. Bis heute komme ich in dieser Saison auf zehn Einsätze für Kaan-Marienborn in der Regionalliga. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass 2018 mein bestes Jahr als Fußballer war. Denn der Abstieg mit Olpe im Sommer wurmt mich noch immer.
Anmerkung: Christian Bölker beantwortete unsere Fragen per E‑Mail, danach entstand aus seinen Antworten dieses Protokoll.