Ein Blick hinter die Kulissen: In der Saison 2008/2009 begleiteten wir den damaligen Zweitligisten Rot-Weiß Oberhausen auf Schritt und Tritt, erlebten Krisensitzungen, Vertragspoker und Kneipentouren mit den Spielern. Unser Saison-Tagebuch.
Die neue Alte Taktik
Zwischenbilanz: 6 Spiele, 5 Niederlagen | Brandrede und Spielersitzung
Es gibt Momente in einer Saison, da kann alles kippen. Nach dem fünften Spieltag ist es an der Landwehr soweit. In Luginger brodelt es, die Einzelgespräche haben nichts gebracht. Trainer und Manager knöpfen sich nacheinander die Mannschaft vor, erklären mit deutlich erhöhtem Lautstärkepegel, jetzt müsse wieder malocht werden. In München spräche man von einer Brandrede. In Oberhausen geht es jedoch nicht um Schlagzeilen – allein schon mangels Boulevard – sondern um die mentale Neuformierung der Mannschaft.
Manager Hans-Günter Bruns entscheidet in dieser Phase, mehr Einfluss auf den Trainer zu nehmen. Bisher hat er davon abgesehen, weil es ihn in seiner Zeit als Coach selbst gestört hätte. Doch warum, sagt sich Bruns, sollte man einen Neuling in dem Job nicht ein wenig unterstützen? „Mentoring“ nennt man das in großen Unternehmen, anderswo „Lernen von den Alten“. Der Manager coacht also jetzt den Trainer, der Trainer die erfolglose Mannschaft. Die Spieler müssen sich noch einmal haarklein die 90 Minuten der letzten Niederlage beim FSV Frankfurt anschauen.
Mit Erfolg: Einigen Spielern geht erst da auf, wie weit sie von den Gegenspielern entfernt standen. Es ist die Phase, in der man auch zum ersten Mal einen Spieler „Trainer“ sagen hört – und nicht mehr Vorgänger Bruns, sondern Luginger ist gemeint. Im Training ändert er die Marschroute. Er rückt ab vom selbst eingeführten 4 – 4‑2-System. Externe Kritiker könnten ihm unterstellen, Bruns habe jetzt doch wieder das Sagen. Das reaktivierte 3−5−2 war dessen Standardsystem. Letztendlich macht der „Chef der Maloche“, wie Luginger im Marketingdeutsch der Klubkreativen heißt, aber alles richtig. Selbst in der zweithöchsten deutschen Spielklasse gibt es nur wenige Mannschaften, die hinten mit einer Dreierkette spielen. Wenn aber jemand mit dieser Formation aufläuft, fehlen den meisten Teams die spielerischen Mittel, um erfolgreich zu reagieren.
Zur gleichen Zeit beweisen die Säulen der Mannschaft, dass sie ebenfalls verantwortlich handeln können, zumindest außerhalb des Platzes. Benny Reichert, Terranova und Markus Kaya trommeln die Mannschaft in der Kabine zusammen. Die Spieler sagen sich die Meinung offen ins Gesicht, es fallen ehrliche, bisweilen harte Worte. Die jüngeren Kollegen haben Kaya schnell als obersten Motzki ausgemacht. Was nun passiert, ist bemerkenswert: Der Führungsspieler akzeptiert die interne Kritik und gelobt vor der Vollversammlung Besserung. Was Bruns anstrebte, als er in seiner Trainerzeit die Spieler an der langen Leine hielt, scheint zu funktionieren. Selbstregulierung durch selbst initiierte Manöverkritik – ein übertragbares Exempel? In Oberhausen funktioniert es auch, weil die meisten Spieler aus NRW stammen oder der deutschen Sprache mächtig sind. So hat es Bruns vorgegeben, als er den Klub 2006 seiner Erziehung unterwarf.
Spieler und Frauen im Theater: Der Präsident steht als „chinesische Schlampe“ auf der Bühne.
„Ich kenne 20 bessere Maßnahmen, als den Trainer zu entlassen“
Heimspiel mit Hackfleisch
Die Wende: 2:1 gegen den Spitzenreiter aus Kaiserslautern | Der Kapitän kehrt zurück
Wie eng die Bande untereinander sind, zeigt sich auch daran, dass die Mannschaft zusammen ins Theater geht: in „Kalte Colts und heiße Herzen“, das neue Theaterstück des Präsidenten. Fünf Spieler treffen sich zudem regelmäßig, um gemeinsam zu kochen. Freitagabend sitzen Dimi Pappas, Musa Celik und Benjamin Schüßler bei den Reichert-Brüdern am Küchentisch und kneten Hackfleisch, auch vor dem Spiel gegen Kaiserslautern. Ein Glücksritual aus der letzten Saison. Damals wurde nach gemeinsamer Hamburger-Zubereitung fast immer gewonnen. Pappas ist besonders abergläubisch: Er trägt schon mal Unterhosen, die er auch beim letzten Sieg anhatte.
Manager Bruns lässt sich von ersten internen Misstönen nicht irritieren. Er hat solche Situationen im Fußball schon zigmal erlebt. Ihn regen die Fans maßlos auf, die im Internetforum des Klubs bereits nach wenigen Wochen gegen den Trainer und das Gesamtkonzept schießen. Er sagt: „Jemanden, der ›Trainer raus!‹ ruft, würde ich aus dem Stadion schmeißen!“ Am Sonntag vor dem Spiel gegen Kaiserslautern läuft alles wie immer: Erst um 12:45 Uhr treffen sich die Spieler im Stadion, 75 Minuten vor Anpfiff. Kein Gedanke daran, vor einem Heimspiel in ein Hotel abzutauchen oder zusammen Mittag zu essen. 40 Minuten vor dem Spiel beginnt das Warmlaufen, zehn Minuten vorher spricht der Trainer.
Manchmal muss ein Kollege Pappas auch noch sagen, wie sein heutiger Gegenspieler heißt. In der Kabine wird gerne geflachst, dass der Deutsch-Grieche kaum einen Spieler in der zweiten Liga kenne. So kommt er gar nicht erst auf die Idee, zu respektvoll bei der Grätsche vorzugehen. Kaiserslautern macht es ihnen an diesem Nachmittag leicht. Semmler ist überrascht: Der Spitzenreiter lässt die Heimmannschaft gewähren, spielt selbst nur lange Bälle. Mit der Grandezza des jungen Beckenbauers treibt Benny Reichert den Ball vor sich her, sorgt bei seinem Comeback dafür, dass endlich wieder ein Spielaufbau stattfindet. Zuvor war die Lederkugel hinten bevorzugt rausgedroschen worden. Dass der Kapitän die Deckung stabilisiert, macht allen Mut. Es ist noch immer nicht so, dass man angekommen wäre im Profifußball, aber es fühlt sich irgendwie besser an. „Die Möglichkeit, die wir jetzt haben“, sagt Markus Kaya, „hat uns der liebe Gott geschenkt.Die dürfen wir nicht einfach so hergeben.“
Sportvorstand Thomas Dietz und Manager H.G. Bruns als stille Beobachter.
Schluss mit „lieber Herr Lugi“
Auswärtssieg bei 1860 | Die Emanzipation von Bruns vollzieht sich
Der Trainer ist wieder lockerer drauf. Es war zwar Konsens, den Coach auch nach fünf weiteren Niederlagen nicht infrage zu stellen – doch Luginger hat dem Braten nicht getraut. Im rechten Moment kann er sich auf die Mitwirkenden verlassen. Der Präsident bleibt bei der vereinbarten Linie, verbreitet offensiv die Botschaft: „Ich kenne immer 20 bessere Maßnahmen, als den Trainer zu entlassen.“
Die Geduld zahlt sich aus: Das Training ist intensiver als zu Bruns’ Zeiten. Noch unterschiedlicher ist, wie sich die beiden am Spielfeldrand verhalten. Während Bruns bereits auf dem Trainerstuhl für die Buddha-Nachfolge trainierte, verändert sich das Coaching von Luginger: In den ersten Spielen lässt er die Nackenschläge fast regungslos über sich ergehen. „Möglicherweise hat er sich in dieser Phase zu sehr an mir orientiert“, sagt Bruns später. Die Trainerwerdung ist im Spiel gegen den FC Augsburg zu beobachten. Luginger entscheidet an diesem Abend, dass er von außen mehr eingreifen muss, weil seine unerfahrene Mannschaft mehr Hilfestellung braucht. Er will das nach außen sichtbar machen. Mitten in der zweiten Halbzeit tritt er einen „Taxofit“-Koffer um, der vom Masseur lachend wieder aufgehoben wird.
Trainingslagerrituale: die Pooltaufe der Neuen
Monotonie & Trainingsalltag
Winterpause: Trainingslager im Hotel „Alfamar“ in Albufeira / Portugal
Sonst sorgt Thomas Dietz stets mit harter Hand dafür, dass niemand, der dort nichts zu suchen hat, mit im Mannschaftshotel nächtigt. „Wir sind ja keine Schaustellertruppe“, sagt der Sportvorstand, „nachher haben wir den halben Aufsichtsrat und die Sponsoren mit an Bord.“ Während in der Punkteserie abgeschottet wird, demonstriert der Klub im Trainingslager aber ungewöhnliche Basisnähe. Nicht nur der Pressesprecher ist mit dabei, auch die Fans wohnen im selben Hotel wie die Spieler: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es das bei anderen Profimannschaften gibt“, sagt Kaya.
In den acht Tagen des Trainingslagers in Portugal hat die gute, alte Liegestütze Hochkonjunktur, auch 29 Springseile werden großzügig eingesetzt. Morgens beginnt alles mit einem Strandlauf, an Vor- und Nachmittag folgt jeweils eine längere Trainingseinheit, abends stehen Massage und Pflege auf dem Programm, wahlweise an der Bar oder an der Playstation. Und so geht es jeden Tag. Die Spieler laufen ungeniert mit Stollenschuhen – oder auch mal nackt – durch die sterilen Hotelflure. Während Novize Moritz Stoppelkamp rituell in den Hotelpool gestoßen wird, liegt Benny Reichert auf der Massageliege mit Meerblick und träumt bereits vom idealen Saisonabschluss.
Er sagt: „Dann geht’s nach Malle, schön am Strand rumliegen und Schampus trinken!“ Die ersten Buchungen werden schon in diesen Tagen getätigt. Pappas ist Kassenwart, Kaya bucht die Flüge, Tim Reichert blockt die Zimmer. Doch letztendlich ist es wie überall: Längst nicht alle wissen, gegen wen das erste Testspiel steigt, dabei hätte ein Blick auf die RWO-Homepage genügt. Lüttmann bedient sich abends zuvor am Büffet und fragt überrascht: „Was, wir haben morgen ein Spiel, gegen wen denn?“ Je länger das Trainingslager dauert, desto größer werden die Beschwerden über das Essen. Zeugwart Gert Landers spricht längst von der „Kaserne Alfamar“.
Terranova telefoniert nur einmal am Tag mit seiner Frau. „Man hat sich ja eh nichts zu sagen, ist hier halt doch nur auf dem Trainingsplatz.“ Sören Pirson, die neue Nummer eins, muss seine Freundin am Telefon sogar fragen, was für ein Wochentag eigentlich gerade sei. Einer der jüngeren Spieler sitzt abends in seinem Hotelzimmer, chattet über ein Flirt-Portal mit einer unbekannten Schönheit und verabredet sich mit ihr für nach dem Trainingslager – nicht allein zum Händchenhalten. Nach acht Tagen voller Training und Tristesse gibt es keinen, der sich nicht auf die Heimkehr freut. Fußballprofi mag ein Traumberuf sein, im Trainingslager ist er es nicht.