Die Einschläge kommen näher. Jeder von uns spürt es, weil es im Bekanntenkreis oder bei der Arbeit nun vermehrt Coronafälle gibt. Die täglichen RKI-Statistiken untermauern den Eindruck: Das Virus ist unter uns, es hat sich lautlos in unseren Alltag geschlichen. Das Risiko, sich zu infizieren, lauert ständig und überall.
Dass auch der Profifußball von dieser Gefahr nicht ausgeschlossen bleibt, beweisen die trotz des ausgeklügelten Hygienekonzepts der DFL wiederkehrenden Ansteckungsfälle. Den VfL Wolfburg hat es in dieser Saison bislang besonders hart getroffen. Neun Profis wurden in der VW-Stadt zuletzt positiv auf Covid 19 getestet, allein fünf von ihnen rund um die Weihnachtstage. Geht man von einem erweiterten Kader von knapp 30 Personen aus, ließe sich der Trainingsplatz des VfL kurz vor Heiligabend also guten Gewissens als ein Mega-Hotspot bezeichnen mit einem Inzidenzwert von hochgerechnet roundabout 17 000.
Dennoch gaben die Testverfahren und sonstigen Coronaschutz-Maßnahmen bisher offenbar keinen Anlass, beim Ligaverband über eine Aussetzung des Spielbetriebs oder zumindest über einen zeitweiligen Ausschluss des VfL Wolfsburg nachzudenken. Es ist, wie es war: Der Planet „Fußball-Bundesliga“ zirkuliert weiterhin auf seiner ganz eigenen Umlaufbahn durch ein fernes Sonnensystem. Während in der Politik derzeit ernsthafte Überlegungen angestellt werden, angesichts der ausufernden Zahlen den Lockdown über den 31. Januar 2020 hinaus zu verlängern, rollt der Ball unverdrossen weiter – und keiner der hochbezahlten Akteure besitzt eine Handhabe, sich dem Risiko, dass bei jedem Zweikampf lautlos mitgrätscht, zu entziehen. Zum Vergleich: Vor der in dieser Woche beginnenden Handball-WM in Ägypten überließ es der DHB den Spielern, sich aus freien Stücken für eine Teilnahme zu entscheiden. Leistungsträger wie Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler oder Steffen Weinhold sagten dem Handballbund ab, weil ihnen das Risiko der Infektion und der gesundheitlichen Spätfolgen zu hoch erschien oder weil sie ihre Familien in der schwierigen Situation unterstützen wollen – und bekamen für ihren Mut sogar noch Zuspruch vom Vizepräsident Bob Hanning.
Im Profifußball läuft das anders, wie sich zuletzt auch beim Spiel des VfL Wolfsburg beim 1. FC Union zeigte. Da die gerade erst von Corona genesenen Wolfsburger Maxence Lacroix und Jérôme Roussillon auf ärztlichen Rat hin beim Training kürzer treten mussten, geriet VfL-Coach Oliver Glasner offenbar in Personalnot und bot für das Spiel in Berlin Marin Pongracic auf. Der Kroate war erst im Sommer am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt. Im November kehrte er von einem Lehrgang bei der Nationalelf mit einer Corona-Infektion zurück. Glasner wusste schon vor dem Match in der Alten Försterei, dass Pongracic keineswegs wieder sein volles Leistungsvermögen erreicht habe. Dennoch bot er ihn auf, weil: „Wir hatten Not am Mann.“
Doch bereits nach 15 Spielminuten ging dem 23-Jährigen die Luft aus. Glasner blieb nichts übrig, als den jungen Kroaten zur Halbzeit auszuwechseln. „Marin hatte schon während der ersten Halbzeit hin und wieder beide Arme auf den Knien“, so Glasner einsichtig, „wie man es normalerweise am Ende einer Verlängerung kennt.“ Nach dem Spiel drang wohl auch beim Wolfsburger Trainer die Erkenntnis durch, dass die aktuelle Virus-Lage die sportlich Verantwortlichen wie ihn in äußerst prekäre Lage versetzt.
„Keiner von uns weiß, wie sich die Infektion über Monate hinweg auswirkt,“ sagte Glasner, und machte damit aus seiner Ratlosigkeit, seinen Bedenken und seinem Skrupel keinen Hehl. Natürlich, die medizinischen Abteilungen der Erstligaklubs checken ihr Personal ständig, machen kardiologische Untersuchungen und prüfen die Blutwerte der Spieler. Doch auch aus Zeiten vor Corona ist bekannt, dass es durchaus üblich ist, bei Profiklubs unter Druck so manchen Leistungsträger schon deutlich vor Ausheilen einer Erkrankung wieder in den Wettkampf zu schicken. Bei einem Bänderriss oder einem Muskelfaserriss gibt es jedoch Erfahrungswerte zu den möglichen Spätschäden. Bei Corona nicht. Doch klar ist: Für die Wolfsburger geht es derzeit um das Erreichen des internationalen Geschäfts. Es geht um die Strahlkraft des Vereins, die sportliche Bilanz von Trainer Glasner und Manager Schmadtke, kurz: um das wirtschaftliche Gelingen des Profifußball-Projekts am dezentralen Fußballstandort Wolfsburg.
Doch in diesen Monaten – auch unter Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Sitution – kann es nicht um derlei profane Dinge gehen. Sondern jede Entscheidung muss von den Bossen zuallererst auch vor dem Hintergrund der Gesundheit und den daraus resultierenden Zukunftsperspektiven junger Berufskicker getroffen werden. Wenn nicht, ist es ein Spiel mit dem Feuer, mit dem früher oder später alle Bundesligavereine konfrontiert sein werden.
Denn niemand kann derzeit ermessen, welche Spätschäden bei Corona-Infizierten bleiben. Genauso wenig ist vorhersehbar, wie wichtig es ist, dass Geschädigte ihre Erkrankung adäquat auskurieren. Die DFL hat sich viele schlaue Gedanken darüber gemacht, wie der Spielbetrieb ohne Zuschauer und mit einem minimalen Ansteckungsrisiko aufrecht erhalten werden kann. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber zugestimmt, dass Profispiele in Deutschland ausgetragen und im Fernsehen übertragen werden können. Doch dem Virus ist egal, ob Tribünen leer bleiben, Profis sich in trauter Runde zum Daddeln treffen oder ein Medienvertreter mal aus Versehen seine Maske nicht über die Nase zieht – es sucht ständig nach neuen, unvorsichtigen Wirten. Dass die Infektionszahlen also auch im Bundesliga-Kosmos stetig zunehmen, ist kein Schwarzmalerei, sondern nichts als schnöde Arithmetik.
Deswegen ist es überfällig, dass die DFL sich nicht mehr nur mit der Covid-Prophylaxe beschäftigt, sondern dringend auch klare Regularien festlegt, wie die Nachsorge und die Kompensation für einen Corona-Erkrankten abzulaufen hat. Auch im Sinne des Wettbewerbs. Alles andere wäre unvervantwortlich. Denn niemandem gegenüber – auch keinem Top-Verdiener aus der Bundesliga – ist es zuzumuten, aufgrund der Zwänge des Profisports chronische Erkrankungen oder gar Schlimmeres zu ertragen.