Ein Blick hinter die Kulissen: In der Saison 2008/2009 begleiteten wir den damaligen Zweitligisten Rot-Weiß Oberhausen auf Schritt und Tritt, erlebten Krisensitzungen, Vertragspoker und Kneipentouren mit den Spielern. Unser Saison-Tagebuch.
Kommt mit uns auf eine wilde Fahrt durch 20 Jahre Fußballkultur: Am 23. März erscheint „DAS GROSSE 11FREUNDE BUCH“ mit den besten Geschichten, den eindrucksvollsten Bildern und skurrilsten Anekdoten aus zwei Jahrzehnten 11FREUNDE. In unserem Jubiläumsband erwarten euch eine opulente Werkschau mit unzähligen unveröffentlichten Fotos, humorvollen Essays, Interviews und Backstages-Stories aus der Redaktion. Besonderes Leckerli für unsere Dauerkarteninhaber: Wenn ihr das Buch bei uns im 11FREUNDE SHOP bestellt, gibt’s ein 11FREUNDE Notizbuch obendrauf.
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Außerdem präsentieren wir euch an dieser Stelle in den kommenden Wochen weitere spektakuläre Reportagen, Interviews und Bilderserien. Den Anfang macht die Langzeitreportage über Rot-Weiß Oberhausen aus dem Jahr 2008/2009.
Nach der Maloche
17. Mai 2009: Die Mission ist erfüllt | RWO schafft den Klassenerhalt am 33. Spieltag
Die Schlagwörter für das letzte Heimspiel sind auf der Flipchart nachzulesen. In der Handschrift von Trainer Jürgen Luginger steht dort: Leidenschaft! Siegeswille! Nach dem Schlusspfiff – Rot-Weiß Oberhausen schlägt den SC Freiburg mit 1:0 – dauert es nur ein paar Sekunden, bis die Fans das Spielfeld stürmen. Der Stadionsprecher ruft noch schnell: „Passt mir auf den Benny auf, der ist an Krücken!“
Soviel Zeit muss sein im Schatten des Gasometers: Benjamin Reichert ist der Kapitän der Kleeblätter – und wieder mal verletzt. Dann kann endlich gefeiert werden: Der Erste in der Spielerkabine ist Stammtorwart Christoph Semmler, der heute als zweiter Mann auf der Bank gesessen hat. Sein Jubel ist verhalten. Er hätte gerne selbst im Tor gestanden, mehr als ein halbes Jahr nach seinem Kreuzbandriss. Die anderen Spieler eilen hoch in den leeren VIP-Raum. Verteidiger Daniel Embers, nackter Oberkörper und Badelatschen, klettert wagemutig aus einem Fenster und steigt auf das Stadionvordach. Dort erwischt ihn eine Bierdusche nach der anderen, wie den Frontmann bei einem Punk-Konzert.
Die Fans unten haben vom Klub 3000 Liter Freibier spendiert bekommen. Während Embers klatschnass wieder reinklettert, schaut Ersatzstürmer Julian Lüttmann auf der anderen Seite aus dem Fenster: ins mittlerweile leere Stadion. Ein letzter Blick zurück, er wird den Klub verlassen. Es gibt jetzt eigentlich nur noch eine Frage zu klären: Wo steckt Verteidiger Dimitrios Pappas?
Ausweitung der Kampfzone
Sommer 2008: Absteiger Nummer eins | Saisonmotto : „Malocherschicht, die II.“
Rot-Weiß Oberhausen ist in den letzten beiden Jahren zweimal aufgestiegen – im Eiltempo ging es von der vierten in die zweite Liga. Im Sommer 2008 startet RWO als ärmster Zweitligist in die neue Spielzeit, weist mit 3,267 Millionen Euro den geringsten Etat aus. Der Schnitt in der Liga liegt bei acht Millionen. Geld schießt Tore, sagt man – wenn das stimmt, haben sie keine Chance.
Doch genau die wollen sie nutzen, das Unmögliche schaffen: den Klassenerhalt. Bei genauer Betrachtung wäre es zumindest keine Überraschung, wenn sie als ein neues Tasmania Berlin mit einem Negativrekord in die Bundesliga-Geschichte eingingen. Heribert Bruchhagen von Eintracht Frankfurt, der jedes Jahr auf die Schlusstabelle wettet und die Platzierungen für zementiert hält, sagt: „Nur fürs Protokoll: RWO hat keine Chance, keine.“ Der Klub baut sich aus dem Wettbewerbsnachteil ein Image, preist die Kumpelwerte vergangener Tage. In der Oberliga lautete das Motto „Sonderschicht“, im Fan-Shop gibt es neuerdings „Mini-Malocher“-Shirts in XXS und auf dem Mannschaftsbus steht „Malocherschicht, die II.“. Die zwei gekreuzten Hämmer, das Symbol der Bergmänner, gehören längst ebenso zur Corporate Identity wie das originäre Kleeblatt.
Der Bus ist übrigens das ausrangierte Gefährt des 1. FC Köln. Die Oberhausener haben ihn günstig aufgekauft und neu lackiert. Kurz vor dem ersten Meisterschaftsspiel treffen wir uns mit Präsident Hajo Sommers und Manager Hans-Günter Bruns. Unsere Frage lautet: Dürfen wir den Zweitligaklub eine Saison lang begleiten? Mit dem Team eintauchen in die Spielerkabine, ins Trainingslager, in den Mannschaftsbus – in guten und in schlechten Zeiten? Zwei Tage später, zurück in Berlin, die Zusage. Die Oberhausener sind zwar skeptisch, Trainer Luginger regelrecht reserviert. Womöglich fürchtet er, dass sein Scheitern nachher auch für jeden Außenstehenden sichtbar sein wird. Warum die RWO-Granden trotzdem mitmachen? Sie wollen wissen, ob sie sich und ihrer Philosophie auch im Profialltag treu bleiben.
Zur Saison 2008/09 kehrte Rot-Weiß Oberhausen nach Jahren im Amateurbereich in die zweite Liga zurück. Oberhausen, das klang für uns in der Redaktion nach erdiger Ruhrpott-Romantik, nach Fußballern, wie sie gar nicht mehr gebaut werden. Wie fragten uns, wie es wäre, so einen Klub nach der Rückkehr ins Profigeschäft ein Jahr zu begleiten? Wie würden die handelnden Personen mit dem erhöhten Druck zurecht kommen? Zumal ein paar illustre Gestalten in bei RWO in der Verantwortung standen: Präsident Hajo Sommers, der in der Stadt ein Theater führte, Manager HG Bruns, ein früherer Nationalspieler, und Coach Jürgen Luginger, Ex-Schalke-Profi.
Redakteur Thorsten Schaar und Fotograf Dominik Asbach hefteten sich für uns an die Fersen der grauen Zweitliga-Maus. Sie lümmelten bei Goalgetter Mike Terranova in der Wohnstube auf dem Sofa des frischbezogenen Einfamilienhauses. Bangten mit Spielmacher Benny Reichert, der immer wieder von Verletzungssorgen geplagt wurde. Saßen mit im Teambus auf dem Weg zu Auswärtsspielen und ließen in der Kabine die Korken knallen, als RWO am 33. Spieltag den Klassenerhalt feierte. Als der Klub am Betzenberg auflief, wollte ein Ordner die 11FREUNDE-Leute erst nicht durchlassen und fragte Oberhausens Co-Trainer Oliver Adler, ob er Schaar und Ansbach kenne. Adler geistesgegenwärtig: „Unser Torwart und der Linksaußen!” Unser Blick ins Innenleben einer Profimannschaft am Ende der Nuller Jahre erschien in 11FREUNDE#92 im Juli 2009. Heute spielt RWO längst wieder in der Regionalliga, Coach ist der damalige Torjäger Mike Terranova.
„Wir müssen aufpassen, dass wir heute nicht sechs, sieben Stück kriegen“
Sturmfrei bei Terranovas
Pokalniederlage gegen Leverkusen | Liga-Fehlstart: 0:3 in Koblenz, 1:4 auf St. Pauli
Der RWO-Torjäger hat sturmfreie Bude, seine Frau ist ausgeflogen – prompt gondelt die halbe Mannschaft abends nach Gelsenkirchen-Süd. Mike Terranova hatte sie wochenlang mit Handy-Fotos seines kürzlich erworbenen Einfamilienhauses genervt. „Wann lädst du uns endlich ein?“, hieß es immer wieder in der Kabine. Jetzt ist es soweit: Einen Tag nach dem Heimsieg gegen Ingolstadt verabreden sich die Spieler zum geselligen Pokerabend bei ihm. Die Wegbeschreibung des stolzen Grundbesitzers ist schlicht: „Das schönste Haus in der Straße“.
Es entpuppt sich als ein typischer Nachkriegsbau, solide renoviert. Die Inneneinrichtung hat der 31-Jährige neu angeschafft: die weiße Ledergarnitur, Glasvitrinen und den obligatorischen Flachbildfernseher. Geht ein Fußballprofi zu Ikea und sagt: „Einmal alles!“ Zur Begrüßung wählen die Gäste ein leichtes Opfer für ihre notorischen Scherze: Terranovas Torjäger-Trophäe von der Wuppertaler Hallenmeisterschaft, die stolz sichtbar im Wohnzimmer steht.
Der Stürmer ist ein vorbildlicher Gastgeber, wenn auch kein erfahrener: Er hat so viel Salzgebäck eingekauft, dass er die ganze Straße versorgen könnte – eine Woche lang. Bevor die Jetons – in einem Metallköfferchen mitgebracht – ausgeteilt werden, läuft die „Premiere“-Zusammenfassung vom Wochenende im Heimkino. Plötzlich sitzen da sieben RWO-Profis, die zweite Liga schauen, als wäre es nicht ihre eigene. Es ist ein bisschen wie: Wir gucken uns mal die Großen an. Die Spieler müssen sich noch an die neue Welt gewöhnen, noch sind sie nicht angekommen.
Gardinenpredigt nach AC/DC
Das Millerntor auf St. Pauli ist ausverkauft, die Gegengerade bebt schon vor dem Spiel. Ein ohrenbetäubender Lärm! Keeper Semmler will seinen Mitspielern etwas zurufen, doch sie verstehen ihn einfach nicht. Vor zwei Jahren spielten sie zusammen in Speldorf und Straelen: vor ein paar hundert Zuschauern. Kein Wunder, dass die Blicke einiger angsterfüllt sind. Dazu dröhnt AC/DC aus den Boxen.
Die Entscheidungsträger realisieren den Klassenunterschied auf der Tribüne. Manager Bruns sagt nach zehn Minuten zum Präsidenten: „Wir müssen aufpassen, dass wir heute nicht sechs, sieben Stück kriegen.“ Nach dem Schlusspfiff sieht Vorstand Thomas Dietz acht Profis, die ihr Trikot ehrfurchtsvoll mit dem Gegner tauschen. Er bestellt den Mannschaftsrat ein. Ein paar Tage später sitzen fünf Spieler im Konferenzraum der Immobilienfirma Dietz. Auf dem Tisch steht ein Wimpel mit dem Wappen des „Ring Deutscher Makler“.
Die Zusammenkunft gerät zu einer Mischung aus Gardinenpredigt und Motivationsseminar. Der Hausherr, eine Mischung aus Frank-Walter Steinmeier (optisch) und Werner Hansch (verbal), gibt den bad cop und good cop in Personalunion. Zwei Stunden lang beschwört er die Tugenden der letzten beiden Jahre, die Kampfstärke. Zu verlieren habe man in der zweiten Liga nichts, aber auch nichts zu verschenken. Und es sollten doch bitteschön alle Spieler – wie vertraglich vereinbart – ab sofort Uhlsport-Schuhe anziehen oder wenigstens andere Logos abkleben. Die Botschaft seines Monologs: Wer Zweitligaprofi sein will, muss sich auch so verhalten.
Fluppen in der Meckerecke
Hajo Sommers steht auf dem Stadionvorplatz, trägt Jeans und Turnschuhe, wie immer. Bevor sich der RWO-Präsident in einen Anzug zwängen würde, müsste ihm schon der Himmel auf den Kopf fallen. Seit er aus dem Oberhausener Untergrund aufgetaucht ist, wird der ehemals konturlose Klub von den Medien zum „St. Pauli des Ruhrgebiets“ verklärt. „Ich hasse den Vergleich“, sagt Sommers, der in der Anti-AKW-Bewegung aktiv war und das linke Jugendzentrum „Druckluft“ mitgegründet hat.
Er setzt sich bis heute während des Spiels nicht auf die VIP-Tribüne, sondern hockt weiter auf seinem alten Platz, mit Kappe und Schal. Der Präsident geht dahin, wo es weh tut. In der Halbzeit steht er auf der „Konvent“-Tribüne mitten in der Meckerecke. Im Pott werden solche Diskussionen zwischen Präsident und Publikum unprätentiös mit einem „Hömma“ eingeleitet. Während der 90 Minuten hat Sommers immer die Hand am Tabak, raucht gerne mal 20 Selbstgedrehte. Wenn die Gästefans ein Feuerwerk abfackeln, denkt er an die klamme Klubkasse und mögliche Sanktionen. Der Schauspieler auf dem zweiten Bildungsweg gefällt sich aber durchaus in der Rolle des Schmuddelkindes.
Genau zwei Tage nach der Einreichung der Lizenzunterlagen, so erzählt er, habe sich ein Mitarbeiter aus der zuständigen Abteilung bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) bei ihm gemeldet und gefragt, ob man die Zahlen wirklich ernst meine. Den offiziellen Treffen der DFL bleibt Sommers grundsätzlich fern. Wann sollte er die Fahrt nach Frankfurt auch einschieben bei seinem doppelten Spielplan? Die Tätigkeit bei RWO erledigt der Theatermann als Nebenjob, unbezahlt, wie die anderen Kollegen im Vorstand. Die Konstellation beugt gewissen Überreaktionen vor und verhindert übertriebenen Transfereifer. Die Kollegen akzeptieren auch, dass Sommers im Herbst nur von acht bis zehn Uhr zu erreichen ist, vor der Theaterprobe.