Griechenland gegen Portugal, EM-Finale 2004: Für die einen der größte Erfolg ihrer Fußballgeschichte, für die anderen das größte Trauma. Damals begleitete Rolf Töpperwien die Griechen durch das Turnier. Der Reporter war sich sicher, schnell wieder zu Hause zu sein. Dann aber überschlugen sich die Ereignisse. Vor der heutigen Neuauflage lassen wir ihn noch einmal zu Wort kommen.
Eines vorweg: Ich werde nicht nochmal mit Otto Rehhagel und den Griechen mitgehen. Katja Ebstein singt zwar „Wunder gibt es immer wieder“, doch so ein Fußballwunder wie dieses, das gibt es nur einmal. Eigentlich wollte ich gar nicht bei der Euro dabei sein, weil ich danach zu den Olympischen Spielen in Athen eingeteilt war. Dann kam mein Sportchef vom ZDF und meinte: „Töppi, du musst da mit, überleg dir was.“ „Pass auf“, habe ich gesagt, „ich mache die Griechen, weil ich mit Otto am besten kann.“ Darauf er: „Okay, dann machst du die eine Woche die Griechen.“
Die eine Woche … Das haben alle gedacht, ich inklusive. Ich gebe zu, ich habe ihnen keine Chance gegeben und einfach nur gehofft habe, dass sie sich achtbar aus der Affäre ziehen. Noch als sie das Auftaktspiel gegen Gastgeber Portugal gewonnen hatten, dachte ich: „Wow, da können sie erhobenen Hauptes nach Hause fahren.“ Doch es ging immer weiter. 1:1 gegen Spanien, gibt’s doch nicht, jetzt können sie tatsächlich weiterkommen. 0:2‑Zwischenstand gegen die Russen, das Ende ist nah, doch der Anschlusstreffer bringt sie in die nächste Runde. Danach Frankreich im Viertelfinale, das war’s ja wohl endgültig, aber wieder: von wegen! Und plötzlich waren sie alle abgereist, meine Freunde und Kollegen, die die Engländer und Spanier und Italiener und Franzosen begleiteten. Nur ich war immer noch da.
„Wie heißen Sie? Für wen schreiben Sie?“
Im Halbfinale ging es gegen die Tschechen, die sich im Verlaufe des Turniers zum Favoriten gemausert hatten. Wir Live-Interviewer wurden von der UEFA eine Viertelstunde vor Schluss der regulären Spielzeit in die Katakomben geführt und an einer bestimmten Stelle festgekabelt. Da stand ich nun, konnte nicht mehr weg und habe den Rest nur über den Monitor dort unten verfolgen können: das Ende der regulären Spielzeit, die Ecke kurz vor dem Seitenwechsel in der Verlängerung, das Silver Goal von Dellas. Neben mir befand sich der griechische Kollege, mit dem ich mich inzwischen angefreundet hatte. Normalerweise hätte Rehhagel erst zu ihm gehen müssen, doch die griechischen Medien haben sich kaum an ihn rangetraut. Das war wie ein Film aus einem anderen Jahrhundert, bei Pressekonferenzen ist Rehhagel oft einfach aufgestanden und weggegangen, oder er hat die Leute abgekanzelt: „Wie heißen Sie? Für wen schreiben Sie?“ Also haben die griechischen Kollegen lieber Dellas oder Karagounis genommen, und ich bekam Otto. Als Erster von allen.
Beim Endspiel war diese Absprache nicht mehr möglich, weil die UEFA die Interviewpartner direkt zu den lizenzierten Sendern gebracht hat. Also landete Otto auf einmal bei den Griechen und deutete mir mit einer hilflosen Geste an, dass er leider auch nichts machen könne. Ich habe die Situation beobachtet und gesehen, wie der Grieche mit Rehhagel überhaupt nichts anzufangen wusste. Also habe ich mich einfach abgekabelt, Rehhagel am Arm genommen und zum UEFA-Mann gesagt: „Der ist jetzt bei uns auf dem Sender!“ Otto live drauf, 26 Millionen Zuschauer, es war, als hätte Deutschland gespielt und wir wären der Haus-Broadcaster gewesen! Als ich Rehhagel gratulierte, hatte ich eine Gänsehaut. Die ganze Zeit zwischen dem Abpfiff und den Interviews ist mir eine Formulierung im Kopf herumgespukt: „Es gab das Wunder von Bern, jetzt gibt es das Wunder von Lissabon!“ Ich war nicht sicher, ob ich den Satz wirklich sagen sollte, weil ich dachte, den hauen mir die Kollegen um die Ohren, von wegen Töpperwien und Rehhagel wieder. Dann habe ich mich doch durchgerungen und später viel Bestätigung erfahren, dass ich damit genau richtig lag.
Das Verhältnis zwischen Otto Rehhagel und mir hat sich erst im Laufe der Jahre zu einem besonderen entwickelt. Das erste Mal bin ich ihm Ende der Siebziger begegnet, als er Trainer in Dortmund war. Ich habe kleine Filmchen für die „ZDF-Drehscheibe“ gedreht, 800 Mark für drei Minuten 30, das war damals viel Geld. Rehhagel war noch nicht so unzugänglich den Medien gegenüber, wir waren beide junge Wilde, und ich durfte mit meinem Kamerateam zu ihm in Essen aufs Sofa. Später habe ich für die Sendung „Sport am Freitag“ von Freitagsspielen aus Bremen berichtet, wo Rehhagel mich Jörg Wontorra von Radio Bremen, zu dem er ein problematisches Verhältnis hatte, oft vorzog. Aber es hat 15 Jahre gedauert, bis er mir in der Nacht des Europapokaltriumphes von Werder im Mai 1992 das Du angeboten hat.
„At first he’s my friend, then he’s my coach“
Viele fragen sich, was das Geheimnis von Otto Rehhagel ist. Nun, alles hängt davon ab, ob sein jeweiliger Vorgesetzter ihm vertraut und ihn machen lässt. Das war bei Dr. Franz Böhmert in Bremen so, bei Atze Friedrich in Kaiserslautern und auch beim griechischen Verbandspräsidenten Gagatsis. Rehhagel ist für seine Spieler eine Vaterfigur. Gestandene Leute von Bratseth über Burgsmüller bis Dellas haben Tränen in den Augen, wenn er sich von ihnen verabschiedet. Dellas hat nach dem Endspiel zu mir gesagt: „At first he’s my friend, then he’s my coach.“ Aber natürlich kann man mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl allein nicht die Fußballwelt aus den Angeln heben. Hinzu kommt eine Taktik, von der viele sagen, sie sei veraltet. Rehhagel lässt immer noch wie in Bremen spielen: über die Flügel hoch in die Mitte, und hinten zwei baumlange Kerls. Doch wie kann eine Taktik veraltet sein, mit der man die angeblich so zauberhaften Portugiesen zweimal in ihrem eigenen Land schlägt?
Eigentlich hätte Otto direkt nach dem EM-Triumph aufhören müssen, aber er ging lieber wieder den schweren Weg. Ich war mir sicher, dass Griechenland nicht noch einmal so furios aufspielen würde. Doch manchmal dachte ich, Otto Rehhagel könnte sich auch mit den Fidschi-Inseln für die Weltmeisterschaft qualifizieren.