Wie fühlt es sich an, im größten Finale zu stehen, das der Vereinsfußball zu bieten hat? Völler, Mendieta, Madjer: Europapokalhelden über den größten Moment ihrer Karriere.
Im neuen 11FREUNDE-SPEZIAL „Spiele unseres Lebens“ erzählen wir von vergessenen Krachern und epischen Schlachten. Zur Einstimmung erzählen hier Europapokal-Helden von ihren größten Momenten. Und von bitteren Enttäuschungen. Das Heft gibt es seit Donnerstag, dem 03.09., im Kiosk. Oder direkt bei uns im Shop.
„Zum Glück ging ich nicht in die Geschichte ein“
Das größte Lob für einen Schiedsrichter ist, wenn nach dem Schlusspfiff keiner über ihn spricht. Meine Leistung im Champions-League-Finale 1998 war also offenbar ganz in Ordnung.
Mit dem Abpfiff fiel mir ein Stein vom Herzen. Bei allen wichtigen Entscheidungen hatte ich richtig gelegen. Nur das war wichtig. Nun freute ich mich auf die Kabine und die Zeit der Entspannung. Am Tag vor dem Finale war ich 42 geworden, aber bis jetzt hatte es keine Gelegenheit zum Feiern gegeben. Nun, da meine Assistenten und ich das Finale manierlich über die Bühne gebracht hatten, hatten wir uns ein Glas Schampus redlich verdient.
Im Gegensatz zu Spielern und Trainern, für die ein Champions-League-Finale erst zum Erfolg wird, wenn sie den Platz als Sieger verlassen, hat der Unparteiische einen großen Erfolg bereits mit seiner Berufung für so eine Partie erzielt. Doch neben der Freude über die Nominierung ist man sich auch des Risikos bewusst, das so ein Spiel mit sich bringt. Denn die Welt schaut zu. Insofern mischte sich unter die Freude auch eine gute Portion Respekt. K.o.-Spiele sind für Schiedsrichter eine besondere Herausforderung, schließlich kann eine falsche gravierende Entscheidung einem Referee über Jahre oder gar Jahrzehnte nachhängen. Mir war klar, dass die öffentliche Wahrnehmung meiner Person wohl nie mehr größer sein würde als in diesem Endspiel. Und natürlich sollte das Urteil über meine Leistung nicht negativ ausfallen.
Durch den langen Vorlauf konnte ich mich umfassend vorbereiten. Denn inoffiziell erfuhr ich bereits kurz nach den Halbfinals einen Monat vor dem Endspiel, dass ich pfeifen würde. So konnte ich mit meinen Assistenten alle Eventualitäten und Strategien für die Spielführung thematisieren. Mit welchen Typen würden wir es zu tun bekommen? Filipo Inzaghi war bekannt dafür, dass er Probleme mit der Erdanziehung hatte. Von Edgar Davids wusste ich, dass er gern meckerte. Christian Karembeu war eher ein Typ, der gern ein Schwätzchen hielt.
Mit Zinedine Zidane kam ich an und für sich gut zurecht, allerdings wusste ich, dass ihm nach Provokationen in extremen Momenten auch mal die Sicherungen durchbrannten. Als wir am Montag vor dem Match nach Amsterdam kamen, war meine Berufung an die Öffentlichkeit gelangt. Deshalb vermied ich es fortan, in Zeitungen zu blättern oder das Fernsehen einzuschalten. Dennoch schnappte ich irgendwo auf, dass mehr als 500 Millionen Menschen das Spiel live im TV verfolgen würden. Hoppla, so genau hatte ich es gar nicht wissen wollen.
Wir machten uns vorab detailliert mit dem Stadion vertraut. Mir war immer wichtig, ein Gefühl für das Spielfeld zu entwickeln, für die Qualität des Rasens und die Dimensionen, damit ich mich im Spiel nicht fremd fühlte. Ein Schiedsrichter muss intuitiv ein Bewusstsein für Spielsituationen entwickeln, das funktioniert am besten, wenn er sich sicher auf dem Geläuf bewegt. Doch trotz akribischer Vorbereitung ist die Anspannung vor einem Champions-League-Finale schon enorm hoch. Auch beim Referee steigt der Druck eben proportional zur Bedeutung des Ereignisses.
Um die Anspannung in den Griff zu bekommen, machte ich mich so ausführlich warm wie selten zuvor in meiner Karriere. Über 40 Minuten lief ich das Rasenviereck ab, dehnte und lockerte mich. Das gab mir die notwendige Sicherheit. Psyche und Physis müssen während eines Spiels zwingend im Einklang stehen.
Das Finale lief dann sehr gut für uns. In der ersten Halbzeit gab ich zwar einen unberechtigten Freistoß, da war mir schon im Moment des Pfiffs klar, dass ich mich vertan hatte. Ansonsten aber gab es kaum Momente, in denen ich zweifelte. Als in der 67. Minute Predrag Mijatovic den Siegtreffer erzielte, zuckte ich kurz, weil ich von meiner Position nicht genau sehen konnte, ob der Torschütze im Abseits gestanden hatte. Doch mein Assistent Thorsten Bastian behielt die Fahne unten. Und als nachhaltige Reaktionen von den Rängen und der Bank ausblieben, war ich sicher, dass wir richtig gelegen hatten. Am Ende war ich froh, nach der regulären Spielzeit abpfeifen zu können, da die Partie zum Ende hin zunehmend hektischer wurde.
Mit meinen Assistenten und dem vierten Offiziellen feierte ich dann also meinen Geburtstag nach. Amsterdam ist für eine lange Nacht kein schlechtes Pflaster. Als alle Bars zugemacht hatten, nahmen wir ein letztes Pils im Hotel. Bevor mein Flieger ging, blieb mir im Morgengrauen nur noch eine halbe Stunde, um auf dem Zimmer zu dösen. Als ich auf dem Bett lag, stellte sich eine große Zufriedenheit ein: Ich wusste, ich hatte das bedeutendste Spiel des Klubfußballs gepfiffen – und es war mir gelungen, durch die richtigen Entscheidungen nicht in die Geschichte einzugehen.
„Männer, ihr müsst Europa unterhalten“
Es war ein langer Tunnel, und am Ende des Tunnels führten diese kleinen Treppenstufen hinauf zum Platz. Zum Platz von Lissabon, zum Endspiel um den Pokal der Landesmeister gegen das große Inter Mailand. Ich war abergläubisch und reihte mich wie immer als Vierter ein. Dann drehte ich mich um und sah meinen Mitspielern in die Augen. Sie waren nicht angespannt, sondern voller Vorfreude. Es war wie ein normales Spiel für uns. Ganz Europa schwärmte von Inter, doch wir hatten schon genug Titel in Schottland gewonnen. Wir waren vollgepumpt mit Selbstsicherheit. Jimmy Johnstone rief hinter mir: „Mensch, Bertie, die Jungs von Inter haben so sanfte Haut, sie sind so fein angezogen. Die sehen ja wie Filmstars aus.“ Ich antwortete: „Ja, aber Filmstars können nicht Fußball spielen.“ Es waren noch fünf Minuten, bevor es rausging, da fing ich an zu singen. Und zwar die Hymne von Celtic: Sure it’s a grand old team to play for! Alle anderen stimmten mit ein, unsere Stimmen hallten in den Katakomben nach. Und wir waren alle Schotten, also natürlich mit goldenen Stimmen gesegnet.
Zwar lagen wir bereits nach sieben Minuten zurück, doch wir drehten die Partie zum 2:1‑Sieg. Ich kann Ihnen sagen, warum wir triumphierten. Erstens: Am Tag vor dem Spiel haben wir wie die Wahnsinnigen trainiert. Jeder wollte in die erste Elf. Damals gab es noch keine Auswechslungen. Die Italiener sahen bei unserem Abschlusstraining zu, und ihnen standen die Münder offen. Psychologisch hatten wir das Finale schon da gewonnen.
Der Boss, also Mister Jock Stein, unser Trainer, wiederholte in der Teamsitzung sein Mantra: „Unterhalten, Männer. Ihr müsst nicht nur spielen, ihr müsst Europa unterhalten.“ Wir kamen alle aus der gleichen Gegend, nur Bobbie Lennox wohnte zwölf Meilen vom Stadion entfernt. Das war so weit weg, der Junge hätte eigentlich jedes Mal seinen Pass zum Training mitbringen müssen.
„Ich bin dankbar“
Gleich nach dem Abpfiff kam unser Trainer Paul Oßwald auf den Platz gerannt und verdonnerte uns, vor der Tribüne ein Spalier für die Madrilenen zu bilden. Wir mussten dem Gegner applaudieren, was wohl das Letzte ist, worauf man Lust hat, wenn man gerade eine 3:7‑Packung gekriegt hat.
Trotz des Ergebnisses aber muss man sagen: Wir haben ein gutes Finale gespielt. In den ersten 20 Minuten waren wir überlegen und hatten Chance um Chance, schließlich fiel das 1:0 durch Richard Kress. In diesem Moment gestattete ich mir, eine Sekunde daran zu glauben, dass wir gewinnen könnten. Aber eigentlich wusste ich, dass dem nicht so war. Ferenc Puskas, Alfredo Di Stefano – keine Mannschaft der Welt hätte zu dieser Zeit eine Chance gegen Real Madrid gehabt, und die beiden drehten das Spiel fast mühelos. Wir waren Amateure, die waren nicht nur Berufsspieler, sondern auch noch die besten der Welt. Wenn mir damals mein Gegenspieler José Santamaría gesagt hätte: „Im Bus liegt noch meine Tasche, geh mal raus und hol sie mir“, dann wäre ich rausgegangen und hätte sie ihm geholt. Wobei sich gerade zu Santamaría fast eine Art Freundschaft entwickelt hat. Nach dem Finale 1960 hat jeder Spieler der Eintracht von Real Madrid eine goldene Armbanduhr geschenkt bekommen. Meine wurde mir ein paar Jahre später aber geklaut. Als ich Santamaría bei einer Gala wiedersah, erzählte ich ihm davon. Das war ein Mittwochabend. Am Freitagmorgen kam ein Paket, darin war eine neue Uhr. Das muss man sich mal vorstellen.
Das Finale ist jetzt schon so lange her, 55 Jahre! Aber ungefähr einmal pro Woche werde ich immer noch darauf angesprochen. Eigentlich hat es nie aufgehört. Die Leute nennen es „Jahrhundertspiel“. Bei so einem Ereignis dabei gewesen zu sein, dafür bin ich sehr dankbar.